I: Objektivität
Aus dem Feuilleton der überregionalen deutschen Tageszeitung, an dem ich zwanzig Jahre und acht Monate lang das Glück, an manchen Tagen aber gewiss auch das Unglück, hatte mitzuwirken, ist das Wörtchen „ich“ inzwischen fast ganz verschwunden. Grund: Der neue Herausgeber, mehr den objektiven Wissenschaften denn den schönen Künsten verpflichtet, mag es nicht, wenn seine AutorInnen in der ersten Person Singular auftreten. Fakten, Fakten, Fakten! JournalistInnen müssen sachlich bleiben. Gerade dann, wenn „man“ eine Meinung äußert, sollte diese als verallgemeinerbare so fundiert sein und der objektiven Wahrheit so nahekommen, dass „man“ sich anmaßen darf für alle zu sprechen und nicht nur, relativierbar und individuell, für sich.
Nun ist aber in Kunstdingen das Beweisführen eine heikle Sache und in der Gemütsbewegungskunst Musik mit das Schwerste, wenn nicht unmöglich. Es gibt zwar allerhand objektiv Messbares, wie Dauern, Frequenzen, Geschwindigkeiten und so fort, und es gibt längst auch eine ausgefeilte analytische Terminologie, die es gestattet, Musikstücke und -aufführungen zu beschreiben, doch bleibt dies der Sache äußerlich, und als alleiniges musikkritisches Besteck wird diese Terminologie rasch stumpf. „Wir“ kommen Ausdruck und Aussage, Inhalt und Wirkung damit nicht auf die Spur. Robert Schumann, Musikkritiker und Komponist, ging davon aus, dass Töne „höhere Worte“ sind. Er trennte den Kritiker, der dieses wolkige „Höhere“ erahnt und eventuell begreift, vom Rezensenten, der Tondauern und Intervalle sortiert. Schumann schreibt: „Kritiker und Rezensenten sind zweierlei: Jener steht dem Künstler, dieser dem Handwerker näher.“ Er selbst hatte von beidem etwas: war als Kritiker subjektiv und ein Ausbund an Empathie, ein wahrer Florestan, als Rezensent ein Eusebius, ein Ausbund an Besonnenheit.
Der große Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser, der schon zu Lebzeiten so gut wie vergessen war, dergestalt, dass man diesen Verlust erst mit schmerzlicher Wucht bemerkte, als er 2017 starb, schrieb selbstverständlich immer florestanmäßig in der Ich-Form. Andere große Musikkritiker, wie Gerhard Rohde, gestorben 2015, schrieben niemals „ich“, sie bevorzugten das stolze „Wir“. Die Überlebenden sollten, denke ich, die Latte versuchsweise wieder zurücklegen auf Schumann-Höhe: Der Musikkritiker 2018, sofern es ihn noch gibt, ist gut beraten, wenn er, mitten in den Irritationen und Drangsalen der digitalen Revolution, so objektiv wie möglich und so subjektiv wie nötig schreibt. In der Musikjournalisten-Akademie in Heidelberg, wo ich alle Jahre wieder im Frühling den musikkritischen Nachwuchs trainiere, gibt es kein grundsätzliches Ich-Verbot. Auch der Pluralis Majestatis ist erlaubt. Sie sollen schreiben, wie ihnen der Schnabel wuchs. Doch weil das allgemeine Ich-Geplärre auf Twitter und Instagram inzwischen inflationäre Züge angenommen hat, empfehle ich den Stipendiaten, die erste Person Singular eher selten zu verwenden – genauso wie Chili oder sonst ein scharfes Gewürz in der Küche: mit Verstand.
II: Krise und Quote
Joachim Kaiser hatte seiner Autobiografie, die er 2008 diktierte, wie er immer alles diktierte, mit der ihm eigenen, mit einer Prise Polemik gewürzten Grandezza den Titel Ich bin der letzte Mohikaner gegeben. Freilich ging schon der Musikkritiker Paul Bekker in den Zwanzigerjahren davon aus, dass er der letzte seiner Zunft sei. Denn die Musikkritik steckt in einer Krise, seit es sie gibt. Seit Beginn unseres Jahrtausends aber, als die Printmedien durch Abwanderung des Anzeigenmarkts ins Netz ihre ökonomische Basis einbüßten, bröckeln die bewährten Formen bürgerlicher Öffentlichkeit weg, wuchern die neuen Medien ins Blaue, wandeln sich alle journalistischen Verkehrsformen, und ist auch die Krise der Musikkritik jetzt erstmalig eine existenzielle.
Man spricht nicht umsonst heute durchwegs lieber von „Musikjournalismus“. Musikkritik ist dem subsumiert, als eine aussterbende Spezialfertigkeit, die nervt und stört. Kritik an der Musik, dieser zarten, flüchtigen, erinnerungsschwangeren Luftkunst, sei sie nun bezogen auf ein Werk oder die Interpretation und Aufführung eines Werkes, macht ja tatsächlich immer nur Ärger. Es ärgern sich die kritisierten Musiker und deren Agenten. Es ärgern sich die Musikkonsumenten, die sich daran gewöhnt haben, im Konzert Entspannung zu suchen und im Alltag, im Aufzug oder beim Zahnarzt angenehme Ablenkung zu erfahren in Schumanns Träumerei. Es ärgern sich die Streamingdienste, die Symphonien in „Songs“ zerlegt anbieten. Und es ärgern sich Feuilletonchefs und Herausgeber, die sich um die Leser-Quoten sorgen müssen, um der Krise Herr zu werden: Musikkritik braucht als Special-Interest-Thema und diskursive Textform viel mehr teuren Zeilenplatz, bindet jedoch sehr viel weniger Leser ans Blatt als, beispielsweise, ein Bericht über Bitcoin oder Steuererhöhungen oder Angelina Jolies Brustoperation. Themen wie letztere gehören heute zum erweiterten Kulturbegriff. Musikkritik ist die Auseinandersetzung mit einer Kunstform – die Äußerung einer subjektiven Meinung dazu, mit Erläuterung der objektiven Gründe, auf der Grundlage eines kritischen Bewusstseins womöglich, welches auf Repertoirekenntnis, einen musikhistorischen Horizont und musikpraktischer Erfahrung gründet, die Anregung und Herausforderung, sich mit etwas Neuem, Erlebten, Gehörten bekannt zu machen – aber dieses Gesamtpaket wird von einem Musikjournalisten heutzutage nicht mehr erwartet. Er wäre damit auch hoffnungslos überqualifiziert.
Vor sechs Jahren brachte die Österreichische Musikzeitschrift ein Sonderheft mit dem Titel Musikkritik – ein Anachronismus? heraus. 2013 hakte die Zeitschrift Musik & Ästhetik nochmals nach: „Schafft sich die Musikkritik selbst ab?“ Cornelius Hell von der Zeitschrift Quart, der sich dieselbe Frage gestellt und inzwischen längst beantwortet hatte, stellte indes in rückblickendem Perfekt und im Tonfall von Es war einmal… fest: „Argumente und Kriterien waren das Herzstück der Kritik. Die Musikkritik haben wir als erste verloren, sie beschränkt sich heute in der Regel auf Opern.“
III: Lob und Verriss
Hell hat leider Recht. Nur in den Opernkritiken, auch wenn sie kürzer geworden sind, wird heute wirklich noch kritisiert. Mitunter heftig. Freilich geht es bei diesem Diskurs weniger ums Musikalische, eher um die Bilder, die Regie, die Statisten. In allen anderen Sparten der Musikkritik aber gibt es kaum noch Verrisse im klassischen Sinne, die meinen, von etwas Misslungenem berichten zu müssen, die argumentieren und kritisieren, die Gründe nennen, um von etwas abzuraten. Stattdessen wird heute rund um die Uhr und auf allen Kanälen, in den Blogs und im Radio, in den Zeitungen und Fachmagazinen, hauptsächlich nur noch zugeraten. Die Aufgabe eines Musikjournalisten anno 2018, im Zeitalter der digitalen Umwandlung der Informationsgesellschaft, im Dienste der Quote, unter der Knute der Krise, ist es, kriterienfrei zu empfehlen, zu moderieren, zu werben, zu vermitteln, zu interviewen, zu präsentieren, voranzukündigen, anzupreisen und zu Medienpartnerschaften Rankings und Tipps zu geben. Loben! Loben! Loben! Ich wundere mich immer wieder, dass dieses redundante Dauergejubel über alles oder auch nichts niemandem langweilig wird. Wenn wirklich alles so toll ist! Alles so fraglos frisch! So noch nie dagewesen! Wenn all die jungen CellistInnen oder SopranistInnen so egalweg gleich tadellos und erstklassig sind und so authentisch, warum sollte ich mir den oder die überhaupt noch anhören?
Der Beruf des Musikkritikers, so, wie ich ihn seit bald vierzig Jahren ausübe, teils, wie die überwiegende Mehrheit meiner KollegInnen, als Freelancerin, teils in Festanstellung, bringt viele Freuden mit sich, aber auch einige Entbehrungen. Drei Stunden Schlaf müssen in der Regel reichen. Wochenende oder Urlaub sind Fremdwörter. Für einen Text, der in etwa so lang ist, wie der Text, den Sie gerade lesen, sind in etwa sechs bis acht Stunden reine Schreibzeit nötig, bei einem durchschnittlichen Stundenlohn von elf Euro brutto, Recherche und Vorbereitungszeit nicht mitgerechnet. Leben kann man davon nicht. Gesund ist das auch nicht. Auch kenne ich keinen Musikkritiker, der vom Kritikenschreiben reich geworden ist. Dazu kommt: MusikkritikerInnen sind professionelle ZuhörerInnen, die für andere aufschreiben, was sie gehört haben, was nicht immer gelingt. Und auch Musikkritiker können sich irren. Aber sie sind Abend für Abend live dabei, jedes lebendige Musikereignis ist neu und anders, voller Widersprüche. Und das ist unser großes Glück.
Eleonore Büning
ist Musikkritikerin und schrieb u.a. für die Berliner taz, Die Weltwoche in Zürich, Die Zeit, Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.