Mittlerweile wurden viele Initiativen gegründet, die in Macht-, Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse in musikalischen Räumen und Praktiken intervenieren. Auch Analysen in der Forschung haben zugenommen. In der digitalen Vortragsreihe Music, Sexual Harassment, Racism: Continuities & Change im Sommersemester an der mdw geben zunächst Rosemary L. Hill, Anna Bull und Antonio C. Cuyler Einblicke in ihre Studien – zu sexueller Gewalt in Veranstaltungsräumen, zur klassischen Musikausbildung nach MeToo und zu kreativer Gerechtigkeit sowie Blacktivism als antirassistischem Tool in der Oper. Ebenso sprechen drei Initiativen über ihre Arbeit. Hier werden female:pressure (international), Diversity Roadmap (CH) und der MeToo-Blog des Harfenduos (DE) näher vorgestellt.
Zwanzig Jahre liegen zwischen der Gründung des Netzwerks female:pressure 1998 und dem ersten Beitrag im MeToo-Blog des Harfenduos 2018. 2019 ging außerdem die „Diversity Roadmap“ als Tool für Musikclubs und Festivals online sowie in Druck. Diese drei Initiativen haben unterschiedliche Dimensionen und Ziele: Sie vergrößern erstens den Raum von Frauen* und nicht-binären Personen in der elektronischen Musik und den visuellen Künsten, sie arbeiten zweitens zu sexuellen Übergriffen in Unterrichtsräumen der Kunstmusik und drittens zu sexistischen und rassistischen Kulturen in Live-Räumen der Popmusik. Jede trägt dazu bei, Hürden in der Ausübung musikalischer Praktiken zu verringern, die mit zwei zentralen Kategorien sozialer Ungleichheit verbunden sind: Geschlecht und race.
Bei female:pressure, gegründet von der Künstlerin Electric Indigo und von Andrea Mayr als Datenbank programmiert, vernetzen sich heute 2850 Mitglieder aus 85 Ländern. Das Netzwerk arbeitet intersektional und antirassistisch zusammen und besteht u. a. aus Musikerinnen*, Künstlerinnen*, DJs, Tontechnikerinnen*, Labelbetreiberinnen* und Bookerinnen*. female:pressure veröffentlicht seit 2013 den FACTS Survey, der im März 2022 zum fünften Mal erschien. Darin werden die Geschlechterverhältnisse auf den Bühnen elektronischer Musikfestivals erhoben, Diversität in der elektronischen Musikszene beleuchtet und ein stetig wachsender Katalog von „Points of Action“ präsentiert, der Vorschläge zur Förderung von Inklusion beinhaltet.
2013 forderte die Initiative in elf Sprachen Festivalkuratoren, Förderer, Labelmacher und Journalisten auf, Frauen* in der elektronischen Musik und digitalen Kunst mehr Raum zu geben. In Berlin veranstalteten die Netzwerk-Mitglieder zwei Festivals; im digitalen Raum initiierten sie ein „visibility tumblr“, und sie betreiben einen Podcast. Musik und Kunst als Mittel, soziale und ethnische Gerechtigkeit zu stärken, setzte female:pressure nicht zuletzt 2016 in einer Support-Compilation zugunsten der maßgeblich von Frauen getragenen Autonomiebewegung in Rojava in Nord- und Ostsyrien ein.
„Die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle an Musikhochschulen und die anschließende MeToo-Debatte haben auch unser Leben aufgewirbelt“, schreiben an anderer Stelle für das Feld der Kunstmusik Laura Oetzel und Daniel Mattelé vom Harfenduo.
Seit 2018 betreiben die beiden freiberuflichen Musiker*innen einen MeToo-Blog mit mittlerweile über 30 Artikeln. Sie stellen die Inhalte und Ergebnisse der interessierten Presse zur Verfügung, im Februar im Podcast „Alles klar, Klassik?“. Vor allem verhelfen sie Betroffenen von sexueller Gewalt zu mehr Gehör und zeigen auch die strukturellen Dimensionen des Problems in den Institutionen der Musikausbildung auf. „Eine Sängerin verstummt“ lautet der Titel des Berichts einer Betroffenen. Das Duo führt außerdem Interviews mit Personen und Initiativen aus Forschung, Kunst und Studium, etwa mit dem studentischen Awareness-Team der HfMT Hamburg, das Betroffene von Machtmissbrauch unterstützt.
Im Bereich der (populären) Livemusik bietet die Diversity Roadmap Musikclubs und Festivals praxisnahe Empfehlungen für mehr Diversität und Gleichstellung. Sie zirkuliert als gedruckter Flyer ebenso wie in digitaler Form und kann online heruntergeladen oder bestellt werden. Entwickelt durch Helvetiarockt, die Schweizer Koordinationsstelle und Plattform für Musikerinnen* im Jazz, Pop und Rock, schafft das Projekt eine Plattform für den Austausch zu Diversität, vernetzt Clubs und Festivals untereinander und vermittelt bei Bedarf Expert*innen. In den nächsten zwei Jahren liegt der Schwerpunkt auf der Prävention gegen sexualisierte Gewalt und dem Aufbau eines Netzwerks von Diversitätsexpert*innen.
In der Vortragsreihe Music, Sexual Harassment, Racism: Continuities & Change kommen die drei Initiativen am 14. Juni 2022 zusammen, um über ihre aktuellen Anliegen und Bedarfe zu sprechen. Am Round Table geht es auch darum, welchen Wandel sie im kulturellen Einsatz für kreative und soziale Gerechtigkeit feststellen. Interessierte sind eingeladen, den Beiträgen zuzuhören, sich einzubringen und in einen Austausch zu treten – zu Unversehrtheit und Diversität als bedeutsamen Themen in der Praxis und Erforschung von Musik und Kunst und zu einer kritischen Analyse fortbestehender Faktoren, die sie als Alltagskulturen immer noch einschränken.
Nähere Information zu allen Beiträgen der online besuchbaren Vortragsreihe Music, Sexual Harassment, Racism: Continuities & Change, organisiert von Katharina Alexi, Rainer Prokop und Rosa Reitsamer, finden sich unter: musiksoziologie.at