Georg Nussbaumer und Hunderte von Studierenden realisieren am 17. 11. 2018 am mdw-Campus eine begehbare Symphonie für Wien Modern
„Entschuldigung, wie kommt man hier zur Staatsoper?“ – „Üben, üben, üben!“ Dieser klassische Witz beschwört sofort eine vertraute Hörsituation herauf: Aus allen Zimmern des mdw-Campus kommen Übegeräusche und Vorspielklänge, wild durcheinander, von nah und fern. Irgendwo wird eine Geige gestimmt, ein paar perlende Tonleitern, hier irgendeine leicht verrutschte Etüdenpassage, gleich noch mal besser. Dort ganz klar und deutlich ein paar wohlbekannte Akkordketten aus der Waldsteinsonate, von oben weht ein ebenso bekannter Fetzen aus dem Mozart-Klarinettenkonzert herunter, das da könnte doch Paul Hindemith sein, das barocke ist vielleicht Georg Philipp Telemann oder so, der Tango dort drüben, das muss Astor Piazzolla sein, jetzt ganz leise etwas von vielleicht Johann Sebastian Bach, eine smooth nach Bill Evans klingende Big Band lässt kurz den Wunsch nach einem kühlen Getränk aufkommen, nun singt irgendjemand „I feel those moments of ecstasy“, irgendwo völlig unvermittelt ein lauter Trommelwirbel, irgendwas vollkommen Schräges, ganz kurz ein sphärisch schwebendes Dmitri Schostakowitsch-Streichquartett, dazwischen ein Kinderchor, seit einer ganzen Weile schon ein hartnäckiges funky Gitarrenriff, und an welche russische Komponistin erinnern diese spooky Harfenklänge gleich noch mal?
Was wäre, wenn eine unsichtbare Hand dieses über einen riesigen Gebäudekomplex verteilte, vollkommen bunt zusammengewürfelte Orchester dirigieren würde? Wenn plötzlich, wie mit einem magischen Fingerschnippen, alle auf einmal Tonleitern spielen würden oder etwas in C-Dur? Oder wenn alle gleichzeitig aufhören oder anfangen würden? Kann man eigentlich alle Klaviere der mdw in einen Raum quetschen und gleichzeitig spielen? Könnte jemand einmal alle Türen aufmachen bitte, damit die wilde Mischung etwas stärker umgerührt wird? Wie kann man hier die Farben noch bunter machen und den Kontrast auf Maximum drehen? Und hätte die mdw nicht noch irgendwo ein paar Orchester, die man noch mit dazunehmen könnte?
Video-Rückblick der Veranstaltung:
Dass er mit den vielen seltsamen Fragen, wie sie sich Kinder gerne stellen, irgendwann einmal aufgehört hätte, kann man Georg Nussbaumer ganz sicher nicht zum Vorwurf machen. Der in Wien lebende Komponist, 1964 in Linz geboren (nebenbei bemerkt: der Stadt der Klangwolke), lässt seine Musik aus wirklich Allem entstehen: Eine Mozartkugel schmilzt im Mund einer Sängerin. Ein Konzertflügel wird mit einer Art Presslufthammer an seinen drei Beinen feierlich ratternd durch einen Schlosspark geschoben. Ein Tristan als Apnoe-Taucher schwimmt mitten im Foyer der Philharmonie Luxembourg ganz unten in einem Plexiglas-Tank und wird von Isolde vom durchsichtigen Beckenrand aus angesungen. In einem seiner Stücke schwimmt ein Cello wie ein Schwan über das Wasser, in einem anderen wiederum hängt das Cello an der Wand und wird wie der Heilige Sebastian immer wieder von Pfeilen durchbohrt (Bogenübung). Bei Wien Modern hat er 2016 unter den grimmigen Blicken des Beethoven-Denkmals im Wiener Konzerthaus einen Konzertflügel mitsamt Schuberts Winterreise unter einem meterhohen Eisberg begraben. Beim Steirischen Herbst hat er einen wirklichen weststeirischen Wasserfall in sein Instrumentarium aufgenommen, bei den Donaueschinger Musiktagen ein Möbelhaus zum Konzertsaal gemacht und Richard Wagner in eine Wassertonne versenkt – der Ring des Nibelungen war parallel zu Nussbaumers genau gleich langer Konzertinstallation nur mit eingetauchtem Kopf zu hören, was durchaus einigen Festivalbesucher_innen die Frisur durcheinanderbrachte.
Im Durcheinanderbringen ist Georg Nussbaumer Meister: Mit bewundernswert unerschöpflicher Fantasie, hintergründigem Humor und überbordenden Verweisen auf die gesamte Hoch- und Tiefkultur baut er seine Stücke genau so, dass selbst alte Bekannte der Musikgeschichte plötzlich mit zerzausten Haaren und einem Lächeln im Gesicht ganz unerwartet neu um die Ecke biegen. Mozart, Beethoven, Schubert, mittelalterliche Neumennotation und immer wieder Richard Wagner mit der Gesamtbevölkerung seines Opernuniversums – sie alle tauchen immer wieder in Nussbaumers Aktionen, Installationen und Stücken auf und unter.
Für den Atlas der gesamten Musik und aller angrenzenden Gebiete, eine „begehbare Symphonie mit Hunderten von Mitwirkenden in 85 Räumen“, komponiert Georg Nussbaumer eine dreieinhalb Stunden dauernde Bespielung des mdw-Campus. Die Uraufführung findet am 17. November 2018 im Rahmen des Festivals Wien Modern statt. Alle am Anfang des Texts genannten Stücke werden übrigens tatsächlich vorkommen, dazu Hunderte weitere, die von Studierenden, Ensembles der mdw und kooperierenden Musikschulen eingereicht wurden. Teil der Melange sind, zumindest als Inspiration und Vorgeschichte, neben der gesamten Wiener Klassik auch die zähesten unter den Mahler-Symphonien, Händels Wassermusik, die Polytope von Iannis Xenakis sowie Musicircus und A House Full of Music des Avantgarde-Pioniers John Cage. Hunderte von Mitwirkenden in zahllosen Kammern, Gängen und Sälen laden einen Samstagnachmittag lang zum Verweilen, Durchstreifen, Sich-Verlieren und Sich-Verhören ein. Die Fülle des zu Entdeckenden reicht von der Klavierhölle (plausibler Arbeitstitel) bis zu Orten der Stille, von kilometerlangen Trillerketten bis zu mehrere Stockwerke miteinander verbindenden Tonleitern, vom ganz normalen Übewahnsinn des Musikalltags in streng aufbereiteter Form bis zu poetischen Rückzugsmöglichkeiten in den unbekannten Tiefen des verwinkelten Musikgebäudekomplexes am Anton-von-Webern-Platz. Der Eintritt ist selbstverständlich frei, entsprechendes Kartenmaterial wird zwecks besserer Orientierung beigestellt.
Georg Nussbaumer: Atlas der gesamten Musik und aller angrenzenden Gebiete. Eine begehbare Symphonie mit Hunderten von Mitwirkenden in 85 Räumen (2017–2018 UA)
Produktion und Kompositionsauftrag Wien Modern und mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
The mdw bei Wien Modern
28. 10. “Bibliosphäre”
Marino Formenti und zahlreiche Studierende verwandeln die Bibliothek acht Stunden lang in einen Jahrhunderte umspannenden Hörraum
31. 10.–12. 11. “mdw Rahmenhandlung”
Symposium, Gespräche und gelegentliches Plattenauflegen rund um ausgewählte Veranstaltungen des Festivals
9. 11. “mdw Scratch Orchestra”
Gunter Schneider begibt sich mit Studierenden auf die Spuren des legendären Londoner Improvisationsensembles der 1968er
17. 11. Atlas der gesamten Musik und aller angrenzenden Gebiete
Georg Nussbaumer bespielt mit Hunderten von Mitwirkenden dreieinhalb Stunden lang den mdw-Campus (siehe Text)
27. 11. “Harakiri”
Das Webern Ensemble Wien und Jean-Bernard Matter präsentieren im Odeon radikale Musik aus den wilden 1960er- und 1970er-Jahren