Bernhard Rainer: Instrumentalisten und instrumentale Praxis am Hof Albrechts V. von Bayern 1550–1579. Wien: Hollitzer Verlag 2021 (Musikkontext 16), 304 S., mit Abbildungen.
Wer Musik von Orlando di Lasso bisher vor allem als a cappella vorgetragene ‚Vokalmusik‘ gehört hat, kann in Bernhard Rainers Buch nun neue Facetten entdecken. Etwa, wie Lasso Musik durch Arrangement, Instrumentierung oder variantenreiches Aufführen effektvoll inszenierte. Doch die Ergebnisse der vorliegenden Studie gehen über die prominenteste Figur des Münchner Hofes im späten 16. Jahrhundert weit hinaus. Zugleich macht die Verwebung von ‚klassischer‘ musikwissenschaftlicher Arbeitsweise und der Perspektive des aktiven Musikers dieses Buch insgesamt so anregend.
Im ersten der drei Kapitel listet Rainer anhand von Rechnungen und anderen Hofakten auf, wer sich an der Instrumentalmusik beteiligte. Die Kantorei Albrechts V. umfasste bei Regierungsantritt im Jahr 1550 sechs Instrumentalmusiker, um dann in den 1570er Jahren auf 14 bis 18 Instrumentalisten anzuwachsen. Dabei zeigt sich in der Internationalisierung des Personals ein Trend, der an vielen Höfen der Zeit in Europa zu beobachten ist: Während unter den Sängern mehr und mehr Franko-Flamen angestellt werden, besteht die Instrumentalkapelle ab 1565 ausschließlich aus Italienern. Rainer zeigt auch, wie die Musiker angeworben wurden, wie ihre soziale Stellung am Hof war und welche internationalen Netzwerke sie bildeten. Die Berühmtesten gingen etwa nach dem Dienst in München nach Venedig, wo sie beim Aufbau der dortigen Kapelle wirkten und ihre Münchner Erfahrungen einbrachten. Faszinierend sind die vielfältigen Fähigkeiten der Musiker. Anders als heute, wo meist ein einzelnes Instrument zu beherrschen ist, sind die Musiker der Hofkapelle Multiinstrumentalisten – sie sind auf eine Stimmlage (z. B. Altus) spezialisiert, in der Wahl des Instrumentes aber weitgehend flexibel. Hinzu kommt, dass immer wieder ganze Familienverbände – etwa vier Brüder – zugleich angeworben werden. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie routiniert solche Gruppen musikalisch zusammengespielt haben dürften, auch wenn das soziale Gefüge gelegentlich von Fehden erschüttert wurde. So erschoss der Sänger Massimo Troiano, auf dessen Berichten das vorliegende Buch wesentlich beruht, 1570 den Geiger Giovanni Battista Tiburtini. Ein Manko des Buches ist leider, dass ein Personen- und Werkregister fehlt. Dieses würde, wie auch häufigere Einordnungen der gewonnenen Erkenntnisse in die großen Linien bisheriger Forschung, die schnelle Handhabung des Buches erleichtern.
Das zweite Kapitel erweist sich als leicht verständlich geschriebene, grundlegende Einführung in das Instrumentarium des 16. Jahrhunderts. Dabei gelingt Rainer die Identifizierung und Zuordnung zahlreicher Instrumente, die sich in den Quellen oft hinter schwer deutbaren Begriffen (wie z. B. „dolzaina“) verbergen.
Im Verlauf der ersten beiden Kapitel wächst beim Lesen die Neugier stetig, was diese bunte, gut eingespielte, überaus flexible und mit einer Vielzahl an Instrumenten ausgestattete Kapelle wohl spielte. Dieser Frage widmet sich Bernhard Rainer im umfangreichsten dritten Kapitel. Zunächst stellt er das Panorama an Musizierpraktiken vor, bei denen Instrumente beteiligt waren („Produktionsweisen“). Es folgt eine Reihe von Fallstudien, bei denen Rainer die Erkenntnisse der ersten beiden Kapitel mit detaillierten Repertoirestudien und Aufführungsberichten sowie zahlreichen weiteren textlichen und ikonographischen Quellen für instrumentales Musizieren der Zeit verknüpft. Dadurch kann er zahlreichen Aufführungsberichten, die fast durchweg von Troiano stammen, konkrete Werke nebst Instrumentierungsvorschlägen zuordnen. Dabei sticht die umfangreichste Fallstudie zur berühmten Abbildung der Münchner Kantorei vom Hofmaler Hans Mielich hervor. Dort sind um ein Tasteninstrument auf einem Tisch in der Mitte alle Instrumentalisten und Sänger der Kapelle versammelt. Nicole Schwindt, die sich zuletzt mit der Abbildung beschäftigte, sah trotz der greifenden, streichenden und blasenden Instrumentalisten kein Abbild einer realen Musiziersituation. Dem widerspricht Bernhard Rainer vehement. Seine Interpretation, dass die Abbildung als eine „Art Zwischenform“, zugleich als „realistisches ‚strukturelles‘ Bildnis“ der Kapelle wie auch als „‚photographische‘ Darstellung einer Aufführung“ von Lassos Bußpsalmen zu sehen ist (S. 231), überzeugt insgesamt. Als Argumente kann er nicht nur auf die Erkenntnisse der Kapitel I und II zurückgreifen, sondern auch auf die Ergebnisse eines Reenactments im Rahmen eines CD-Projekts (S. 222). Hier leitete Rainer Musikerkolleg_innen an, die Mielich-Abbildung exakt nachzustellen und praktisch zu erproben. Streich- und Blasinstrumente wie die „Cornamusa“ wurden eigens rekonstruiert und nachgebaut.
Alles in allem möchte ich Bernhard Rainers Buch unbedingt empfehlen. Wer sich für Instrumentarium und Instrumentation im 16. Jahrhundert interessiert, wer Musik dieser Zeit ‚historisch informiert‘ aufführt, wer neue Facetten von Lassos Musik kennenlernen möchte, wird hier eine erstklassige Studie vorfinden.