Eine Keynote zum Semesterbeginn
Es ist fast trivial zu sagen, dass die Demokratie in einer Krise steckt – das tut sie im Grunde genommen ständig, sie ist von Natur aus ein fragiles Projekt. Doch gegenwärtig ist dieses Thema besonders relevant. Eine Demokratie, die ohne Gewaltverhältnisse auskommen will, muss Vielfalt, Pluralität und Solidarität fördern. Das sei vorangestellt – denn ich möchte den Zusammenhang von Demokratie und Film eine Ebene tiefer beleuchten:
Der narrative Spielfilm ist eine auf Figurenhandlung basierende Kunstform und beruht auf den dramaturgischen Bedingungen der Dramatik. In der Darstellung von Figuren spielen dabei zwei Aspekte eine zentrale Rolle: das Erkennen und das Entscheiden. Diese Elemente bilden das Herzstück der Figurenentwicklung, denn eine Figur erkennt – meistens nach der Hälfte bis zwei Dritteln der Filmlaufzeit – etwas Wesentliches, das sie dazu veranlasst, ihre Handlung neu auszurichten. Diese Handlungsumkehr führt dann zu jenen Konsequenzen, die am Ende des Films stehen.
Ich möchte dies anhand von zwei konkreten Beispielen veranschaulichen: In dem Filmklassiker The Day of the Jackal (1973), eine Adaption unter der Regie von Fred Zinnemann, wird von einem Auftragsmörder erzählt, der entsendet wurde, den französischen Präsidenten Charles de Gaulle zu ermorden. Die Filmwissenschaftlerin Kerstin Stutterheim hat in ihrer Analyse des Films auf den zentralen Moment von Erkenntnis und Entscheidung hingewiesen: Wir sehen den Auftragsmörder zunächst am Telefon, wie er erfährt, dass seine wahre Identität aufgedeckt wurde. Nun muss er sich entscheiden, ob er seinen Auftrag weiter ausführt oder nicht. Anschließend sehen wir den Moment seiner Entscheidung: Bricht er den Auftrag ab und fährt ins sichere Italien oder fährt er weiter nach Paris? Natürlich fährt er nach Paris – denn sonst wäre der Film vorbei.
Im Film Aftersun (2022) von Charlotte Wells erleben wir diesen entscheidenden Moment im Leben der jungen Protagonistin Sophie. Sie hatte erwartet, gemeinsam mit ihrem Vater auf die Bühne zu gehen, um Karaoke zu singen. Doch sie muss erkennen, dass ihr Vater mit defensiv verschränkten Armen sitzen geblieben ist und sie nun alleine auf der Bühne steht. Der Text „I thought that I heard you sing“ versinnbildlicht ihr inneres Empfinden und ihre Enttäuschung. Daraufhin trifft sie eine Entscheidung und teilt ihm mit, dass sie nicht gemeinsam mit ihm zurück in die Unterkunft gehen wird – sie wird den Abend mit anderen Jugendlichen verbringen. In diesem Moment kristallisiert sich ihr Erwachsenwerden.
Diese Momente – die schon von Aristoteles in der Poetik als Anagnorisis und Peripetie beschrieben wurden – sind integraler Bestandteil der Dramatik und stehen in engem Zusammenhang mit der Demokratie. Anders gesagt: Die Demokratie hat, über den Umweg der antiken Tragödie, das Drama erschaffen. Dazu muss man wissen, dass jede Gesellschaftsform ihre eigene dramaturgische Form hervorgebracht hat: Einige Gesellschaften produzieren vor allem Märchen, andere Musicals, wieder andere bringen endlos viele Krimis hervor. In Hollywood wiederum dominieren Heldenreisen – in deren Struktur im Übrigen eine recht hierarchische Weltordnung zum Tragen kommt.
Dass die Tragödie zeitgleich mit der Demokratie entstanden ist, ist kein Zufall. Wie u. a. der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach herausgearbeitet hat, entstand sie im Kontext der athenischen Demokratie und deren neuen Anforderungen an die Bürger als Entscheidende und Handelnde (damals galt dies nur für Männer, nicht für Frauen und versklavte Menschen). Diese Bürger begannen sich erstmals als autonom Handelnde zu erfahren, und die Kunst begleitete diese neue Erfahrung durch eine kritische Auseinandersetzung und mit der Frage, ob und inwiefern der Mensch eigentlich tatsächlich über sein Handeln bestimmen kann.
Diese Dialektik zwischen individueller Handlungsmacht und der Eingebundenheit in überindividuelle Kräfte, sei es durch schicksalhafte Mächte oder gesellschaftliche Verpflichtungen, bildet das Zentrum zahlreicher Stoffe der Dramatik. In diesem Konflikt zwischen individueller Freiheit und kollektiver Gleichheit, den Rechten des Einzelnen und den Bedürfnissen der Gemeinschaft, spiegelt sich zudem das grundlegende Paradox der Demokratie. Dieser Konflikt – wie u. a. ausführlich von der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe beschrieben – muss in einer Demokratie beständig neu ausgehandelt und entschieden werden.
Dabei ist die Demokratie, wie auch die Dramatik, auf ästhetische Repräsentation angewiesen. Das drückt sich bereits in der Architektur aus: Die Ähnlichkeit zwischen beispielsweise dem historischen österreichischen Parlament des 19. Jahrhunderts und dem als ältestes Theater der Welt geltenden Theater des Dionysos in Athen ist unübersehbar. Sowohl im Parlament als auch auf der Bühne treten Menschen nach vorne, führen etwas aus oder vor. Und in beiden sind Menschen darauf angewiesen, andere von etwas zu überzeugen.
Die Demokratie ist wegen ihrer Abhängigkeit von Repräsentation und überzeugender Darstellung vielfach kritisiert worden. Schließlich haben dadurch gut performende Demagogen gute Chancen gewählt zu werden. Die Philosophin Juliane Rebentisch argumentiert aber, dass die Demokratie gerade aufgrund ihrer Angewiesenheit auf ästhetische Repräsentation eine der besten aller möglichen Staatsformen sei. Denn ihre Eigenart ermögliche jeder Person, die Bühne zu betreten und sich öffentlich zu äußern. Und auch die Entscheidung, Filme zu machen, bedeutet ein aktives Eintreten auf diese öffentliche Bühne. Diese Möglichkeit, sich am öffentlichen Diskurs mit den vielfältigsten Inhalten und Formen zu beteiligen, ist in anderen Staatsformen schließlich so nicht unbedingt gewährleistet.