Über den vielfach ausgezeichneten Film Die unsichtbare Grenze
Wien, mitten in der Nacht. Die Polizei holt eine kosovarische Familie für die Abschiebung ab. Die Polizistin Nancy ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe und dem Mitgefühl für die Familie, die seit Langem in Österreich lebt und vom Polizeieinsatz überrumpelt ist. Für den aufwühlenden Kurzfilm haben Filmakademie-Absolvent Mark Gerstorfer und sein Team der Filmakademie den Student Academy Award in Gold in der Kategorie „Narrative“ gewonnen. Die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences, die jährlich die Oscars vergibt, würdigt mit dem Preis die Arbeit junger Filmschaffender.
„Ich wollte einen Film machen, in dem es um Heimat geht“, sagt Gerstofer, der das Drehbuch bereits 2016 schrieb. Er recherchierte Statistiken zu Abschiebungen und ihm fielen, auch durch Medienberichte, die zahlreichen Abschiebungen in den Kosovo auf. Für den Film absolvierte er ein Praktikum bei der Polizei, fuhr auf Streife und bei Einsätzen mit und befragte Polizist_innen zu ihrer Arbeit. Diese Beobachtungen, auch über die inneren Konflikte eines Polizisten, lieferten die Grundideen für den Film. „Einerseits werden Familien abgeschoben, andererseits sind da Polizist_innen, die das nicht aushalten“, so Gerstorfer. Der Titel Die unsichtbare Grenze spielt auf die Fragen zu Nationalität und Heimat an. „Man kann wo daheim sein, aber laut Pass ist man es nicht und wird dementsprechend ausgegrenzt“, fasst der Regisseur zusammen.
Gedreht wurde 2021 mit Laiendarsteller_innen. Für die Hauptdarstellerin der schwarzen Polizistin Nancy entschied sich Gerstorfer für Temiloluwa Obiyemi: „Im Drehbuch war die Figur härter beschrieben. Temiloluwa brachte durch ihre Präsenz und Empathie etwas Versöhnliches in die Darstellung ein.“ Bei der Arbeit mit Laiendarsteller_innen kann die Regie nutzen, was von sich aus an Emotion vorhanden ist, der persönliche Stil und die Sprache. Intensive Probenarbeit ist aber erforderlich. „Im Gegensatz zu professionellen Darsteller_innen muss bei Laien der Spieltrieb gesucht und gefördert werden. Die Regie muss viel erklären, es ist fast wie unterrichten“, sagt der Regisseur. „Bei einem Drama ist es wichtig die Emotionalität in der Darstellung auf ein glaubwürdiges Level zu bringen. Dafür braucht es Vertrauen und emotionale Nähe zwischen Regie und Darsteller_innen und ein Umfeld mit viel Verständnis“, ergänzt Regieassistent und Filmakademie-Studierender Maximilian Demets. Das betrifft vor allem auch die Filmarbeit mit Kindern. Die damals achtjährige Nathalie Sollak spielte die Tochter der Familie. „Nathalie zu finden war Glück, sie ist empathisch und clever“, so Gerstorfer.
Hauptschauplatz des Films ist die Wohnung der kosovarischen Familie. In einem leerstehenden Gebäude in Alterlaa wurde sie komplett ausgestattet hineingebaut. Für die Szenen in einem Stiegenhaus und Innenhof musste eine andere Location gefunden werden. Der Wohnort des Produzenten und Filmakademie-Studierenden Lukas Rosatti erschien passend. „Wir hatten drei Nachtdrehs und die Befürchtung, dass die Nachbarn die Polizei holen, was glücklicherweise nicht passiert ist. Für einen Studierendenfilm haben wir einen verhältnismäßig großen Aufwand betrieben“, erzählt Rosatti. Neben den Drehs in der Nacht und an mehreren Orten musste für den Dreh in einem Polizeiauto ein Tieflader mit dem Auto darauf für die Fahrt durch die Stadt organisiert werden. Für bestimmte Szenen wurde eine Stunt-Koordinatorin engagiert. Bei Low-Budget-Filmen wie diesem ist viel Überzeugungsarbeit von Regie, Produktion und Kamera nötig, da es wenig oder kein Geld für die Beteiligten gibt. „Das Team hat sehr viel geleistet, vor allem auch jene, die im Hintergrund alles am Laufen gehalten haben“, ist Rosatti dankbar.
Für Kamerafrau Marie-Thérèse Zumtobel war es ihr Abschlussfilm an der Filmakademie. Mit Regisseur Gerstorfer hat sie bereits davor zusammengearbeitet: „Er hat ein gutes Gespür dafür, was er emotional dargestellt haben will. Beim Dreh sind wir bestenfalls wie synchronisiert und ich kann mit der Kamera dahin schwenken, wo es emotional stimmig ist.“ Während der körperlich anstrengenden Dreharbeiten war Zumtobel schon weit fortgeschritten in ihrer Schwangerschaft. Ihre Filmkolleg_innen beschreiben sie dennoch als „eine der Fittesten“ am Set.
Die unsichtbare Grenze wurde bei zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und ausgezeichnet. „Viele waren sehr berührt vom Film und dankbar, dass wir ihn gemacht haben. Das Thema ist aktuell, nicht nur bei uns, sondern weltweit“, fasst Regieassistent Demets die Resonanzen zusammen. Der Student Academy Award in Gold war bisher die höchste Auszeichnung.
Zur Preisverleihung im Samuel Goldwyn Theater in Los Angeles im Oktober 2023 reisten die meisten Teammitglieder an und nahmen den Preis gemeinsam auf der Bühne entgegen. Bei der Verleihung stieg die Spannung und als es tatsächlich Gold wurde, „waren wir mal baff. Für Österreich war es historisch“, sagt Gerstofer. Die Atmosphäre mit ehrlicher Begeisterung des US-Publikums und konstruktivem Feedback aus der Branche haben ihn beeindruckt. Teil des Preises ist u.a. auch, dass er ein Mentoring mit einem Oscar-Gewinner_in bekommt. Für die jeweiligen Karrieren der Teammitglieder „schafft der Award hoffentlich Aufmerksamkeit und Vertrauen bei Förderstellen und Produzent_innen, weil der Preis die höchste Auszeichnung ist, die ein Hochschulfilm in den USA erreichen kann“, meint Zumtobel. „Preise wie diese unterstützen die Karriere, hauptsächlich geht es aber um die Botschaft eines Films“, betont Demets. „Für unsere harte Arbeit ist es jedenfalls eine großartige Belohnung“, freut sich Rosatti. „Der Award motiviert mich dazu, noch mehr zu machen und andere von meinen Ideen zu überzeugen“, sagt Gerstofer.
Die unsichtbare Grenze kam auf die Short-List für die Nominierungen in der Kategorie „Live Action Short Film“ für die Oscars 2024.
Die unsichtbare Grenze kann derzeit kostenlos auf JOYN angesehen werden.