Wann immer man über den Komponisten Antonio Salieri spricht oder schreibt, steht sogleich ein Elefant im Raum – das unausrottbare Gerücht, er sei der Mörder Wolfgang Amadeus Mozarts gewesen, der neidische und minderbegabte Nebenbuhler, der das Genie mit Gift aus dem Weg räumt. Alles Widerlegen hat hier nichts geholfen, weder durch die Musikwissenschaft noch durch Salieri selbst, der sich bereits zu Lebzeiten mit dieser Legende konfrontiert sah. Was also tun? Wie lässt sich Salieri 200 Jahre nach seinem Tod aus der Dauerschleife von Fiktion und Fehlvorstellungen befreien? Drei Wege, die sich uns besonders im Jubiläumsjahr 2025 öffnen, seien hier kurz skizziert.
Geschichte(n) verstehen
Einer der Gründe für das hartnäckige Verkennen Salieris liegt in der Idealisierung Wolfgang Amadé Mozarts durch dessen frühe Biografen. Die am Geniegedanken orientierten Erzählungen vom überragenden Können, vom rastlosen Leben und vom schockierend frühen Tod ihres Helden boten keinen Platz für gleichrangige Figuren: Ein Genie hat keine Kollegen, sondern Bewunderer oder Neider und Feinde. Gleichrangig aber waren sie in den Augen der Zeitgenoss_innen, denen Mozart vielleicht als der Vielseitigere, Salieri aber als der Arriviertere erscheinen musste. Der mit 15 Jahren von Venedig nach Wien übersiedelte und in der Obhut seines Mentors Florian Leopold Gassmann ausgebildete Salieri stand in engstem Kontakt zu Kaiser Joseph II., feierte bald als Opernkomponist glänzende internationale Erfolge, wurde in Wien zum Direktor der italienischen Oper und 1788 schließlich zum Hofkapellmeister ernannt. Damit war er an die Spitze der musikalischen Hierarchie gerückt, musste nun aber vor allem für die kaiserliche Kirchenmusik sorgen und außerdem zahlreiche administrative Aufgaben übernehmen. Daneben wirkte er als gefragter Gesangs- und Kompositionslehrer. Salieri war respektiert, seine Position gesichert: Er hatte Mozart nicht als Konkurrenten zu fürchten, sondern, im Gegenteil, kollaborierte gelegentlich mit ihm. Eine erst kürzlich wiederentdeckte kleine Kantate Per la ricuperata salute di Ofelia, mit der die Genesung der Sängerin Nancy Storace gefeiert wurde, entstand als Gemeinschaftswerk von Salieri, Mozart und einem nicht näher bekannten Herrn Cornetti auf einen Text von Lorenzo da Ponte.
Neue Geschichten erzählen
Mozart und Salieri, die sich zusammentun, um ein Stück für eine von ihnen geschätzte Sängerin zu schreiben – das ist eine neue Geschichte, die zugleich treffender als die Genieerzählungen des 19. Jahrhunderts von der musikalischen Realität im Wien der 1780er-Jahre berichtet. Eine andere, ebenso überraschende, bieten uns die Erinnerungen von Anselm Hüttenbrenner, der wie sein Freund Franz Schubert Kompositionsschüler Salieris war. Ihm erscheint sein Lehrer rückblickend als „der größte musikalische Diplomat; er war der Talleyrand der Musik.“1 Auch hier öffnet sich ein neuer Blick auf vergangene Lebensrealität: Hüttenbrenner lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Salieris administrative und organisatorische Qualitäten, die vermutlich oft für den Ausgleich von Interessen und das Moderieren von Konflikten benötigt wurden – nicht nur im Theater, sondern auch in der Hofkapelle und im Rahmen seines gesellschaftlichen Engagements. Ihm ist schließlich auch die Gründung einer Singschule der Gesellschaft der Musikfreunde (1817) zu verdanken, aus der das spätere Konservatorium und die heutige mdw hervorgehen sollten.
Diplomat_innen sind Fachleute für Vermittlung, für das Verbinden auseinanderstrebender oder disparater Elemente. Der „musikalische Diplomat“ Antonio Salieri hat als Lehrer Größen des 19. Jahrhunderts wie Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Franz Liszt ausgebildet; er selbst blieb als Komponist jedoch dem 18. Jahrhundert, der Opernästhetik Christoph Willibald Glucks und der Kirchenmusik seines Lehrers Florian Leopold Gassmann, verpflichtet. Er vermittelt so über die Epochenschwelle hinweg Ideen, Techniken und Positionen, die in ihrem neuen Rahmen eine noch gar nicht absehbare Wirkung entfalten werden.
Hören, Spielen, Inszenieren

Der dritte Weg ist der für eine Musikuniversität naheliegendste: Die Aufführung von Werken Salieris. Das Jubiläumsjahr böte dazu die beste Gelegenheit: Von seinen Opern zum Beispiel die hinreißend komische La grotta di Trofonio, auf ein Libretto von Giovanni Battista Casti, die mehr als nur die Personenkonstellation mit Mozarts Così fan tutte teilt; von seiner Kirchenmusik das (für ihn selbst komponierte) Requiem und aus seinem schmalen instrumentalen Œuvre die orchestral glänzenden 26 Variationen über „La Follia di Spagna“. All das und noch mehr aus Salieris Feder verdiente unbedingt, wiederaufgeführt, inszeniert, gehört und gesehen zu werden.
Markus Böggemanns neues Buch zu Salieri wird am 30. April 2025 in der Hofmusikkapelle vorgestellt. Zur Veranstaltung.