Annäherung an ein Künstlerinnenleben
Am 16. Oktober 2019 wird der Saal des Zentrums für Weiterbildung spiel|mach|t|raum für das Studienjahr 2019/20 einer neuen Inspiratorin gewidmet: der Pianistin und ehemaligen Lehrenden an der mdw Erna Kremer.
Zu diesem Anlass hat sich das Archiv mit der Biografie Erna Kremers befasst – einem Leben, das im habsburgischen Vielvölkerstaat begann und im Nationalsozialismus ein gewaltsames Ende fand. Erna Kremer wurde an der mdw ausgebildet, wo sie ein Klavierstudium und den Lehrerbildungskurs absolvierte sowie die Meisterschule bei Emil von Sauer besuchte. Ab 1934 war sie am Haus beschäftigt. 1938 wurde die aus einer assimilierten jüdischen Familie stammende Kremer unmittelbar nach dem „Anschluss“ beurlaubt und schließlich entlassen.
Es folgten der Verlust der Wohnung und die Unterbringung in einer Sammelwohnung. Sämtliche Versuche, das Land zu verlassen, scheiterten. „[D]er Kummer und die Sorgen werden immer größer und haben jedes erträgliche Maß bereits überschritten. […] Wir haben nur noch einen Wunsch – bald fort zu können“, schrieb Erna Kremer im November 1940 verzweifelt in einem Brief an eine Bekannte.
Am 6. Mai 1942 verließ jener Zug Wien, mit dem Erna Kremer, ihre Mutter und ihr Bruder nach Maly Trostinec deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft am 11. Mai 1942 ermordet wurden.
Bei der Beschäftigung mit Erna Kremers Leben kommt – neben dem Studium archivalischer Quellen – den erhaltenen Briefen ihrer Familienmitglieder besondere Bedeutung zu. Eine weitere Besonderheit stellen Textpassagen im literarischen Werk ihrer Nichte Ilse Aichinger dar, in denen Erna Kremers Lebenswelten beschrieben werden. Ergänzt werden diese Quellen durch die in der Familie erhaltenen und in Interviews weitergegebenen Erinnerungen.
Auf kultureller Ebene in einer Welt zwischen Judentum und Christentum verortet, zwischen großbürgerlichen Bildungsansprüchen und begrenzten finanziellen Mitteln, zwischen den Träumen von und den Realitäten einer Karriere als Pianistin und Pädagogin lebte Erna Kremer innerhalb einer von Antisemitismus und Misogynie (mit)bestimmten Gesellschaft. Nur wenigen Frauen gelang es, sich unter diesen Gegebenheiten gegen die männliche Konkurrenz durchzusetzen und an der mdw Fuß zu fassen.
Die Beschäftigung mit Erna Kremers Leben bedeutet eine Würdigung ihrer Leistungen, aber ebenso einen Schritt dahin, jene an der mdw tätigen Künstler_innen, deren Karrieren und Leben durch den Nationalsozialismus ausgelöscht wurden, aus der Anonymität zu holen und sie vor der Vergessenheit zu bewahren.
Die Broschüre Erna Kremer. Lemberg, 1896 – Maly Trostinec, 1942. Annäherung an ein Künstlerinnenleben erscheint anlässlich der Saalwidmung als Sonderheft der archiveigenen Publikationsreihe in gedruckter Form sowie Open Access auf der Website des Archivs. Ein vom Team des Archivs verfasster biografischer Beitrag zu Erna Kremer wird anlässlich der Widmung des Raums im virtuellen mdw-Geschichtsspeicher mdw.ac.at/spielmachtraum online gestellt.