Liebe Evelyn, im September1 wirst du, Professor Emerita des Department of Women’s Studies der University of Maryland, Ph.D. Comparative Literature, Ph.D Clinical Psychology, das Ehrendoktorat der mdw für deine herausragende wissenschaftliche Arbeit erhalten. Es wird mit dir eine Wissenschaftlerin geehrt, die der Wissenschaft ein überaus reiches Spektrum an Themen eröffnete. Du hast in vielen Bereichen bedeutende Pionierarbeit geleistet. In diesem Gespräch wollen wir einige Dimensionen aus deinen Funktionsperioden an der University of Wisconsin-Madison und der University of Maryland, wo du die Women’s Studies in den 1970er Jahren etabliert hast, herausgreifen.
Evelyn Torton Beck (ETB): Ja, aber wenn man mich kennenlernen will, muss man mit Kafka beginnen. Hier zeigte ich ausführlich, wie Kafka vom jiddischen Theater beeinflusst war, was seinen Durchbruch bewirkte. Ohne diesen Einfluss wäre er nicht der Kafka geworden, den wir kennen. Mit essenziellen Themen wie dem Verhältnis von Vater und Sohn, von Mensch und Autoritäten und was es heißt, jüdisch zu sein, obwohl dieses Wort in keinem seiner Werke vorkommt. Ich schrieb auch über ihn und Else Lasker-Schüler. Auch sie wollte wissen, was es heißt, Jüdin, Frau, Künstlerin zu sein. Das Jüdische zieht sich wie die Frage danach, was es heißt, Frau zu sein, oder die Auseinandersetzung mit Autoritäten durch meine Arbeit. Es sind Fragen nach Identitäten, historisch und kulturell. Der Feminismus, zu dessen Pionierinnen in den USA ich mich zählen darf, änderte alles.
Wie verlagerten sich dann deine Forschungsinteressen?
ETB: Es ist wichtig zu betonen, dass wir lange mit der Verwaltung der Uni kämpfen mussten, bevor das Frauenstudium als akademische Disziplin akzeptiert wurde. Ab dann lag mein Fokus dezidiert auf der Wiederentdeckung von Frauen – Schriftstellerinnen, Malerinnen, Komponistinnen. Von Frida Kahlo oder Clara Schumann wusste damals niemand! Ganz wichtig war auch zu fragen, wie wir forschen. In dieser Zeit liegen die Wurzeln der Standpunkt-Theorie. Es gibt kein Wissen von nirgendwo. Wir sprechen immer, auch in der Forschung, von einer Position aus. Damit entwickelte sich das Thema Diversität und, wie es heute heißt, Intersektionalität. Wie sieht die Welt von meiner Perspektive her aus? Ich bin ja nicht nur Frau, sondern weiße Frau, schwarze Frau, jüdische Frau, mit unterschiedlichem sozialem, sexuellem, kulturellem, nationalem, religiösem Hintergrund. Mit diesem neuen Wissen kam ich wieder auf Kafka zurück. In Why Kafka? fragte ich danach, was an der Auseinandersetzung mit seinem Werk so wichtig für mich gewesen war. Die ersten Seiten in Der Prozess, wo die zwei Angestellten kommen und Herrn K. verhaften – das war mein Leben. Das habe ich selber erlebt.
Das ist das Stichwort, um auf deinen biografischen Hintergrund zu sprechen zu kommen. Du hast ja aus sehr spezifischen Erfahrungen und Perspektiven geforscht. Du wurdest in Wien geboren, musstest aber mit deiner Familie 1939 vor dem NS-Regime fliehen, nachdem dein Vater nach einem Jahr Inhaftierung in den KZs Dachau und Buchenwald freigelassen wurde.
ETB: Nach einem Jahr in Milano, wo ich Italienisch lernte, kamen wir mit Glück in die USA, wo ich seither lebe. Letzte Woche wurde mir wieder die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Ich bin sehr glücklich, dass ich überlebte und ein so reiches Leben hatte und habe. Aber die Wunden und Traumata der Kindheit sind noch mit mir. Ich denke, alles, was ich forschte und wofür ich kämpfte, hat in diesen Erlebnissen seine Wurzeln. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es, als ich Women’s Studies etablierte und unterrichtete, nicht nur gefährlich war, Feministin zu sein, sondern auch über Frauen zu arbeiten. Und als Lesbe war es noch gefährlicher. Nicht zuletzt dadurch wurde der Zusammenhang von Geschlecht, Gender und Sexualität in meinen wissenschaftlichen Arbeiten bedeutsam. Dabei fungierte meine Arbeit über Kafka als eine Art Schutz.
Du hast ja sowohl mit deinen wissenschaftlichen Arbeiten zu Stimme, Sprache, Translation – du hast Texte von und mit dem Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer übersetzt – als auch mit deinen Arbeiten zur Social Justice in Theorie und Praxis, Multikulturalismus, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie – auch in Bezug auf deren Effekte auf die Entwicklung der Persönlichkeit, um nur einige der Themenbereiche zu nennen – nicht nur die inhaltlichen, sondern mit dem Hinterfragen wissenschaftlicher, androzentrischer, eurozentrischer Standards auch die erkenntnistheoretischen Grundfesten wissenschaftlichen Forschens herausgefordert und hast innovative Wege gewiesen. Du hast zudem die klassische Haltung des Lehrens, des Unterrichtens hinterfragt und bist auch da neue Wege gegangen.
ETB: Ich habe in Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen die Pädagogik in Richtung einer feministischen Pädagogik weiterentwickelt. Ein Bewusstsein dafür, wem wir etwas vermitteln wollen. Wir unterrichteten nicht nur einen Stoff, sondern wollten zu Ideen und Kritik anregen, das Nachdenken befördern. Das Akademische ist auch politisch. Ich zeigte z. B., wie sich die Geschichte des Feminismus durch Lieder formte. Zuerst dadurch, wie Bewusstsein als Frau emergierte, dann durch den Ärger, das Bedürfnis, in die eigene Macht zu gelangen, in die Agency, und schließlich das Zelebrieren der Diversität. Ein Gespräch mit mir trägt den Titel Ich habe die ganze Sache irgendwie überlebt mit dem Lesen. Kunst war in meinem Leben, Denken und Lehren immer präsent. In Poesie, in Musik steckt auch Theorie. Ein Beispiel wäre ein Gedicht von Marge Piercy über den Bonsai. Der von Männern zurechtgeschnittene Baum steht emblematisch dafür, was mit Frauen passierte. Was wir machen, kommt immer davon, wie wir denken, auch in der Kunst.
Schließlich hast du auch das Älterwerden aus deiner Position heraus neu betrachtet und bist eine gefragte Rednerin bei dieser Facette der Diversität, die in Europa nun immer mehr ins Bewusstsein tritt. Auch bei dem am Internationalen Frauentag stattgefundenen Event Aging and Aging Trouble an der mdw warst du uns aus Washington zugeschaltet …
ETB: Agism verbindet sich mit Ablism und Lookism. Ich habe auch theoretisch über den Lebensabschnitt des Wechsels in den sogenannten Ruhestand, Retirement in Two Voices, geschrieben und über alles, was uns in der zweiten, dritten Lebenshälfte bewegt. Wie beeinflusst uns der gesellschaftliche Blick auf das Älterwerden? Auch das ist intersektional zu denken. Es macht einen Unterschied, ob jemand reich ist oder wenig Geld hat.
Alles, worüber du geforscht und geschrieben hast, Evelyn, ist heute noch von immenser Bedeutung. Wir haben das Privileg, darauf aufbauen zu dürfen. Und wir haben die Freude, dich würdigen zu dürfen. Vielen Dank!