Ein Studientag zur Musik Afghanistans

Der Studientag brachte am 2. Juni ein dringendes Thema an die mdw. Afghan Music in Exile. Views on the Current Situation, so der Titel der eintägigen Veranstaltung, wurde von Marko Kölbl (Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie) und Peter Lell (Strukturiertes Doktoratsprogramm Music Matters) initiiert und stand ganz im Zeichen der Musik Afghanistans. Insbesondere die aktuelle Situation für Musiker_innen und die Musikszene war im Fokus und wurde dezidiert aus der Perspektive von afghanischen Expert_innen beleuchtet.

© Peter Lell
© Peter Lell

Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die radikal-islamistischen Taliban im August 2021 die Macht im Land übernommen und jegliche Musikausübung verboten haben. Seitdem werden Musiker_innen diskriminiert, verfolgt und in einigen Fällen sogar ermordet. Die Taliban hatten das Land bereits von 1996 bis 2001 regiert und damals ebenfalls jegliche Musikausübung mit Ausnahme ihrer eigenen Lobgesänge („Taranas“) vollständig verboten. Viele Musiker_innen mussten damals in großen Scharen ins Exil nach Pakistan, in den Iran oder in den Westen fliehen. Mit der vorläufigen Niederlage der Taliban begann 2002 eine verhältnismäßig friedliche und florierende Zeit für die afghanische Gesellschaft sowie die afghanische Musik. Viele Musikinstitutionen wurden gegründet oder wieder aufgebaut, darunter das Afghanistan National Institute of Music (ANIM), das Musikdepartment der Kabul University und die Aga Khan Music Initiative (AKMI). Mit der erneuten Machtübernahme im August 2021 sind all diese Institutionen abermals geschlossen und ihre Mitglieder im Untergrund oder im Exil.

© Lauge Dideriksen
© Lauge Dideriksen

Einige der Vertreter_innen dieser wichtigen Institutionen konnten für den Studientag an der mdw eingeladen werden und haben über die Musikinstitute, ihre aktuelle Lage und die Musikszene insgesamt referiert und diskutiert. Bilal Asify gab Einblick in die Situation der wichtigsten Musikschule Afghanistans (ANIM), die sich mittlerweile in Portugal im Exil befindet und dort, wenn auch mit einigen Hindernissen, einer neuen Zukunft entgegensieht. Wahedullah Saghar, ehemals Leiter des Musikdepartments der Kabul University, referierte über die einzige akademische Musikeinrichtung des Landes, ihre Rolle in der afghanischen Gesellschaft und die derzeitige Situation – im August 2021 musste er das Land verlassen und das Musikdepartment wurde seitdem vollständig geschlossen. Der Musikwissenschaftler Mirwaiss Sidiqi lieferte einen Überblick über Afghanistans Musik, die „goldenen Zeiten“ in den 1960er-Jahren und seine Mitwirkung am Aufbau einer Musikausbildung im Rahmen von AKMI. Die erste in diesem Programm ausgebildete Rubab-Spielerin des Landes, Fazila Zamir, sprach über die Rolle von Frauen in der Musikgeschichte Afghanistans, die gesellschaftlichen Hürden, mit denen sie sich konfrontiert sahen und wie sie ihren eigenen musikalischen Weg gefunden hat. Die Bedeutung des staatlichen Rundfunksenders Radio Television Afghanistan (RTA) und dessen historisch einzigartigem Musikarchiv wurden im Gespräch mit Abdul Wahab Sarwary und Mohammad Sediq Zarifyar deutlich. Das RTA-Musikarchiv befindet sich noch immer in der Hauptstadt Kabul und ist damit in akuter Gefahr vor willkürlicher Zerstörung durch die neuen Machthaber.

© Peter Lell
© Peter Lell

Die vielfältigen Themen des Studientages wurden stets aus der aktuellen politischen Situation beleuchtet und themenübergreifend diskutiert. Der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz nahm sich der vermittelnden Rolle an und leitete den Studientag mit einer sehr persönlichen Einführung ein und beendete ihn mit der Moderation der abschließenden Paneldiskussion. Diese eröffnete als Höhepunkt des Studientages einen Austausch zwischen allen eingeladenen Expert_innen über die aktuelle Lage und Möglichkeiten zur Unterstützung der Musiker_innen und der Musikszene des Landes. Insbesondere die Folgen der erzwungenen Vertreibung vieler Akteur_innen in weit verstreute Länder wurden als großes Hindernis für den Aufbau einer aktiven Musikszene diagnostiziert und das dringende Bedürfnis nach einer Vernetzung und Kooperation über Ländergrenzen hinweg diskutiert.

Nach einem gemeinsamen Abendessen mit afghanischen Spezialitäten fand der Studientag mit dem Konzert zweier Meistermusiker Afghanistans, Ustad Ghulam Hussein auf der Rubab und Ustad Latif Sharifi auf der Dhol, seinen künstlerischen Höhepunkt. Die musikalische Darbietung der beiden Meister wurde vom Publikum im prall gefüllten Bankettsaal mit tosendem Applaus und stehendem Beifall zelebriert.

Weitere Informationen:
Ausgewählte Beiträge und das abschließende Konzert „Traditional Music of Afghanistan“ zum Nachhören auf Radio FRO.

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