Wir leben in einem Informationszeitalter. Nie wurden so viele Informationen produziert, und nie war es so einfach, diese rasch zu bekommen. Informationen sind allgegenwärtig, oft ist von einer Flut an Daten die Rede. Gleichzeitig gehen täglich ungezählte Datenmengen verloren, viele Inhalte sind ephemer bzw. überhaupt nur für einen kurzen Augenblick geschaffen, um dann in den unendlichen Weiten des Internets zu verschwinden. Sie entsprechen dem Wortsinn des griechischen ephemeros ‚für einen Tag‘ in idealer Weise, oft zu Recht.
Ambivalente Archive
Archive bewahren Vergangenes auf und leisten einen wichtigen Beitrag gegen die Vergänglichkeit, gegen ephemere Informationen. Auf der anderen Seite sorgen sie durch das Skartieren, das Vernichten von digitalen wie analogen Unterlagen, auch für ein geordnetes Vergessen. Nur ein geringer Teil des heute in den Verwaltungen unterschiedlicher Institutionen produzierten Schriftguts kann als archivwürdig angesehen werden und findet dementsprechend Eingang in die Archive. Durch den Vorgang der archivischen Bewertung findet ein aktives Entscheiden darüber statt, was dem Vergessen anheimfallen soll und was nicht. Zu Archivgut werden nur jene Unterlagen, die in der laufenden Verwaltung nicht mehr regelmäßig gebraucht werden und einen bleibenden Wert aus administrativen, historischen oder rechtlichen Gründen haben. Der Zugang von Archiven zum Erhalt von Informationen ist somit ambivalent.
Die historische Arbeit ist zwangsweise eine Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit. Historisch forschen bedeutet, sich der Vergänglichkeit zu stellen, und oft müssen dabei Lücken und Fehlstellen akzeptiert werden. Hier trifft die alte römische Rechtsmaxime zu: Quod non est in actis, non est in mundo – was nicht in den Akten steht, ist nicht in der Welt. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken und ephemeres Wissen einzufangen, sind Oral-History-Interviews, in denen nicht selten Informationen zutage treten, die nicht in schriftlichen Quellen zu finden sind.
Kampf gegen Vergänglichkeit
Archive stoppen Prozesse der Vergänglichkeit: durch optimale Lagerung, durch Datenmigration oder gezielte konservatorische Maßnahmen. Um ein Beispiel zu nennen: Bei den Inhalten eines alten Tonbandes oder Films ist zum einen hohe Dringlichkeit zur Sicherung geboten, zum anderen können diese nur mit großem Aufwand gerettet werden. Die Trägermaterialien sind nicht alterungsbeständig, lösen sich zum Teil auf, und der Zerfall kann nur durch eine sehr kühle Lagerung hinausgezögert werden. Es gibt alte Ton- oder Filmbänder, die nur mehr ein einziges Mal abgespielt werden können, dann sind sie unbrauchbar. Um der Verflüchtigung des gespeicherten Wissens entgegenzuarbeiten, braucht es hierbei auch die geeigneten und funktionstüchtigen Abspielgeräte. Die Herstellung derselben wurde vor Jahrzehnten eingestellt, Ersatzteile sind nur schwer zu bekommen. Auch bei CDs oder CD-ROMs, die zum Teil noch in Verwendung sind, ist ein baldiger Verlust der Inhalte wahrscheinlich.
Geradezu greifbar und augenscheinlich wird die Vergänglichkeit von Inhalten bei alten Handschriften und Noten, die mit Eisengallustinte geschrieben wurden. Säurehaltige Inhaltsstoffe in den Tinten, die bis in das 19. Jahrhundert üblich waren, greifen den Beschreibstoff in einer aggressiven Weise an, sodass es zum sogenannten Tintenfraß kommt, zur Zersetzung des Papiers. Aufzuhalten ist der Prozess nur durch ein äußerst aufwendiges Papierspaltverfahren, durch das zumindest ein weiterer Zerfall verhindert werden kann. Berühmtes Opfer des Tintenfraßes sind zahlreiche Autographe von Johann Sebastian Bach in der Staatsbibliothek zu Berlin, die in einer großangelegten und aufwendigen Restaurierungsaktion (1999–2003) gerettet werden konnten.
An diesem Beispiel lässt sich auch der Aspekt des Originals gut nachvollziehen. Warum kann es so wichtig sein, der Vergänglichkeit von zerfallenden Autographen entgegenzuwirken, wenn doch der Inhalt, also Bachs Musik, in unzähligen Drucken, Einspielungen und modernen Digitalisaten gesichert ist? Ganz zu schweigen von der Aura eines Originals und der kulturhistorischen Bedeutung, halten Autographe auch aus inhaltlicher Sicht wichtige Informationen verborgen. Veränderungen und Korrekturen – beispielsweise erkennbar an unterschiedlichen Tintenfarben oder Farbstiften – können aufschlussreiche Hinweise für die Entstehungsgeschichte der Werke liefern. Sauber durchgeführte Ausbesserungen sind mitunter auch auf Digitalisaten nicht erkennbar. Für die (musik-)historische Forschung relevant ist auch die Papieranalyse, wie das an der mdw beheimatete Forschungsprojekt Paper and Copyists in Viennese Opera Scores, 1760–1770 zeigt. So geben etwa Wasserzeichen Auskunft über Alter und Herkunft, womit eine zeitliche und örtliche Einordnung von Quellen möglich ist.
Digitale Wissensspeicher
Digitalisierung kann heute als eine der wichtigsten Aufgaben von Archiven gesehen werden. Sie setzt uns in die Lage, einen maßgeblichen Schritt gegen die Vergänglichkeit zu tun. In manchen Fällen ist die Digitalisierung die einzige Möglichkeit, Inhalte für die Nachwelt zu bewahren. Es gibt digitales Archivgut, bei dem klar ist, dass es ohne Handlungsschritte bald verloren sein wird: Durch die Datenmigration geht zwar die ursprüngliche Form verloren, jedoch kann der Inhalt gesichert werden.
Die Digitalisierung analoger Inhalte ermöglicht in vielen Fällen erst den bequemen Zugang zu den Quellen: Als Beispiel kann das derzeit an der mdw laufende Vorhaben zur Implementierung eines Digitalen Archivportals genannt werden. Das ist der transdisziplinäre Zusammenschluss der Archive und Sammlungen an der Universität, durch den der historische Quellenschatz der mdw sichtbar gemacht wird. Damit werden die unterschiedlichen Bestände für die Forschung zugänglich sein, darüber hinaus entstehen durch das digitale Zusammenführen und Vernetzen der Quellen inhaltliche Querverbindungen und es werden Analysen möglich, die in analoger Form nicht möglich gewesen wären. Dabei können Analyse-Tools, wie das eben im mdw-Projekt Telling Sounds entwickelte LAMA (Linked Annotations for Media Analysis), zum Einsatz kommen und wertvolle Arbeit leisten. Aus diesen Gründen gewährleistet das Archivportal die digitale Erschließung und Sicherung des kulturellen Erbes der mdw. Wichtige Anregungen auf diesem Gebiet, vor allem in Hinblick auf die Verbindung von Wissenschaft und Kunst, leistet das unter anderem an der mdw beheimatete Artistic-Research-Projekt Rotting Sounds, das sich mit den Verfallserscheinungen digitaler Klänge beschäftigt.
Besonders ephemer sind digitale Daten im World Wide Web, wo sich bereits zahlreiche Lücken ergeben haben. Die Erforschung des Web- bzw. Außenauftritts der mdw, der medialen Wirkung sowie des eigenen Selbstverständnisses und der damit vermittelten Werte ist eine reizvolle Aufgabe, doch klafft zwischen den Anfängen der Computerisierung an der Universität und heute ein großes Loch in der Überlieferung. Auch in der Gegenwart sind viele dieser Fragen (noch) nicht geklärt: So sind etwa die Inhalte der unterschiedlichen Social-Media-Kanäle der mdw in bester Weise als ephemer zu bezeichnen und damit schwer für die Nachwelt zu bewahren. Eine wichtige Aufgabe der Gegenwart und Zukunft wird es sein müssen, dieses Loch nicht größer werden zu lassen, überlegt auszuwählen und archivwürdige digitale Inhalte nicht verloren gehen zu lassen.