„Ich war lange Zeit gefangen in mir. Ich war mit mir ganz alleine und niemand konnte zu mir herein, eingesperrt, in mir alleine. Manchmal hatte ich große Angst, die Türe würde niemals gefunden …“
„Es ist so, dass Musik ein Tor sein kann, durch das ich in andere Welten sehen kann. Da bin ich leicht wie eine Feder und kann meinen störrischen Körper zurücklassen. Ich tanze auf einer weichen Wolke. Ich kann ganz frei und wohl sein.“
So beschreibt die 15-jährige Lilly Haller ihr Erleben vor und nach dem Beginn ihrer musiktherapeutischen Behandlung, bei der sie 2019 zusammen mit ihrer Mutter an einem Forschungsprojekt der deutschen Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und des Kinder-Neurologen Andreas Sprinz (Kempten, Allgäu) teilnahm. Diese untersuchten die Auswirkungen mobiler Musiktherapie in ländlichen Gebieten für Kinder mit schweren Hirnschädigungen und ihre Familien.
Lilly Haller kommt 2007 nach einer unauffälligen Schwangerschaft zur Welt. Bei der Geburt stellen sich schwere Komplikationen ein, Lilly überlebt nur knapp. Nach zahlreichen intensivmedizinischen und rehabilitativen Klinikaufenthalten bleibt eine schwere, erworbene Hirnschädigung mit dem Erscheinungsbild einer dyskinetisch-spastischen Zerebralparese und einer strukturellen fokalen Epilepsie zurück. Lilly sitzt im Rollstuhl, kann ihre Bewegungen kaum kontrollieren und verfügt über keine lautsprachliche Kommunikation. Sie wächst jedoch in einer sehr liebevollen Familie auf einem großen Bauernhof auf.
„Ich erinnere mich noch genau an den Anfang der Musiktherapie. Es ist so, dass ich neugierig und vorsichtig war. Ich wusste nicht, was da auf mich zukommt und was da gemacht wird. Es war gut, dass meine Mama dabei war. Oft war es so, dass ich hören musste, was ich alles nicht kann und nie lernen werde. Deshalb bin ich eher vorsichtig, wenn jemand mit mir was machen will.“
Musiktherapie ist eine wissenschaftlich-künstlerisch-kreative und ausdrucksfördernde Therapieform. In Österreich ist sie seit 2009 als eigenständiger Gesundheitsberuf gesetzlich geregelt. Die mdw beheimatet mit dem von Thomas Stegemann geleiteten Institut für Musiktherapie die älteste akademische Musiktherapieausbildung Europas, an der bereits seit 1959 Musiktherapeut_innen ausgebildet werden. Seit 2013 kann hier auch ein Doktoratsstudium in Musiktherapie absolviert werden und mit dem Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF) wurde in den vergangenen fünf Jahren auch eine neue Forschungsinfrastruktur geschaffen und institutionell verankert. Einer der inhaltlichen Schwerpunkte des WZMF ist die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und hier insbesondere die Einbindung von Bezugspersonen in das musiktherapeutische Setting.
Musiktherapeut_innen sind speziell darin ausgebildet, das Medium Musik oder seine Elemente zu therapeutischen Zwecken einzusetzen, und können Menschen somit über einen präverbalen Zugang erreichen. Musiktherapie findet immer im Rahmen einer therapeutischen Beziehung statt. Über Melodie, Rhythmus oder Klang können auch minimale Begegnungsmomente hörbar gemacht werden und es ist möglich, Gefühle auszudrücken oder zu teilen.
„Ich hab noch nie so viele Instrumente auf einmal in einem Zimmer gesehen. Ich durfte alles anfassen und hören, wie es klingt. Es war so, dass wir uns erst kennenlernen mussten. Sehr vorsichtig, aber gründlich. Zu der Zeit war ich noch […] oft krank und echt frustriert, weil ich so falsch eingeschätzt wurde. Ich hatte Angst, dass es in der Musik auch so wird.“
Lilly und ihre Mutter erhalten über mehrere Monate hinweg ein musiktherapeutisches Angebot und sie beginnen, auch zu Hause zu musizieren. Im Laufe dieser Einheiten wird deutlich, dass es für Lilly möglich ist, einen Muskel im Oberarm so zu bewegen, dass die Bewegungen nicht permanent von Spastik und Dystonie überlagert werden. Ihre Mutter unterstützt und verstärkt diese minimalen Bewegungen. Lilly beginnt, bestimmte rhythmische Muster zu wiederholen und übt die kontrollierten Bewegungen auch in der Ergotherapie. Die Tür zur Kommunikation und damit zur aktiven Teilhabe am Leben geht auf. Es stellt sich heraus, dass Lilly bereits mit Buchstaben umgehen und lesen kann und somit über Sprache und Schrift verfügt.
„Wenn man nicht über das alles reden kann, ist man ganz einsam mit Angst und Freude weggesperrt. Wenn man alleine ist und niemand findet die Türe, dann muss man sehr vorsichtig sein, denn die Seele wird immer zerbrechlicher und würde dann schließlich ganz zerbrechen und keiner würde es merken. Da die Seele nur mit dem ganzen Herzen zu sehen ist.“
Lilly beginnt, sich mit Hilfe ihrer Mutter unter Verwendung von bunten Buchstabenkarten und in weiterer Folge mittels digital unterstützter Kommunikation auszudrücken. Sie schreibt beeindruckende Texte über ihr Erleben und möchte später Autorin werden.
Symposium Music Therapy with Families
Im September 2022 war Lilly Haller zusammen mit ihrer Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und dem betreuenden Neuropädiater Andreas Sprinz als Vortragende zu Gast an der mdw beim Symposium Music Therapy with Families in Wien. Sie beschreibt diese Eindrücke wie folgt:
„Ich hatte Zeit, in die Gesichter der Zuhörer_innen zu schauen. Die waren sehr aufmerksam. Ich habe diese Zeit auf der Bühne sehr genossen, denn ich konnte der Welt endlich etwas Wichtiges sagen. Ich fühlte in mir eine Freude, die sich ausbreiten konnte. Es war ein großartiges Gefühl.“
Das von Eva Phan Quoc, Agnes Burghardt-Distl und Thomas Stegemann organisierte erste internationale Symposium zu Music Therapy with Families fand vom 23. bis 25. September 2022 an der mdw statt und widmete sich ganz speziell der musiktherapeutischen Arbeit unter Einbeziehung von Familien, Angehörigen und Bezugspersonen. Mehr als 180 Teilnehmende (live und online) aus 30 Ländern setzten sich dabei mit unterschiedlichsten methodischen Ansätzen in verschiedenen Arbeitsfeldern auseinander.
Diskutiert wurden zentrale Themen wie die Diversität verschiedenster Definitionen des Begriffes „Familie“ in verschiedenen Kulturen (unterstützt von der Plattform Gender_mdw), die Bedeutung von interdisziplinärer Zusammenarbeit und insbesondere die Notwendigkeit einer noch sorgsameren, permanenten Reflexion der eigenen therapeutischen Haltung in komplexen Systemen. Besonders beeindruckend waren gemeinsame Präsentationen von ehemaligen Patient_innen/Klient_innen, die zusammen mit ihren Bezugspersonen und den Musiktherapeut_innen ihr persönliches Erleben aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten.
Als Schlussbotschaft ermutigte Lilly Haller, eigene rasche Kategorisierungen zu hinterfragen: „Es ist so wichtig, dass wir aufeinander achtgeben, jede_r ist so einzigartig. Dass Kinder in Schubladen gesteckt werden, das ist nicht sehr schlau, denn es nimmt denen, die darin stecken, die Freude am Leben.“