Intersektionale Perspektiven auf Musik, Geschlecht und Sexualität
Die Ethnomusikologie beschäftigt sich oft mit Musik und Tanz jener Menschen, die als „anders“ wahrgenommen werden. Dafür muss allerdings nicht in entlegene Weltgegenden gereist werden – auch in Wien existieren unterschiedlichste Musikkulturen nebeneinander. Am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie (IVE) der mdw hat die Beschäftigung mit Musik migrantischer Communities im Rahmen des Minderheitenschwerpunkts eine lange Tradition. Migrantische Gruppen sind häufig struktureller und individueller Diskriminierung ausgesetzt – die Bedeutung der „eigenen“ Musik ist in diesem Kontext gesellschaftlicher Marginalisierung signifikant. Eine sich seit den Migrationen des Sommers 2015 neu formierende diasporische Gruppe in Österreich sind Afghan_innen, die mit nahezu 50.000 Menschen – darunter mehrheitlich junge männliche Geflüchtete – die größte asiatische Community des Landes bilden. Den musikalischen und tänzerischen Szenarien dieser Gruppe widmet sich ein seit 2016 laufendes Forschungsprojekt am IVE.1
Der Aufenthaltsstatus vieler afghanischer Geflüchteter in Österreich ist ungeklärt, ihre Zukunft ungewiss – die Zahl negativer Asylbescheide und Abschiebungen nimmt zu. Zur politischen Unterdrückung gesellen sich individuelle Diskriminierung im Alltag sowie eine mediale Berichterstattung, die seit Jahren erfolgreich das Bild des jungen, potenziell gewalttätigen, sexuell übergriffigen jungen muslimischen Mannes zeichnet. Geschlecht und Sexualität scheinen in der europäischen Debatte um Flucht und „Anderssein“ zentrale Positionen einzunehmen. Konservative migrationsfeindliche Stimmen in Politik und Medien machen sich plötzlich für Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Freiheit stark und erklären die „abweichenden“ Geschlechter- und Sexualitätskonzepte zum Nachweis für unüberbrückbare kulturelle Unterschiede und „Rückständigkeit“. Ethnosexismus nennt Gabriele Dietze diese „Kulturalisierung von Geschlecht, die ethnisch Markierte aufgrund ihrer Position in einer angeblich problematischen oder ‚rückständigen‘ Sexualität oder Sexualordnung diskriminiert“ (Dietze 2016: 178).
Für dieses Zusammentreffen von Migration und Diaspora mit Geschlecht und Sexualität sind Musik und Tanz ein besonders aufschlussreiches Analysefeld, in das im Fall afghanischer Geflüchteter auch soziale Kategorien, wie Ethnizität, Nationalität respektive Aufenthaltsstatus, Alter, Bildung und Klasse hineinwirken. Ein detaillierter Blick auf das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ungleichheitsdimensionen – in der Geschlechterforschung Intersektionalität genannt – ermöglicht nicht nur das Aufzeigen von Mehrfachdiskriminierungs- und Marginalisierungsprozessen, er hilft auch, die mannigfaltigen Einflussgrößen auf die gruppeneigenen Konzeptualisierungen von Geschlecht und Sexualität nachvollziehbar zu machen, die sich in Musik und Tanz deutlich abbilden.
In den letzten 40 Jahren herrschten in Afghanistan aufeinanderfolgende Kriege, die sich auch auf Geschlechter- und Sexualitätspolitiken sowie den Status von Musik und Tanz auswirkten und weiterhin auswirken. Insbesondere die Taliban-Ära bedeutete einen absoluten Einschnitt in die gesellschaftlichen Möglichkeiten von Mädchen und Frauen. Außerfamiliärer Kontakt zwischen Männern und Frauen wurde nahezu unmöglich. Die Taliban erließen auch ein Musikverbot, Musikinstrumente und -kassetten wurden öffentlich verbrannt und Tanzen sowie Musikmachen und -hören mit Strafen geahndet (vgl. Baily 2017). Auch nach Ende der Taliban-Herrschaft wirkt deren repressive Politik in Form von gesellschaftlichen Konventionen fort, gegen die aber – vor allem in der Musik – Widerstand geleistet wird.
Beispielsweise erhebt die afghanische Popdiva Aryana Sayeed ihre Stimme für Geschlechtergerechtigkeit und fordert damit erfolgreich konservative Positionen in Afghanistan heraus. In ihren Liedern verhandelt sie Themen wie Gewalt an Frauen, patriarchale Unterdrückung und die Disziplinierung von Frauenkörpern, in ihren Musikvideos und Bühnenshows stellt sie als tanzende Frau sexuelle Moralvorstellungen infrage, ihre Outfits widersetzen sich den herrschenden Kleidungskonventionen. Dies führt durchaus zu Kontroversen: Afghanische Geistliche verurteilen ihr „sündhaftes“ Auftreten, sie wird zum Ziel politisch motivierter Anschläge, Konzerte in Afghanistan müssen immer wieder aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. Gerade damit regt sie allerdings die Debatte zu Frauenrechten im Land wirksam an. Dass Aryana Sayeed soziale Konventionen derart herausfordern kann, hängt nicht zuletzt mit ihrer Biografie zusammen. Sie ist als Kind über Pakistan in die Schweiz geflüchtet und lebt und arbeitet jetzt von London aus. Als Künstlerin der Diaspora beeinflusst sie maßgeblich das musikalische Geschehen Afghanistans – bezeichnend für die afghanische Musikszene, die ohne ihr globales diasporisches Netzwerk um einiges ärmer wäre.
Stars wie Aryana Sayeed geben regelmäßig Konzerte in den Zentren der diasporischen Communitys des globalen Nordens, zu denen nun auch Wien gehört. Das Angebot ist reich: Konzerte der Superstars, Performances von lokalen Musiker_innen, private Feiern, Hochzeiten. Besonders wichtig ist dabei das Tanzen, das eine Möglichkeit der kollektiven körperlichen Ausverhandlung von diasporischer Identität bietet – ein positiv besetztes „Afghanisch-Sein“ abseits des anti-muslimischen Rassismus in Medien und Politik. Da gemischtgeschlechtliches Tanzen als sexualmoralisches Tabu gilt, ist gleichgeschlechtliches Tanzen die soziale Norm, genauer gesagt, gleichgeschlechtliches Tanzen unter Männern. Das zeigt – ebenso wie die charakteristischen kunstfertigen Körperbewegungen der tanzenden Männer – die enge Verwobenheit von Tanz, Geschlechtervorstellungen und kulturellen Traditionen. Dabei treten auch alternative Konzepte von Männlichkeit zum Vorschein.
Für afghanische Frauen allerdings ist es in Österreich nicht einfach, unbeschwert bei öffentlichen Veranstaltungen zu tanzen – ein Problem, dessen sich Sonja Latifi angenommen hat. Die Österreicherin, die im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern von Kabul nach Wien flüchten musste, möchte Frauen die Möglichkeit geben, Musik und Tanz ohne die Gefahr sozialer Ächtung genießen zu können. Sie achtet bei ihren Veranstaltungen penibel darauf, dass keine Fotos und Videos von Besucherinnen über Social-Media-Kanäle den Konzertsaal verlassen, um ihren Gästinnen kompromittierende Situationen zu ersparen. Über das erste Konzert ihrer Eventagentur „Khatera Event“ erzählt sie: „Ich habe wirklich gesehen, wie die Frauen sich freuen. Als sie sich bei mir nach dem Konzert bedankt haben, mich umarmt haben, sind ihnen die Tränen gekommen.“ Ihr eigener Emanzipationsprozess inspirierte sie zu ihrem Engagement im Empowerment afghanischer Frauen: „Ich möchte den Frauen helfen. Ich möchte ermöglichen, dass sich Frauen weiterentwickeln, weiterbilden können, dass sie sich mehr trauen.“ Sonja Latifis längerfristige Vision ist es, dass sich diese sozialen Neuerungen normalisieren und nicht zuletzt, dass Menschen miteinander tanzen können – unabhängig von Geschlecht oder Herkunft.
Literatur:
Dietze, Gabriele. 2018. „Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Sylvesternacht“, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 2/1 (2016), S. 177–185, http://movements-journal.org/issues/03.rassismus/10.dietze–ethnosexismus.html (Zugriffsdatum: 1. Juli 2018).
Baily, John 2017. War, Exile and the Music of Afghanistan. The Ethnographer’s Tale, New York: Routledge.
Fußnoten