Kurzbericht eines dreimonatigen Aufenthalts (Dezember 2018 bis März 2019) in Tamil Nadu/Südindien im Rahmen eines Stipendiums des Residency Programme for Artistic Research and Arts-based-Philosophy von baseCollective (Susanne Valerie Granzer und Arno Böhler).
Ein Abend Anfang Dezember 2018: gemeinsames Treffen am Flughafen Wien nach vorangegangenem Austausch und Vorbereitungen. Man lernt die kleine Runde der Stipendiat_innen und die baseCollective-Gründer Susanne Granzer und Arno Böhler näher kennen. Das Gefühl einer gleichgesinnten und dennoch sympathisch diversen Gruppe macht sich breit: Start in ein kleines und wohl organisiertes Abenteuer.
Frühmorgens, nach pinkfarbenem Sonnenaufgang, werden wir im bemerkenswert ruhigen, mit Teppichboden ausgelegten Flughafen von Delhi weiter zu unserem Anschlussflug südöstlich nach Chennai weitergeleitet. Die letzte Strecke Richtung Pondicherry legen wir mit einem kleinen Bus durch das Gewühle und Strömen des indischen Verkehrs zurück.
Die Unterbringung in unserem Retreat „Adishakti“ mit geschmackvollen Ziegelhäusern, einem gepflegten Garten und einem integrierten Theater erweist sich als ideal für unsere Zusammenkünfte, Proben und Aufführungen. Tatsächlich rankt sich dort Pfeffer auf Kokospalmen, Bananenbäume und unzählige blütenprächtige Pflanzen spenden Schatten.
Wir befinden uns in Tamil Nadu, im Südosten des Kontinents, einem fruchtbaren flachen Land mit roter Erde und Tamil, einer der ältesten Sprachen der Welt, in der Nähe der „universellen Stadt“ Auroville, auf Straßen mit ohrenbetäubendem Gehupe und Lärm. Kühe, Fußgänger_innen, Hunde, Fahrräder, Mopeds, kleine Autorikschas oder protzige „Ambassador“-Autos bewegen sich in beeindruckend ungeregelter Polyphonie.
„Love Matters…“ ist das gestellte Thema des baseCollective, es führt uns zur Lektüre der Philosophen Abhinavagupta und Alain Badiou sowie des persischen Dichters Rumi. Diese sehr unterschiedlichen Texte werden zum Teil in der Gruppe gelesen und diskutiert, kleine „Symposien“ mit spannungsreichen, fruchtbaren Auseinandersetzungen, dazwischen werden heißer Tee und Kaffee serviert.
Aus diesen Diskussionen gespeist steht am Ende unseres Aufenthalts eine „Field Performance“ mit Beiträgen aller Stipendiat_innen. Aus Texten, Videos, Gedichten und Kompositionen, die vor Ort entstehen, wird ein dramaturgischer Ablauf gestaltet. Kein leichtes Unterfangen, eine Juxtaposition aus unterschiedlichen künstlerischen wie wissenschaftlichen Zugängen eröffnet unerwartete Bedeutungen und Lesarten.
Das „postkoloniale Erbe“ Indiens wird oft in den Mund genommen, ist allgegenwärtig. Es lohnt eine Auseinandersetzung mit Sri Aurobindo, einer wichtigen Persönlichkeit für die nationale Idee und Unabhängigkeit des Landes. Er lebte bis in die 1950er-Jahre im nahe gelegenen Pondicherry und gründete dort einen Aschram.
Wie kann unser interkultureller Austausch in einem Land gelingen, welches durch extreme soziale Gegensätze und ein noch wirksames Kastensystem gekennzeichnet ist? Was kann man unmittelbar von der südindischen Kultur begreifen, abseits eines touristischen Verhaltens – kann man sich überhaupt auf Augenhöhe begegnen?
Neben unseren internen Gesprächen gelingt mir eine offene Begegnung am ehesten im Gehen und Beobachten, beim Aufnehmen von Field Recordings, in der direkten Ansprache mit fast immer neugierigen Einheimischen und beim Benützen der öffentlichen Busse und des Zugs. Vor allem der Austausch mit unseren indischen Stipendiatinnen Kanya und Savita, unsere morgendlichen Yogastunden mit Arno und die Diskussionen mit eingeladenen indischen Gästen aus Kunst und Wissenschaft ermöglichen eine Annäherung an die indische Kultur.
Zu den beeindruckendsten Erlebnissen zählen für mich die Reisen zu den riesigen Tempelanlagen in Tiruvannamalai und Thanjavur, im 11. Jahrhundert von Hochkulturen erbaut, die mir bislang unbekannt waren. Eine weitere Reise nach Cochin in das benachbarte Kerala zur Kunstbiennale zeigt uns das ungeheure Potenzial der zeitgenössischen indischen Kunstszene.
In Pondicherry machen wir auch die Sängerin Lakshmi Santra ausfindig, meine Kollegin Angela und ich nehmen bei ihr regelmäßig Gesangsunterricht in nordindischem Gesang – eine grundlegende musikalische Erfahrung. Das Studium der indischen Musikkultur zeigt mir u. a. die Verwandtschaft der Kirchentonarten mit den indischen Thaats auf, und dass die europäische Musikkultur zu einem guten Teil auf indischer Theorie fußt. Diese ist hierzulande noch kaum berücksichtigt oder integriert, die eurozentrierte Betrachtung und Bewertung von (Musik-)Kultur wird deutlich. Wäre ein Lehrstuhl für indische Musik in Wien nicht enorm bereichernd?
Viele Aspekte müssen in diesem kurzen Bericht unerwähnt bleiben, insgesamt war es ein Geschenk, sich international austauschen und in eine fremde Kultur eintauchen zu können, für eine Zeit dem Alltag zu entrinnen. Ein gehaltvoller Aufenthalt mit langem Nachhall und bleibenden internationalen Verbindungen. Mein Dank gilt den Sponsoren, dem baseCollective und meinen Mit-Stipendiat_innen.
Kooperationspartner:
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Universität für angewandte Kunst Wien, baseCollective, Österreichisches Außenministerium
Stipendiat_innen:
Lisz Hirn, AT
Philosophin/Publizistin/Vokalistin
Kanya Kachana, IN
Lyrikerin/Forscherin/Yogalehrerin
Jessica Kaiser, DE/AT
Musikerin
Katharina Klement, AT
Komponistin/Musikerin
Kijan Korjenic, BIH/AT
Philosoph
Ivan Pantelic, SRB/AT
Theaterregisseur/Studien in Social Design/Musiker
Savita Rani, IN
Schauspielerin/Performerin
Mersolis Schöne, D/AT
Filmemacher/Kommunikationspsychologe/Philosoph
Extern:
Angela Akbari, AT
Kunsthistorikerin
Weiterführende Infos unter: