„Das Verstehen der Welt von innen heraus und als Teil von ihr …“
Über das Selbstverständliche nachzudenken, schmerzt mitunter. Denn ist es nicht der Vorteil des Selbstverständlichen, es nicht hinterfragen zu müssen? Es als gegeben nehmen zu können, als erprobt und als richtig? Warum sonst würde es als selbstverständlich betrachtet werden? Nun, genau dies aber tun die Gender Studies. Sie hinterfragen das Fraglose. Das macht sie für viele Menschen zu einer geschätzten innovativen wissenschaftlichen Herangehensweise, für manche andere jedoch zu einem unerwünschten Etwas, das es darauf abgesehen hat, sich über Herkömmliches und Bewährtes hinwegzusetzen.
Dass die Welt sich in einem permanenten Veränderungsprozess befindet, merken wir mit etwas Aufmerksamkeit täglich. Internationalisierung der Wirtschaft, Veränderungen der Arbeitswelt, Individualisierung, neue Informations- und Kommunikationsmedien versehen das Leben mit einem Signum, verlangen nach neuen Herangehensweisen und rufen gleichzeitig, wie das in historisch-transitorischen Momenten in der Regel der Fall ist, zugleich Stereotypen auf den Plan, um der Verunsicherung mit Konkretheit zu begegnen. Die Gender Studies schlagen hier eine andere Richtung ein. Sie schärfen den Blick für gesellschaftliche Mechanismen, suchen nach neuen Wegen des Weltverstehens, aber auch des Weltgestaltens. In diesem Sinne verstehen sie sich als eine gesellschaftskritische und wissenschaftskritische Wissenschaft, die in genau diesen krisenhaften Zeiten, wie wir sie gerade erleben, wesentliche Impulse setzen kann.
Ein Blick auf die abendländischen Denkverhältnisse ist dabei unablässig. Wir meinen ganz klar zu wissen: Wenn es Tag ist, kann es nicht Nacht sein, wer alt ist, kann nicht jung sein, wenn eine Person eine Frau ist, kann sie kein Mann sein. Das ist doch einleuchtend. Das ist leicht zu erkennen, es ist selbstverständlich. Oder nicht? Wir meinen auch zu wissen, wenn rational gedacht wird, spielt das Intuitive keine Rolle, wenn etwas bewusst getan wird, wirkt das Unbewusste nicht. Das, was hier am Werk ist, ist ein Modus des Denkens, ein Modus des Entweder-oder, ein Trenn-Zwang, wie Dieter Wuttke ihn nannte. Dieser Modus hat sehr viel mit der historischen Ausprägung der Geschlechterverhältnisse zu tun. Ende des 18. Jahrhunderts war ein neues Welt- und Geschlechterbild entstanden und damit eine neue Geschlechterordnung. Konnotationsketten wie „Geist, männlich, Kultur“ standen in der Bedeutsamkeit weit höher als „Körper, weiblich, Natur“. Eine Wissensordnung entwickelte sich. Selbst die Bedeutung von Wissenschaft und Kunst erfuhr erst damals eine Trennung. Doch die Wirkmächtigkeit dieses Denkens reicht bis in unsere Zeit.
Neuere Forschungen widerlegen nun diese Annahmen der Getrenntheit in vielen Bereichen. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist, wie wesentlich Emotionen für die Ausbildung des Kognitiven sind oder dass an Denkprozessen immer beide Gehirnhälften beteiligt sind, und nicht, wie bisher behauptet, die linke nur für das Rationale, Logische und Analytische zuständig ist und die rechte für alles in Bezug auf Gefühle, Symbole und Intuition Verantwortung trägt. Unschwer sind auch in dieser Ordnung die Geschlechterzuschreibungen erkennbar. Erlauben wir jedoch, diese Verbundenheit wahrzunehmen, finden wir uns in einem Denken im Sowohl-als-auch, einem Denken im Und, das so viel mehr ist als seine Pole. Dieses Denken findet in vielen Bereichen Anwendung – in den Vorstellungen über das Zusammenwirken von Körper und Geist, Globalem und Lokalem und daher weiblich Konnotiertem und männlich Konnotiertem. Komplexität wird in dieser Sichtweise zugelassen. Wie auch bei dem Begriff der Diversität, der Verschiedenheit, der Vielfalt. Dementsprechend sensibilisieren Gender Studies für Kategorien, die in interdependenter, voneinander abhängiger, ineinandergreifender Verbindung stehen, wie z. B. das Geschlecht, das freilich immer mit dem sozialen bzw. kulturellen Milieu, der Nationalität, der Ethnie, der Generation, der sexuellen Orientierung etc. zu denken ist.
Der agentielle Materalismus nach der Philosophin und Physikerin Karen Barad geht von verschränkten, intra-agierenden Zuständen von Natur und Kultur aus. Das „Verstehen der Welt von innen heraus und als Teil von ihr“ steht für eine transdisziplinäre Auseinandersetzung und beschäftigt sich mit der Bedeutung von Praktiken und damit auch mit der Frage, wie Wissen produziert wird. Wissen und Sein erscheinen ihr als nicht trennbar, das heißt, sie stellt auch diesen Dualismus infrage.
Ein Konzept wie dieses sensibilisiert dafür, eine Haltung einzunehmen, die sowohl WissenschaftlerInnen wie freilich auch KünstlerInnen als SinnproduzentInnen ernst nimmt, und die Verantwortung, die Welt mit und durch das eigene Tun und Denken zu gestalten, bewusst wahrzunehmen.
Was nach diesen Ausführungen wahrscheinlich längst deutlich ist: Gender als Umbrella Term, wie er auch im Kontext der mdw verstanden wird, also unter Einbezug aller Diversitätskategorien und inklusive der Schnittstellen zu den Queer Studies, Trans Studies, Postcolonial Studies, der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftsforschung etc., ist in allen Themen enthalten. Der an der mdw gesetzte Schwerpunkt „Wissenschaft, Kunst und Gender“ ist nicht zuletzt deshalb um einen Dialog der diversen Wissens/Kulturen bemüht. Dialog verstanden als die Kunst gemeinsam zu denken, wie der am MIT (Massachusetts Institute of Technology) im Bereich Organisationsentwicklung tätige William Isaacs es formulierte. Mit anderen Worten bedeutet das ein Sich-Üben im Respekt für die anderen, im Respekt für sich selbst und im Respekt vor den Unterschieden.