Im Wintersemester 2024/25 leitete Thomas Hampson in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Gustav Mahler und die Wiener Moderne einen Meisterkurs zur Mahler-Interpretation an der mdw. Der Bariton, ohne Zweifel einer der bedeutendsten Sänger unserer Zeit, traf sich mit Daniel Ender in der Kantine der Lothringerstraße zum Gespräch.
© Stephan Polzer

Bei Ihren Mahler-Interpretationen ist immer deutlich zu spüren, dass dieser Komponist etwas ganz Spezielles für Sie persönlich bedeutet: Für mich strahlen daraus eine unmittelbare Emotionalität, verbunden mit intensiver Reflexion und Tiefe, und ein ganz einmaliger Tonfall. Worin liegt für Sie als Sänger bei Mahler das Besondere?

Thomas Hampson (TH): Eine große Frage! Mahlers Lieder sind wie ein Tagebuch des Menschentums – von einer enormen Bildhaftigkeit, selbst da, wo sie scheinbar naiv daherkommen. Ich glaube, ein Sänger/eine Sängerin kommt immer mit unsichtbarem Gepäck auf die Bühne: Das ist die Zeit des Studierens, des Einlebens, des Versuchens zu verstehen, seiner individuellen Entwicklung … Bei Mahler ist die Vorbereitung auch deswegen so spannend, weil seine Fähigkeit, Menschen zu beobachten und darzustellen so eng mit seiner Zeit verbunden ist. Man muss die politische Realität seiner Zeit kennen, aber auch zum Beispiel jene Zeit mitbedenken, aus der die Lieder aus Des Knaben Wunderhorn stammen. Das alles trage ich mit mir mit auf die Bühne. Diese Vielfalt ist unglaublich erleuchtend, und gleichzeitig ist Mahlers Musik durch die Schönheit seiner Melodik sehr unmittelbar zugänglich.

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Es liegt von Mahler selbst viel in seinen Liedern, wie wir auch aus seiner Biografie wissen. Wie viel darf sich ein_e Sänger_in leisten, von der eigenen Geschichte, von sich selbst in die Interpretation hineinzulegen und dennoch die Kontrolle zu bewahren?

TH: Das ist eine allgemeine Frage, die bei Mahler aber schon ein besonderes Gewicht hat. Meiner Meinung nach sind wir auf der Bühne immer Stellvertreter_innen. Es sind nicht unsere Lieder, sondern die von Gustav Mahler. Und er hätte gesagt, es seien nicht seine Lieder, sondern sie seien zu ihm gekommen. Zunächst einmal sind sie inspiriert von literarischen Quellen: zunächst Des Knaben Wunderhorn, dann insbesondere Friedrich Rückert. Diese haben ihn zuerst als menschliche Ich-Erfahrung bewegt. Wenn ein Lied aus einer persönlichen Erfahrung heraus entsteht – egal ob bei Franz Schubert, Robert Schumann oder Gustav Mahler – und insbesondere wenn man in der ersten Person singt, muss man sich natürlich hineinleben. Wie man das macht, was man sich vorstellt und was man darstellt, ist sehr individuell. Das Prisma all dessen ist immer die/der jeweilige Sänger_in. Und das ist gut so. Es gibt – und das ist vielleicht ein grundsätzliches Missverständnis im Liedgesang – nicht nur den einen richtigen Weg. Ich glaube, wir müssen gleichzeitig in die Gedanken und Gefühle eines Liedes einsteigen und diese von uns aus – stellvertretend – hörbar machen.

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In Ihrem Meisterkurs arbeiten Sie in allen denkbaren Bereichen: Sie erzählen vom kulturellen Hintergrund, aber auch von der Art und Weise, wie man als Sänger_in die Geschichte hinter einem Lied erzählen kann, Sie widmen sich allen musikalischen Aspekten von der Phrasierung bis zur phonetischen Gestaltung des einzelnen Lauts. Welche Rolle spielt bei der Mahler-Interpretation die Gestaltung des Texts?

TH: Seine Lieder sind technisch ungeheuer herausfordernd, aber dann muss man die Technik völlig vergessen, damit man wirklich frei Mahlers Welt hörbar machen kann. Dazu gehört natürlich in einem hohen Maß der Text. Der Klang der Gedanken in der Metapher der Worte ist für Mahler – wie für alle großen Liederkomponisten – äußerst wichtig. Wir müssen diesen Klang so genau wie möglich studieren und vorbereiten. Aber ein_e Künstler_in muss dann immer wieder den Kopf frei machen, und das Herz muss dem Kopf den Weg zeigen. Bei Mahler kommt ein Punkt dazu, auf den ich auch beim Unterrichten immer wieder hinweisen muss: Seine Lieder sind wahnsinnig bildhaft. Man könnte jedes einzelne Lied verfilmen! Leonard Bernstein wurde einmal gefragt, ob es nicht schade sei, dass Mahler keine Oper komponiert habe. Bernsteins Antwort war, Mahler habe 50 davon geschrieben! Jedes einzelne seiner Lieder ist ein ganzer Kosmos in sich. Sie setzen sich immer auf einmalige Weise mit dem menschlichen Dasein auseinander – und oft in einer scheinbar einfachen, jedenfalls sehr zugängliche Weise.

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Wie viel davon kann man in einem Meisterkurs oder allgemein beim Unterricht als Lehrperson vermitteln?

TH: Wir haben in unserem Seminar nicht viel Zeit, aber es ist die Idee, alle angesprochenen Aspekte darzustellen. Dabei gibt es verschiedene Zugänge: etwa auch von der Geschichte des Liedes her, die ja ausgehend von Schubert bei Mahler kulminiert und einen großen Höhepunkt findet, und viele andere, die ich ja bereits angesprochen habe. Diese unglaublich aufregende Vielfalt von interdisziplinären Zugängen versuchen wir gemeinsam mit dem Mahler-Zentrum zu verfolgen. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass bei einem Meisterkurs einfach ein berühmter Sänger herkommt, der die jungen Menschen lehrt, so zu singen wie er selbst. Das ist vollkommener Quatsch! Meine Aufgabe ist es, das Verständnis für physiologische, psychisch-geistige, germanistische und historische Aspekte zu fördern. Ich glaube, dass die Mahler-Lieder für jeden Unterricht, und auch in einer solchen kurzen Zeit, eine hervorragende Möglichkeit sind, um in diesem Lernprozess etwas weiterzubringen. Die Verbindung zwischen der Welt und der Kunst, zwischen der Emotion und der musikalischen Ausdrucksweise und von alldem mit unseren Möglichkeiten, das alles zum Klingen zu bringen, ist mir hier ungeheuer wichtig.

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Mahler ist so unmittelbar zugänglich, aber diese scheinbare Einfachheit ist es, die viel Arbeit notwendig macht. Ich finde diesen Meisterkurs sehr anregend – und ich bin ohnehin ein großer Unterstützer des Mahler-Zentrums an der mdw. Ich bin sehr dankbar, als Gastkünstler hier herkommen zu dürfen und gemeinsam mit den Wiener Kolleg_innen, besonders dem Leiter des Wissenschaftszentrums Gustav Mahler und die Wiener Moderne Christian Glanz diese spannende Arbeit machen zu dürfen, die auch zahlreiche Berührungspunkte mit der großartigen Institution Exilarte (dem Zentrum für verfolgte Musik an der mdw, Anm.) aufweist. Ich denke, Wien hat hier einen Auftrag und eine besondere Verantwortung, der hier an der mdw mit viel Engagement begegnet wird. Mein großes Ziel wäre es, in Kooperation mit den anderen internationalen Mahler-Institutionen weiter daran zu arbeiten, Mahler für möglichst viele Menschen erfahrbar zu machen.

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