Lieder von Ruža Nikolić-Lakatos (1945–2022) live und digital aufbereitet

Die Lieder der Lovara sind eine besondere musikalische Ausdrucksform innerhalb der vielen verschiedenen Roma-Musiktraditionen. Sie erzählen vom Leben der Roma, von Liebe, Leid, wichtigen Ereignissen und fungieren als Wissensspeicher. Im Jahr 2011 wurden die Lieder der Lovara in das UNESCO-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich aufgenommen, Ruža Nikolić-Lakatos war die Antragstellerin. Die außergewöhnliche Lovara-Sängerin stammte aus Ungarn und flüchtete 1956 nach Österreich. Danach lebte sie in Wien, wo sie ihren Mann Mišo Nikolić kennenlernte. Im Zusammenhang mit der politischen Emanzipationsbewegung der Rom*nja in Österreich, die nach der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten erst 1989 mit der Gründung des ersten Roma-Vereins begann, wurde Ruža durch ihre Musik zu einer „Botschafterin der Roma-Kultur“.

Ruža Nikolić-Lakatos © Mehmet Emir

Dem Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie an der mdw war Ruža Nikolić-Lakatos über drei Jahrzehnte eng verbunden. Sie war eine der wichtigsten Forschungspartner_innen in den Projekten zur Roma-Musik in Österreich und trat bei zahlreichen Events des Instituts auf. Mit ihrem Tod am 4. Mai 2022 ging diese Form der Zusammenarbeit zu Ende.

Eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Ružas musikalischem Erbe ist es, ihre Lieder weiterleben zu lassen, indem sie von anderen Musizierenden gesungen werden. Dies geschah unter anderem am 3. Mai 2024 mit dem Konzertabend Sa tja patjivake, Ruža – Dir zu Ehren, Ruža. Die Kuratorin Ursula Hemetek bat dafür Persönlichkeiten aus der österreichischen Rom*nja-Musikszene, sich mit Ružas Liedern kreativ auseinanderzusetzen. Ruža’s Kids eröffneten das Konzert. Es ist das nunmehrige Familienensemble, eigens für diesen Abend entstanden, bestehend aus den Kindern Manuela und Mischa und der Enkelin Shireen. Musikstilistisch knüpfen sie direkt an Ružas Stil an, wobei die Stimme der ausgebildeten Musical-Sängerin Shireen Nikolić den Liedern ein neues, spannendes Flair verleiht.

Shireen Nikolić, © Hanna Fasching

Es folgten Moša Šišić & Family. Moša ist mehrmals mit Ruža zusammen aufgetreten, obwohl sich beide in verschiedenen musikalischen Roma-Welten bewegten. Moša erwies Ruža im Stil der serbischen Roma-Musik die Ehre. Die innovativen Arrangements von Ružas Liedern für klassisches Streichquartett, Bandoneon und Singstimme, für die Ferry Janoska verantwortlich zeichnete, dargeboten von Melinda Stoika, Ferry Janoska & Friends waren ein wunderbarer Abschluss des Programms. Insgesamt war der Abend eine stimmige Hommage an die Sängerin und ein deutliches Zeichen, dass Ružas Lieder tatsächlich weiterleben.

Moša Šišić (r) & Family. © Hanna Fasching

Das Konzert war auch der Startschuss für die Live-Schaltung der vom MMRC – Music and Minorities Research Center erarbeiteten digitalen Ausstellung Ružake gila (Projektteam: Ursula Hemetek, Eva Leick, Malik Sharif). Die Website widmet sich dem musikalischen Nachlass der Sängerin, indem sie den Liedern von Ruža Nikolić-Lakatos eine öffentliche Plattform bietet und eine intensive Beschäftigung mit ihnen ermöglicht. 25 Lieder wurden dafür nun vorerst ausgewählt. Sie sind jeweils mit musikalischer Transkription, Liedtexten in Romanes und deutscher Übersetzung sowie erklärenden Kommentaren versehen.

Besonders bemerkenswert sind dabei die ausgewählten Einblicke in die Feldforschungsarbeit der Ethnomusikologin Ursula Hemetek mit der Sängerin Ruža Nikolić-Lakatos. In zahlreichen Tonaufnahmen hört man die beiden Frauen über die Inhalte einzelner Lieder, deren Besonderheiten, emotionale Bedeutung und Begebenheiten sprechen. Neben dem inhaltlichen Mehrwert stellen die Ausschnitte dabei bemerkenswerte Zeitzeugnisse der kollaborativen Forschungsarbeit dar.

Melinda Stoika, Ferry Janoska & Friends, © Hanna Fasching

Neben den zahlreichen Aufnahmen aus der Forschungsarbeit, die von Ursula Hemetek durchgeführt wurde und in über hundert Stunden an Tonmaterial am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie archiviert ist, sind in der digitalen Ausstellung Ružake gila auch Liedaufnahmen aus der Sammlung Heinschink veröffentlicht. Diese wurden von Mozes F. Heinschink bereits ab den 1960ern angefertigt und sind im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften archiviert.

Zusätzlich zu den 25 Liedern wird in der digitalen Ausstellung Ružake gila der breite Kontext der Lovara-Lieder mit seinen spezifischen Aufführungspraktiken und historischen Veränderungsprozessen am Beispiel von Ruža Nikolić-Lakatos erklärt. Wesentlich sind dabei Einblicke von Wegbegleiter_innen, allen voran von der Tochter der Sängerin Manuela Nikolić, aber auch von Expert_innen wie Maria Walcher (ehem. UNESCO-Kommission) und Mozes F. Heinschink (Romanes-Experte), die sowohl in Video- als auch Audio-Interviews dargestellt sind.

Ružake gila ist eine der ersten digitalen Ausstellungen an der mdw. Sie fungiert als Beispiel, wie musikalische Inhalte mit den Methoden der digitalen Geisteswissenschaften veröffentlicht werden können. Außerdem ermöglicht sie das Weiterleben und -geben von Ruža Nikolić-Lakatos’ Liedern, einerseits als Quelle für Musizierende, so wie am 3. Mai, und andererseits als Beitrag zur vermehrten Sichtbarmachung und Zugänglichkeit von Roma-Musik in Österreich.

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