Warum lohnt es sich, die Lehrmaterialien einmal zur Seite zu legen, den Vorlesungssaal zu verlassen und Geschichte vor Ort zu erleben? Für die Studierenden einer Musikuniversität, die oft unter enormem Arbeits- und Übungsdruck stehen, scheint es auf den ersten Blick kaum Raum für Exkursionen zu geben. Doch gerade diese können einen entscheidenden Unterschied machen: Sie ermöglichen das Erleben von Geschichte. Das Abstrakte wird greifbar, der historische Stoff lebendig. Der Besuch eines besonderen Ortes, die Begegnung mit einem seltenen Original oder das Verweilen an einer Stätte voller kultureller Geschichte prägt sich ein – oft ein Leben lang. Drei Beispiele zeigen, wie Exkursionen nicht nur das Lernen bereichern, sondern auch zu langfristig inspirierenden Erlebnissen führen können.
Farinelli schreibt an Maria Theresia: Geschichte zum Anfassen
Im Seminar Alcina vs. Polifemo – Händel vs. Porpora – London 1735 vs. Wien 2022, das sich u. a. mit den federführenden Sänger_innen des frühen 18. Jahrhunderts beschäftigte, führte uns eine Exkursion in die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Im Zentrum stand ein wahres Juwel der Musikgeschichte: ein Notenmanuskript des berühmten Kastraten Farinelli aus dem Jahr 1753. Es war ein Geschenk an Kaiserin Maria Theresia, in dem er seine eindrucksvollen Gesangsverzierungen dokumentierte – ein bedeutendes Zeugnis barocker Aufführungspraxis. Obwohl das Manuskript als Digitalisat zugänglich ist, wurde seine Pracht erst im direkten Kontakt wirklich fassbar – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Studierenden konnten die wertvolle Handschrift selbst in Augenschein nehmen, das Gewicht des Papiers spüren, die kunstvolle Kalligrafie bewundern. Für viele war es der erste Kontakt mit einem so bedeutenden Originaldokument: Plötzlich war Farinelli mehr als ein Name aus dem Seminar – er wurde zur lebendigen Figur einer Musik- und Kulturgeschichte, die mit unserer Gegenwart verbunden ist. Unsere Stadt bietet reichlich Möglichkeiten für derartige Exkursionen im Bereich Musikgeschichte – und als Lehrveranstaltungsgruppe der mdw ist man in vielen Institutionen gern gesehener Gast. Diese Offenheit bietet Studierenden eine wertvolle Chance, denn sie erleben, wie leicht kulturelle Schätze zugänglich sein können, wenn man mit Interesse an die richtigen Türen klopft.

Vanitas trifft YOLO: Vergänglichkeit in der Musikgeschichte und am Zentralfriedhof
Im Seminar Von Vanitas zu YOLO. Musik und Vergänglichkeit, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen Jakob Maria Schermann leitete, erkundeten wir musikalische Perspektiven auf Vergänglichkeit. Ein thematisch passender Ausflug führte uns auf den Wiener Zentralfriedhof – ein Ort voller Geschichte, Symbolik und Erinnerungen.
Der Friedhof bietet mehr als die (Ehren-)Grabstätten berühmter Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms oder Arnold Schönberg – er ist selbst ein kulturelles Monument, das Vergänglichkeit und Erinnerung künstlerisch thematisiert. Im (sehr zu empfehlenden!) Bestattungsmuseum erfuhren wir, wie sich die Trauerkultur im Laufe der Jahrhunderte wandelte. Bei den Gräbern analysierten wir, wie musikalische Motive und Symbolik in deren Gestaltung einflossen – etwa Lyren, musizierende Engelsfiguren oder Inschriften, die die Verbindung von Musik und Vergänglichkeit künstlerisch deutlich machen.
Ob im Barock, in der Neuen Musik oder in der Popkultur – Vergänglichkeit bleibt ein wiederkehrendes Thema künstlerischen Ausdrucks. Der Friedhofsausflug machte diese Verbindung nicht nur sichtbar, sondern förderte einen emotionalen Zugang, der die intellektuelle Auseinandersetzung bereicherte.
Alte Musik im Wiener Konzerthaus: „historische“ Aufführungspraxis damals und heute
Im Rahmen der Vorlesung zur Musikgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts besuchten wir zu Beginn des Wintersemesters 2024 das Wiener Konzerthaus. Eingeladen waren wir vom Leiter des dortigen Archivs, Erwin Barta, um ein besonderes Jubiläum in der Musik- und Interpretationsgeschichte zu besprechen, nämlich die Aufführung von Claudio Monteverdis L’Orfeo durch Paul Hindemith – die vor genau siebzig Jahren stattfand. Dieses Ereignis markierte einen bedeutsamen Moment für die Alte-Musik-Bewegung in Österreich. Josef Mertin, Mitte des 20. Jahrhunderts eine prägende Figur der historischen Aufführungspraxis in Wien, hatte für diese Aufführung eigens eine Orgel gebaut, die heute noch an der mdw steht. In Hindemiths Orchester wirkte Nikolaus Harnoncourt mit – für diesen war es ein Schlüsselmoment und wesentlicher Beitrag zur späteren Gründung des Concentus Musicus. Vor Ort wurde die Bedeutung des Konzerthauses als Institution greifbar, die seit über einem Jahrhundert Teil des Wiener Kulturlebens ist. Unsere Diskussion drehte sich nicht nur um historische Instrumente und Repertoires, sondern auch um die Frage, wie Institutionen kulturelle Kontinuität schaffen und prägen. Die Studierenden konnten hier die Gelegenheit nutzen, historische Zusammenhänge mit ihrer eigenen künstlerischen Praxis in Verbindung zu setzen – letztendlich auch, um ihren eigenen Platz innerhalb einer langen Tradition zu erkennen.

Warum Exkursionen mehr sind als nur „Ausflüge“
Exkursionen schaffen nicht nur Erlebnisse, sondern erweitern den Horizont wacher Geister: Studierende lernen Institutionen kennen, die für ihr zukünftiges Schaffen relevant sein können. Und noch viel wichtiger: Solche Erlebnisse vermitteln die historische Perspektive des eigenen Tuns. Studierende verstehen sich nicht mehr nur als Interpretierende oder Kunstschaffende, sondern als Teil einer historisch gewachsenen kulturellen Praxis. Dieses Bewusstsein stärkt nicht nur die Bedeutung des „Nebenfachs“ Musikgeschichte, sondern auch die persönliche und künstlerische Entwicklung. Und letztlich macht es die Vergangenheit zu einem lebendigen, relevanten Teil der Gegenwart.