Christian Berkel gibt sein Debüt als Theaterregisseur und inszeniert bei den Festspielen Reichenau 2022 Frühlings Erwachen mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars. Ein Gespräch über die existenzielle Lebenskrise der Pubertät, über zerrüttete Familienverhältnisse und die Kraft des Theaters.

Sie sind als Schauspieler zahlloser deutscher und internationaler Theater- und Filmproduktionen bekannt. Bei den diesjährigen Festspielen Reichenau treten Sie erstmals als Regisseur in Erscheinung. Was hat Sie an die Regie herangeführt?

Christian Berkel (CB): Ich habe Ende der 1980er Jahre in Berlin neben der Schauspielerei an der DFFB (Deutsche Film- und Fernsehakademie) ein Studium für Regie und Drehbuch gemacht. Damals war ich noch näher am Theater – ich hatte 16 Jahre überwiegend Theater gespielt, übrigens auch einmal am Akademietheater. Dann ging es aber so heftig mit dem Drehen los, dass ich keine Zeit gefunden habe, diese andere Seite zu vertiefen. Irgendwann fing ich mit dem Schreiben an und habe inzwischen zwei Romane veröffentlicht, die sich mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Das Interesse an der anderen Seite, dem Schreiben und Inszenieren, ist immer stärker geworden.

In Reichenau werden Sie Frank Wedekinds Frühlings Erwachen inszenieren, mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars in den Rollen der Jugendlichen. Was verbindet Sie mit diesem Stück?

CB: Ich stand Anfang 20 selbst in Düsseldorf als Hänschen Rilow auf der Bühne und wurde daraufhin von Hermann Beil ans Schauspielhaus Bochum engagiert. Damals begann für mich die wichtigste Zusammenarbeit in meiner Theaterlaufbahn. Das wusste Maria Happel nicht, als sie mich fragte, wie es mir mit Frühlings Erwachen ergehe und ob ich glaube, dass man das noch inszenieren kann. Beim Wiederlesen war ich verblüfft von der Kraft des Stücks und hatte eine riesige Lust, es zu machen.

Was reizt Sie daran?

CB: Bestimmte Probleme muss man sich in unterschiedlichen Zeiten immer wieder aufs Neue ansehen. Ich kenne kein Stück in der Literaturgeschichte, wo alle Themen der Pubertät so durchgespielt werden, mit unglaublich genauen Beobachtungen. Es thematisiert den juvenilen Selbstmord, die Sexualität in all ihren Schattierungen, alles, was junge Menschen beschäftigt, irritiert, was die Pubertät, diese erste tiefe Lebenskrise ausmacht. Später im Leben hat man die Erfahrung gemacht, dass man aus der Krise auch wieder herauskommt. In der Pubertät weiß man das noch nicht. Das gibt dieser Lebensphase ihre Wucht und ihren Schrecken. Dass der junge Mensch nicht weiß: Schaffe ich das? Das erste Verliebtsein, das erste Scheitern, die ersten Verletzungen – überlebe ich das überhaupt?

© Gerald von Foris

Die Jugendlichen in Frühlings Erwachen sind in dieser Krise einer absolut verständnislosen, abweisenden Erwachsenenwelt ausgeliefert – ist das heute anders?

CB: Wir erleben auch heute eine Gesellschaft, die verlernt hat, junge Menschen auf ein Gefühlsleben vorzubereiten – das hat sich nicht sehr verändert. Wir lernen eigentlich von klein auf, Gefühle nicht wahrzunehmen und zu verdrängen. Sie können das auf jedem Kinderspielplatz erleben! Wir haben es also ständig mit emotional unerfahrenen, ungeübten Menschen zu tun. Das führt bei Erwachsenen zu Konflikten in Beziehungen, über die man nicht zu sprechen gelernt hat. Wedekind zeigt das bereits in unterschiedlichen Schattierungen auf.

Den Jugendlichen wie Wendla wird es zum dramatischen Verhängnis, dass ihre Eltern nicht mit ihnen sprechen, sie nicht aufgeklärt werden. Kann man das heute noch nachempfinden?

CB: Abgesehen davon, dass natürlich jeder Teenager weiß, wie Kinder entstehen, wäre es natürlich auch heute noch ein massives Problem, wenn ein 14-jähriges Mädchen schwanger wird. Ein Grundproblem hat sich kaum verändert: Wir leben zwar in einer wahnsinnig sexualisierten Zeit, aber wir sind immer noch genauso sprachlos im Umgang mit Sexualität und mit Emotionen wie zu Wedekinds Zeit. Da ist das Stück faszinierend, und ich glaube, dass es da nach wie vor provoziert.

Wendla, die später schwanger wird und durch eine Abtreibung stirbt, kämpft gegen diese Sprachlosigkeit an, sie stellt ihrer Mutter explizite Fragen, wird damit aber allein gelassen und ins Unglück gestürzt, letztlich in den Tod getrieben. Wedekind schildert dieses existenzielle Drama auf Augenhöhe mit den Jugendlichen.

CB: Die Scham ist ein großes Thema des Stücks und die damit verbundene Schande – die immer einer sozialen Ächtung gleichkommt. Sehen Sie sich die Familienverhältnisse in dem Stück an. Wendla hat keinen Vater. Die Mutter, die die Engelmacherin holt, hat Angst vor der Schande. Sie ist eine verlassene Frau, alleinerziehend und sozial geächtet – wenn jetzt auch noch herauskommt, dass ihre Tochter schwanger ist, dann ist sie gesellschaftlich tot. Sie geht lieber das Risiko ein, dass ihre Tochter stirbt, als dass sie sozial stirbt. Das ist brutal. Die andere Familie, bei Moritz Stiefel, hat keine Mutter. Es gibt sie offenbar, sie ist nicht tot, aber sie kommt nicht einmal zur Beerdigung des Sohnes. Wo wir hinschauen, haben wir zerrüttete Familienverhältnisse. Aber zerrüttet in einer Form, die uns heute alles andere als unbekannt ist. Wir leben in einer Zeit, in der die Patchworkfamilien, Trennung, Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen, fast die Regel darstellen. Wir tun so, als sei das völlig in Ordnung. Aber es ist für die Kinder ein tiefer Vertrauensverlust, wenn das passiert.

Die Eltern, nicht nur in Frühlings Erwachen, geben ihre eigenen Probleme kommentarlos an die eigenen Kinder weiter. Wie lässt sich die erwähnte Sprachlosigkeit auf die Bühne bringen? Mit welchen Gedanken gehen Sie da in die Probenarbeit?

CB: Wedekind war sehr fasziniert von der Zirkuswelt und ist auch selber eine Zeit lang mit einem Zirkus umhergezogen. Er war eng mit dem Kabarett verbunden und hat sich immer wieder darüber geäußert, dass es ihm wichtig war, in allen Szenen auch den Humor herauszuarbeiten. Er bemüht sich immer um die Tragikomödie, um beide Aspekte – es ist ein beißender, teilweise ins Satirische gehender Humor. Das ist ein Aspekt, der für mich ganz wichtig ist und den wir auch im Bühnenbild spiegeln werden – der neue Saal des Festspielhauses ist bereits wie eine Arena angelegt. Das Bild Zirkus ist für mich auch eine Lebensmetapher, eine zeitlose Metapher. Zirkus ist etwas, das uns in die frühe Kindheit zurückführt, das Erlebnis des Verkleidens, des Anders-Seins, aber auch das Erlebnis, nach vorne zu preschen, uns auszuprobieren – eine Metapher, die sehr gut zu dem Stück passt und es aus einer vielleicht allzu starren Interpretation lösen kann. Diesen Weg will ich mit den Schauspielerinnen und Schauspielern gehen.

In Ihrer Inszenierung stehen erfahrene Schauspieler_innen in den Erwachsenenrollen den Studierenden des Max Reinhardt Seminars als Jugendliche gegenüber.

CB: Es ist ein unglaublicher Reiz, dieses Stück mit so jungen, ganz am Anfang stehenden Schauspielerinnen und Schauspielern zu machen. Ich habe mir drei Jahrgänge am Max Reinhardt Seminar angeschaut und war von dem Niveau extrem beeindruckt. Der Großteil der Besetzung kommt aus dem zweiten Jahrgang – das ist fast wie ein Ensemble! So hochbegabt, dass eigentlich jede und jeder von diesen jungen Leuten durchaus für alle Hauptrollen infrage käme.

Was bedeutet es Ihnen, nach langen Jahren im internationalen Film, aber auch nach den pandemiebedingten Einschränkungen des kulturellen Lebens, wieder für die Bühne zu arbeiten?

CB: Theater ist ein Grundbedürfnis. Wir sind keine Einzelwesen. Wir brauchen den anderen, wir sind eine Gesellschaft, und wir brauchen es, dass wir gespiegelt werden und uns ausdrücken – darum geht es ja auch in Frühlings Erwachen. Die Pandemie hat in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen, und ich fürchte, die Rückkehr zur Normalität wird nicht so einfach passieren. Wir haben einen Naivitätsverlust erlebt, der ist heftig. Das Bedürfnis nach Theater ist groß, und die Bühnenkunst hat die wichtige Aufgabe, hier anzuknüpfen. Wir haben erlebt, dass sich unsere Welt innerhalb kürzester Zeit in ihren Gesetzmäßigkeiten extrem verändern kann, dass wir zu unserem eigenen Schutz das Gegenteil von dem machen, was eine Gesellschaft eigentlich tut. Das werden wir nicht so ruckzuck aus den Knochen kriegen.

Frühlings Erwachen in der Regie von Christian Berkel ist von 3. Juli bis 6. August 2022 bei den Festspielen Reichenau zu sehen. Details und Karten unter theaterreichenau.at

Comments are closed.