Als Verein begann exil.arte vor zehn Jahren mit der Erfassung und Bearbeitung von Nachlässen emigrierter jüdischer Musikschaffender. Als Zentrum ist man nun in den Universitätsbetrieb integriert und will kommende Generationen für dieses kulturelle Erbe begeistern.

Hans Gal
Hans Gál in Mainz, etwa
1930 ©Archiv, Eva Fox-Gál

Der geistige Aderlass, den der Nationalsozialismus zusätzlich zu den Millionen Holocaust-Opfern zu verantworten hat, wird – so gilt es zu hoffen – in der Geschichte wohl einzigartig bleiben. Eine ganze Generation Kulturschaffender war ob ihrer Konfession oder ihrer dem Ideal der Nazis zuwiderlaufenden Auffassung verfemt, vertrieben oder auch ermordet worden. Jene, denen die Emigration gelang, hatten das Glück, dieses Regime und den Zweiten Weltkrieg nicht mit ihrem Leben bezahlen zu müssen. Aber selbst diese Schicksale hatten ihren individuellen Preis.

Abseits familiärer Verluste gehörte dazu etwa auch jener der künstlerischen Heimat. Er wog, ungeachtet der Tatsache, dass viele ihren Beruf, wenngleich unter völlig anderen
Bedingungen, in der Emigration weiter ausübten. Denn es war mehr als eine Zäsur einst vielversprechender Karrieren, wie die Nachkriegsjahre unter Beweis stellen sollten. Im Falle Musikschaffender war die Endgültigkeit des Exodus damals beispielhaft besiegelt worden.

Ihre Werke wurden einfach aus Spielplänen verbannt, mal erachtete man sie als zu konventionell, dann wieder als zu bedeutungslos. Dass man sich damit zeitgleich eines kulturellen Erbes beraubte, das ob seiner Vielfalt weit über die geografischen Grenzen Österreichs und Europas hinaus Anerkennung fand, kümmerte den heimischen Kulturbetrieb wenig bis gar nicht. Dass man damit den Kulturbruch der NS-Zeit nicht überwand, sondernd pflegte und die Zerstörung kultureller Identität de facto fortsetzte, mag den Verantwortlichen nicht bewusst gewesen sein, änderte allerdings nichts am Ergebnis.

Erich Wolfgang Korngold
Erich Wolfgang Korngold, ca. 1909 ©The Korngold Estate
Erich Wolfgang Korngold
Erich Wolfgang Korngold ©The Korngold Estate

Die Aufarbeitung dieses Kapitels setzte hierzulande bedeutend später als in anderen Bereichen der Kunst ein und ist bis heute nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, aus Sicht Gerold Grubers ist „die Auseinandersetzung mit dem Verlust der Polystilistik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die im Idealfall damit einhergehende Rekonstruktion“ eine junge Disziplin. Als Musikwissenschaftler müsse er sich sogar selbst Asche über sein Haupt streuen. In all den Jahren der Forschung zu Arnold Schönberg hatte er andere Komponisten nie wahrgenommen. Ein Versäumnis, dem er sich neben seiner Professur an der mdw als Leiter des Wissenschaftszentrums M. A. E. D. (Music Analysis and Exile Documentation Research Center) sowie als Gründer und Vorsitzender von exil.arte mittlerweile verschrieben hat.

In Michael Haas, Direktor des Jewish Music Institute an der Universität London und erfahrener Plattenproduzent (Polygram, Sony, Universal Music), fand er einen profunden Mitstreiter (exil.arte Senior Researcher). Ende der 1980er Jahre war er als Produzent erstmals mit Vertretern dieser ins Exil vertriebenen Generation in Berührung gekommen. Für Decca stellte er damals eine Liste jener Komponisten zusammen, die bis 1933 am häufigsten aufgeführt worden waren. Darunter Alban Berg, Hans Gál, Ernst Toch oder Egon Wellesz, weiters Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Ernst Krenek, Erich Korngold und Alexander Zemlinsky. Ihre Gemeinsamkeit: Sie alle stammten aus Wien oder hatten hier ihre Ausbildung absolviert.

Der für Produzenten relevante Kernmarkt lag demnach in Österreich. Theoretisch, denn praktisch war die Realität eine andere. Der ORF verweigerte eine Kooperation, Vertriebspartner wiederum eine Übernahme ins Sortiment, dazu beharrten Konzertsäle und Veranstalter auf eine Vorfinanzierung ohne Risiko. In den 1990er Jahren gelangten dann CD-Aufnahmen von Krenek, Schreker, Zemlinsky, Eisler oder Korngold über Polygram in den Handel – überall, mit Ausnahme von Österreich, schildert Haas. Die Resonanz war enden wollend, letztlich auch dann noch, als er als Musik-Kurator des Jüdischen Museums Wien (2002–2010) diese Komponisten auch über Ausstellungen zu bespielen begann.

Orchesterprobe
©Georg Vlaschits, Jonathan Vaughan

Für Gerold Gruber wurde 2006 im Rückblick zu einem Schlüsseljahr. Damals verkündete der von der Kulturmanagerin Primavera Driessen Gruber gegründete Orpheus Trust das Ende seiner Tätigkeit. Zehn Jahre lang hatte man sich dort der systematischen Erforschung und Dokumentation des vertriebenen Musiklebens gewidmet. Am Ende scheiterte es offiziell am „unzureichenden Interesse der öffentlichen Hand“ und „an zu geringer Finanzierung durch die Kulturpolitik“. Die Förderungen hatten sich zuletzt auf 73.000 (Stadt Wien) und 20.000 Euro (Bund) belaufen und sollen jedoch konnte in Summe nur ein Viertel des benötigten Budgets abgedeckt werden. Das über die Jahre von der öffentlichen Hand subventionierte Archiv des Orpheus Trusts wanderte schließlich an die Akademie der Künste nach Berlin ab.

Gerold Gruber
Gerold Gruber ©Julia Wesely

Um den Verbleib der Archivalien in Österreich, insbesondere wichtiger Künstlernachlässe, kämpfte Gerold Gruber vergeblich. Indes nahm sich die Europäische Plattform für vom Nationalsozialismus verfolgte Musik und der damals von ihm gegründete Verein exil.arte des wichtigen Themas an. Das damit verbundene Aufgabenspektrum umfasst nicht nur die Erfassung der weltweit in Archiven, Bibliotheken, Universitäten und Privatsammlungen verstreuten Nachlässe, sondern auch die Koordination und Organisation von künstlerischen und wissenschaftlichen Projekten und Veranstaltungen.

Ein gewaltiges Unterfangen, bestätigt Gruber nach zehn Jahren, zumal „wir als Schnittstelle für Rezeption, Erforschung und Bewahrung der Werke österreichischer Komponisten, Interpreten und Musikforscher fungieren“, nicht nur, aber auch solchen, „die im Dritten Reich als ,entartet‘ galten“. Zu bewältigen sei derlei jedoch nur mit multidisziplinärer und spartenübergreifender Unterstützung.

Walter Arlen
Walter Arlen ©Marko Lipuš

Der Aufbau der öffentlich über die Website abrufbaren internationalen Datenbank künstlerischer Nachlässe schreitet voran, zeitgleich wächst dieser Bestand sukzessive. Manchmal eilt diesem umfassenden Rekonstruktionsprojekt auch der Zufall zu Hilfe: seien es auf Dachböden aufgefundene mit Notenblättern gefüllte Kartons oder auch in Form längst zerstört gewähnter Musikinstrumente. Wie im Falle des Bösendorfer-Flügels, einst im Besitz von Egon und Emmy Wellesz. Er sollte vergangenes Jahr in London versteigert werden und fand seinen Weg dann doch nach Wien.

Das zehnjährige Gründungsjubiläum zelebrierte man nicht nur mit einer Konzertserie und anderen Veranstaltungen, sondern nunmehr als exil.arte-Zentrum mit dem Bezug der neuen Heimstätte im Gebäude der mdw. In den dortigen Ausstellungsräumlichkeiten wird man ab 22. Mai 2017 Einblick in seine bisherige Tätigkeit gewähren. Ein nächster Schritt, um zukünftige Generationen von MusikerInnen und ForscherInnen für dieses Segment zu begeistern und KonzertveranstalterInnen sowie Verlage von seiner Relevanz zu überzeugen.

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