Wilfried Aigner im Gespräch
Wilfried Aigner, Senior Scientist am Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren, spricht über den Stellenwert musikalischer Bildung, über Lobbying-Arbeit für den Kunstbereich und den Musikunterricht in Krisenzeiten und darüber hinaus.
Was war Ihre erste Reaktion, als Bildungsminister Heinz Faßmann erklärt hat, den Musikunterricht an den österreichischen Schulen für das verbleibende Schuljahr auszusetzen?
Wilfried Aigner (WA): Im ersten Moment war das ja gar nicht so klar, weil der Musikunterricht in der besagten Pressekonferenz nicht explizit erwähnt wurde, sondern nur der Sportunterricht. Das Aussetzen der Musikstunden war erst in der schriftlichen Erklärung bzw. im Etappenplan des Ministeriums dezidiert nachzulesen. Es ist schon bezeichnend, dass diese Ankündigung so nebenbei passiert ist. Das schmerzhafte Gefühl einer mangelnden Wertschätzung musikalischer Bildung war natürlich als Erstes präsent. Und es kamen dann sehr schnell ungläubige bis entsetzte Reaktionen von ganz vielen Seiten, von Kolleg_innen und Mentor_innen aus der Schulpraxis, aber auch von Studierenden. Die offenkundig dahinterstehende Idee des „Freimachens“ zeitlicher, personeller und räumlicher Ressourcen durch den Wegfall von Musik und Sport offenbart eine Orientierung an einem rein kognitiven Verständnis von Lehr- und Lernprozessen, das jeglicher bildungswissenschaftlicher Evidenz widerspricht und dem der Blick auf das größere Ganze jenseits von Schuljahresabschlüssen und Zeugnisausstellungen zu fehlen scheint – aber genau einen solchen Blick bräuchte es angesichts dieser noch nie dagewesenen Krise.
Diese Entscheidung hatte also kaum mit einem tatsächlichen Gefährdungsrisiko zu tun?
WA: Die nüchterne Erkenntnis ist, dass derartige politische Entscheidungen – die in der Komplexität der Zusammenhänge zweifellos extrem schwierig zu treffen sind – kaum auf Fachexpertise beruhen, sondern nach Botschaften suchen, die der Öffentlichkeit einfach zu vermitteln sind. Ein Teil der Bevölkerung verlangt die Öffnung der Schulen, ein anderer Teil ist aus Angst vor Infektionsgefahr dagegen – also öffnet man die Schulen, verbietet aber gleichzeitig Dinge, die klischeehaft als virologisch gefährlich erscheinen, also etwa „sich schwitzend um einen Ball rangeln“ und „lauthals singen“. Solche Schematisierungen sind grobe Verkürzungen tatsächlicher Gegebenheiten: Niemand bestreitet, dass das Singen als Aktivität unter den derzeitigen Umständen virologisch bedenklich ist, vor allem unter ungünstigen Rahmenbedingungen (ohne ausreichend Sicherheitsabstand oder in geschlossenen Räumen). Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass jegliche Beschäftigung mit Musik zu unterlassen sei, ist geradezu grotesk.
Welche Bedeutung hat Musikunterricht – gerade in einer Zeit der Krise?
WA: Der grundsätzliche Wert musikalisch-ästhetischer Bildung und die gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung von Musik für die vielzitierte Kulturnation Österreich mit ihrer ebenso oft zitierten Musikhauptstadt Wien muss nicht weiter ausgeführt werden, ebenso wenig wie die Kraft von Musik als zeitloses Lebenselixier, besonders für Kinder und Jugendliche und gerade in belastenden Zeiten. Das kann man philosophisch argumentieren oder mit allen Jugendkulturstudien der letzten beiden Jahrzehnte untermauern, die die Bedeutung von Musik in jugendlichen Lebenswelten empirisch belegen.
Was bedeutet das für den Unterricht?
WA: Nach den Schulschließungen Mitte März haben Tausende Musiklehrende in ganz Österreich bereits bewiesen, dass sie imstande sind, mit Kreativität, Expertise und Mut zu Neuem sogar aus der Distanz heraus die Grundversorgung ihrer Schüler_innen mit Musik als „wesentlicher Dimension des Menschseins“ – wie es unser Kollege Johannes Hiemetsberger in einer Stellungnahme so schön ausgedrückt hat – zu gewährleisten und ihnen so zumindest ansatzweise ein „Gefühl von Grenzenlosigkeit und Gemeinschaft zu vermitteln“, das gerade Musik so unvergleichlich transportieren kann. Es sind ja besonders die emotionalen Lerngelegenheiten mit Herz, Hirn und Hand, die während der Zeit des Homeschoolings rar sind, und hier können ästhetische Bildungsprozesse mit ihrer Chance auf Verknüpfung von Kognition und Emotion besonders wertvoll sein.
Was kann man aus der momentanen Situation lernen, welche Maßnahmen kann man jetzt setzen, um unter noch unklaren Bedingungen im Herbst weiterhin Musik in allen Schulformen zu unterrichten?
WA: Auch wenn das Singen, das jetzt an den Pandemie-Pranger gestellt wird, unter normalen Umständen zweifellos einen unglaublich wichtigen Aspekt darstellt, so geht das Grundverständnis eines zeitgemäßen Musikunterrichts doch weit darüber hinaus. Was wir gerade lernen, ist einerseits, wie wichtig uns das Live-Musizieren, das gemeinsame Singen, das unmittelbare Tun im Kollektiv sind, und wie schmerzvoll uns diese Tätigkeiten fehlen. Vielleicht sogar viel schmerzvoller, als es manchmal zuvor im harten musikpädagogischen Schulalltag wahrgenommen wurde, wo es schon mal vorkommen konnte, dass das mühevolle Ringen mit einer stimmgewaltigen Meute chorisch anzuleitender Kinder gegen das weitaus entspannter zu bewerkstelligende Austeilen eines Arbeitsblattes eingetauscht wurde. Das sollten wir für „die Zeit danach“ gut im Gedächtnis behalten und daraus künftig Kraft schöpfen. Andererseits zeigt sich jetzt die mögliche Bandbreite im Musikunterricht deutlicher denn je, etwa was das Potenzial medialer und technologiegestützter Arbeitsformen angeht – und da hat die Musikpädagogik im schulischen Fächerkanon bislang nicht gerade zu den Vorreiterdisziplinen gezählt, das wage ich als Experte auf diesem Gebiet ganz unverblümt zu sagen. Umso erstaunlicher und erfreulicher ist es zu sehen, wie rasch und vielfältig die musikpädagogische Community – und ich schließe hier Schulen ebenso ein wie Musikschulen und Musikuniversitäten – aus der Not eine Unmenge von Tugenden gemacht hat. Es werden in Flipped-Classroom-Manier Tutorial-Videos produziert, es wird online instrumental unterrichtet und mit Musik-Apps gearbeitet, es werden kollektive Songwriting-Projekte initiiert und neue Feedback- und Kommunikationsmethoden erprobt. Eigentlich unglaublich, wie viel Innovatives und Kreatives entsteht, trotz des hohen Drucks, der belastenden Umstände und der zwanghaften Ausschließlichkeit des Digitalen, mit dem alle Beteiligten zu kämpfen haben. Wenn ein wenig davon die Krise überdauern kann, dann werden wir gestärkt daraus hervorgehen. Und was den Herbst betrifft: Die jetzt erarbeiteten digitalen Erfahrungen können weiter genutzt werden, ebenso wie die neu ins Bewusstsein gedrungene Bandbreite möglicher Arbeitsformen. Das Erkunden von Klängen mit Alltagsgegenständen oder das Erstellen einer Hörpartitur sind absolut zeitgemäße und lehrplankonforme Unterrichtsinhalte, die ebenso gut mit notwendigen Hygiene- und Distanzmaßnahmen in Einklang zu bringen sind wie Body-Percussion oder Square-Dance ohne Körperkontakt in ausreichend großen Räumen oder im Freien.
Was sind Ihre Eindrücke nach den ersten Wochen der Coronakrise: Welchen Stellenwert haben Kunst und Kultur in dieser Situation?
WA: In der öffentlich-medialen Diskussion leider einen sehr geringen, das muss man ernüchtert sagen. Da ging es verständlicherweise als Erstes um die Grundversorgung (wobei interessanterweise Bezeichnungen wie „Systemerhalter“, die bis dato eher negativ konnotiert waren, als neue Leitbegriffe wiedergeboren wurden), dann ziemlich bald um die Wirtschaft, sehr spät um Bildung und erst deutlich danach um Kunst und Kultur. Demgegenüber jedoch steht eine kreative Explosion an neuen Ideen und Initiativen von Kunst- und Kulturschaffenden, um präsent zu sein, um das „Lebensmittel“ Kunst und besonders Musik weiterhin verfügbar zu machen und zu teilen – von Balkonkonzerten über Kollektiv-Videos bis zu Wohnzimmer-Sessions. Es ist unglaublich zu sehen, was alles möglich ist und welches kreative Aufbäumen hier passiert. – Auch wenn es, das muss klar gesagt werden, in mancher Hinsicht durchaus ein existenziell verzweifeltes Aufbäumen ist. Hier müssen Gesellschaft und Politik Farbe bekennen, und hier ist auch beinharte Lobbying-Arbeit für den Kunstbereich und für das Künstlerische in der Bildung notwendig – so wie sie auch vonseiten des Sports, der Gastronomie oder des Tourismus betrieben wird.
Welche gesellschaftliche Relevanz – und welche Chancen – sehen Sie im Musikunterricht als Teil der allgemeinen Bildung?
WA: Das Wesen von Musik als Kunstform bzw. des Musizierens in der Gemeinschaft besteht genau in dem, was unsere Gesellschaft derzeit am dringendsten braucht: andere im Kollektiv wahrnehmen; zuhören und aufeinander reagieren; anderen den notwendigen Raum geben; wachsam sein und bei Bedarf improvisieren; höchste Konzentration und (Proben-)Disziplin kombinieren mit situativem Reagieren im Moment und Im-Flow-Sein. Musik braucht all das. Wir Musiker_innen können das. Und Musiklehrende können dies ihren Schüler_innen vermitteln. Deshalb braucht es genau jetzt Musikunterricht an unseren Schulen – mehr denn je und auch in Zukunft.