Tanja Elisa Glinsner ist nicht nur erfolgreiche Komponistin, sondern auch Dirigentin und Mezzosopranistin. Oft interpretiert oder dirigiert sie ihre Werke selbst auf renommierten Bühnen im In- und Ausland. Ihren Kompositionen liegen häufig Naturthemen zugrunde – aber nicht nur.
Wind, der durch Baumkronen weht. Krachende, knackende Äste. Ein Wasserplätschern. Stimmengewirr. Sirenen. Wer genau hinhört, kann bei dem Orchesterwerk Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt. eine bewegende Naturgeschichte entdecken und erleben. Das Stück stammt von Tanja Elisa Glinsner. Die Komposition hat sie im Rahmen des Composer-Conductor-Workshops Ink Still Wet 2022 eingereicht und in Grafenegg uraufgeführt. Als Inspiration für dieses Stück diente der 1995 in Linz geborenen Oberösterreicherin nicht nur ein prägendes Erlebnis mit einem Baum in ihrer Kindheit, sondern auch die Gedichte Der brennende Baum von Bertolt Brecht sowie Ebene Landschaft von Maria Luise Weissmann. Letzteres endet mit den Worten „[…] Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt.“ „Der Baum steht in meiner Komposition stellvertretend für Begriffe wie Zuhause und Geborgenheit, Sicherheit, Kindheit und auch Heimat. Mit der Entwurzelung, zu hören etwa durch einen Abbruch des Tons, wollte ich den Kontrast, also Heimatlosigkeit oder Entwurzelung und eine gewisse Leere darstellen“, erklärt Glinsner, die Komposition an der mdw bei Wolfgang Suppan, Dietmar Schermann und Michael Jarrell studiert hat. Derzeit absolviert sie ihr Orchesterdirigat-Studium bei Mark Stringer, sowie ihre beiden Masterstudien in Musikdramatischer Darstellung und Vocal Performance bei Claudia Visca – in der Opernklasse von Christoph Ulrich Meier und Helen Malkowsky, sowie in der Liedklasse von Angelika Kirchschlager an der mdw.
Bei ihrem Werk wie eine wissenschaftsburg …, einer Vertonung von Textfragmenten von Walter Pilar, war für die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin klar, dass sie eine humorvolle, aber naturverbundene Interpretation schaffen wollte, bei der Wasser in verschiedenen Formen im Zentrum steht. Natur ist nicht immer so selbstverständlich in ihren Werken vertreten. Vielmehr stehen einzelne Aspekte stellvertretend für persönliche Erfahrungen und Empfindungen: „Die Natur ist oft nur das Medium, aber nicht der ursprüngliche Grundgedanke.“ In ihren Kompositionen befasst sich das Ausnahmetalent beinahe unabsichtlich mit dem Thema Natur und kommt über Umwege immer wieder auf diese Thematik zurück. Die zentralen Ursprünge liegen häufig in der Mythologie und befassen sich anhand von Lyrik auch mit philosophischen Fragen. Als Beispiel nennt sie hier etwa Scena di Medea, ihre Interpretation des Medea-Mythos sowie Franz Grillparzers Drama Das goldene Vlies, in der sie den Verrat Iasons an Medea behandelt. Durch diese verwobenen und persönlichen Zugänge entstehen unterschiedliche Klangwelten. Im Werk Von gläsernen Himmelsscherben, eine szenische Meditation nach dem Gedicht Der Mensch ist tot von Claire Goll, werden Holz, Eisen oder auch Steine aufeinandergeschlagen. „Man verwendet ein natürliches Material, um eigentlich etwas Industrielles auszudrücken“, erklärt Glinsner ihren Schaffensprozess. Denn durch das Schlagen entsteht zu Beginn der Performance eine postapokalyptische Szene, in der die Arbeit in einer Werkstatt verdeutlicht wird. Erst nach und nach ist durch den Klang einer Klarinette etwas „Natürliches“ und Vertrautes zu hören und die Protagonistin beginnt ihre Umwelt anders wahrzunehmen. „Ich möchte, dass die Idee einer Komposition etwas Fundiertes ist, erst dann suche ich mir ein Medium, das symbolisch genau ebendas am besten transportiert. Häufig ist das Medium für mich dann etwas Naturverbundenes. Weil das für mich etwas ist, das wahrscheinlich jede_r verstehen kann.“
Wie ihre Werke am Ende aber gehört und wahrgenommen werden, hängt zuletzt vom persönlichen Empfinden der Zuhörer_innen ab. Behandelt Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt. etwa für die Komponistin selbst eine höchstpersönliche Thematik, löste das Werk beim Publikum zum Teil Assoziationen mit Umweltthemen und der Klimakrise aus. „Ich möchte dem Publikum natürlich helfen, dass es meine Bilder versteht“, aber „Komposition ist für mich eine Auseinandersetzung mit Symbolen und den Fragen: Welche Symbole habe ich? Was sehe ich selber darin und was möchte ich auf dem Papier sehen? Schlussendlich möchte ich es aber dem Publikum überlassen, ob sie diese Symbole auch so hören oder spüren. Ich vertraue dabei aber immer gänzlich der den Symbolen innewohnenden Energie“.
Das Publikum scheint zu verstehen, denn der Erfolg gibt ihr Recht. Ihre Kompositionen waren etwa in den letzten Monaten im Wiener Musikverein, in Frankfurt oder auch in Hongkong zu hören. Für das Short Operetta Festival im Rahmen von Salzkammergut 2024 komponierte Glinsner die Operette GOLDAUSTRUD’L oder „Die sch(t)rumpfende Stadt“, in der sie auf humorvolle Art und Weise Klänge des Donauwalzers einbaute. Oft steht sie auch selbst als Sängerin auf der Bühne. Zuletzt etwa Ende Oktober in Frankfurt bei der Uraufführung ihrer Kammeroper Schweig still, mein Stein im Rahmen des Festaktes der Akademie Musiktheater heute (AMH) in Kooperation mit dem Ensemble Modern, ein Förderprogramm der Deutsche Bank Stiftung für den Musiktheaternachwuchs.
Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt. für Orchester: