Beethovens Werke gelten als musikalische Meilensteine – für Komponist_innen, Interpret_innen und Hörer_innen gleichermaßen. Seine neun Symphonien lösten im 19. Jahrhundert eine „Krise der Symphonik“ (Carl Dahlhaus) aus, deren Druck noch Brahms, Bruckner und Mahler auf ihren Schultern verspürten. Die 32 Sonaten bezeichnete bereits Hans von Bülow als das „Neue Testament“ der Klavierliteratur. Und das bisweilen sehr dissonante, schründige „Spätwerk“, besonders die späten Streichquartette, fordert selbst noch Ohren des 21. Jahrhunderts heraus.
Das Neue, Unerwartete, Exzentrische in Beethovens Werken war bereits zu seinen Lebzeiten ein Garant für Erfolg – was sich eindrucksvoll in den erschienenen Rezensionen spiegelt: Die am häufigsten verwendeten Adjektive lauten dort „unverständlich“ und „bizarr“ – und zwar von den frühen Kompositionen bis hin zu den späten. Beethoven haftete in Wien das Image des „jungen Wilden“ an, und die tonangebende Society, darunter viele Adelige, liebten und schätzten diesen Zug. – Was für ein Kontrast zur heutigen Wahrnehmung von Beethoven als Klassiker, der modellhafte Kunstwerke schuf!
In der Musikgeschichtsschreibung wird Beethoven mit Vorliebe als erster Komponist porträtiert, der als Genie in Wien aus seinem Inneren schöpfte und von der Vermarktung seiner Werke ohne festes (kirchliches oder höfisches) Dienstverhältnis leben konnte. Man kann das so sehen. Aber es tradiert eigentlich ein der Genieästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtetes Bild, das sich verfestigt hat, aber allenfalls zum Teil Beethovens komplexer Lebenswirklichkeit entspricht. Im Folgenden möchte ich daher dieses Bild an drei Beispielen entlang der Erkenntnisse der jüngeren Beethoven-Forschung modifizieren:
I. Der Hofmusiker (einst: freier Komponist)
Beethoven wurde als Enkel eines Hofkapellmeisters und Sohn eines Hofmusikers an der Hofkapelle der Kölner Kurfürsten in Bonn musikalisch umfassend ausgebildet. Bereits mit elf Jahren wirkte er als Organist regelmäßig in der Hofkapelle bei der Kirchenmusik mit, bald darauf auch als Bratscher in der Oper und als Pianist und Improvisator in der höfischen Kammer und bei Hofkonzerten. (Dass diese Lebensphase in der Musikgeschichtsschreibung kaum je ernsthaft behandelt wird, ist ein auffallendes Rezeptionsphänomen.) Diese höfisch-musikalische Sozialisation bildete die Basis für Beethovens späteres Schaffen: Er lernte an dem musikliebenden Hof das aktuelle internationale Repertoire kennen, musizierte täglich mit anderen hervorragenden Hofmusikern (etwa Anton Reicha oder den Brüdern Romberg) auf Weltniveau und lernte dabei, die erwünschten Funktionen und Rahmenbedingungen von Musik sowie die damit verbundenen Erwartungshaltungen einzuschätzen. Wie wir heute wissen, wäre für ihn eine Anstellung als Hofkapellmeister sogar noch in weit fortgeschrittenem Alter erstrebenswert gewesen
II. Der kommunikative Netzwerker (einst: einsames Genie)
Verschiedene Persönlichkeiten vom Bonner Hof hatten dafür gesorgt, dass Beethoven nach seiner Ankunft an seinem neuen Ausbildungsort Wien Eingang in die tonangebenden Adelskreise finden würde. Beethoven bemühte sich sehr, die entsprechenden Erwartungen auch zu erfüllen – nicht zuletzt gab er sein weniges Geld auch für Perückenmacher und aktuelle Mode aus. Zunächst machte er sich als Pianist und Improvisator einen Namen. Er wohnte im Hause des Fürsten-Ehepaars Lichnowsky und wirkte dort an den wöchentlichen Konzerten mit. Nach und nach etablierte er sich auch als Komponist und trat (erst) im Jahr 1795 mit seinem Opus 1 – drei Klaviertrios – werbewirksam auf den Plan. Auch in seinen Kompositionen spiegelt sich vielfach die Verwobenheit mit der Gesellschaft seiner Zeit wider: Viele seiner Werke sind auf bestimmte Situationen oder Personen maßgeschneidert, wofür nicht selten die Widmung des Erstdrucks einen Anhaltspunkt liefert
III. Werke mit immenser Ausdrucksbreite (einst: heroisch hoch drei)
Beethoven war eine komplexe Persönlichkeit mit vielen Interessen und Kontakten. Die nach seiner Ertaubung, in den letzten zehn Lebensjahren geführten Konversationshefte ermöglichen einen Einblick in die Vielfalt an Themen aus Politik, Musik, Theater, Gesellschaft, Glaube und Kirche, Bildung und Philosophie, die die Zeitgenoss_innen mit Beethoven diskutierten. Wenn man ihn als so vielfältig interessierten, humorvollen, manchmal auch brüsken, aber oft sehr empathischen Menschen erlebt, lässt sich auch die große Bandbreite an Gefühlen besser verstehen, die seine Musik auszudrücken vermag: Seine Musik ist kommunikatives Medium und keineswegs – wie so häufig konstatiert – nur autobiografischer Spiegel seines Inneren. Nachdem in der Rezeption (biografisch wie musikalisch) so lange das Heroische im Mittelpunkt stand, unsere heutige Gesellschaft aber mit diesem Begriff gar nicht mehr so viel verbindet, scheint es an der Zeit, sich beim Spielen und Hören von Beethovens Werken wieder für die Spannweite an Gefühlen und Ideen zu öffnen, die seine Musik kommuniziert. Das große, bisweilen auf engstem Raum fast disruptiv wirkende Ausdrucksspektrum vermag gerade in der heutigen Zeit zu fesseln und braucht weniger denn je unter dem Nimbus des „Klassischen“ versteckt zu werden. Besonders faszinierend für mich sind dabei Passagen, die das Innige, Zeitlose, Verlorene, Jenseitige oder Utopische zu verkörpern scheinen. Dieser „leise“ Beethoven scheint mir bis heute noch viel zu wenig entdeckt.
Für das Jubiläumsjahr 2020 wünsche ich mir, dass wir die vielen Aktivitäten rund um Beethoven als Chance begreifen, Beethovens Œuvre nicht nur als klassischen Kanon perpetuiert zu wissen, sondern uns wieder auf das Querständige, einst als „bizarr“ Empfundene, darin einzulassen. Das erfordert Mut. Es gilt, selten gespielte Werke neu zu entdecken, einzustudieren und in passenden Kontexten aufzuführen – und die Hörer_innen auf diese Entdeckungsreisen mitzunehmen. Und es gilt, sich den allzu vertrauten Werken mit frischem Geist zu nähern. Wagen wir dies, wird uns Beethovens Musik immer wieder Wege zu bislang unentdeckten Ausdruckswelten eröffnen.