Mit den Fragen, ob Kunst politisch sein muss und wann sie Protestbewegungen unterstützen kann, beschäftigen sich die Brutpflegerinnen Eva Puchner und Susanne Preissl, die mdw-Absolvent_innen Golnar Shahyar und Simon Scharinger sowie der Leiter des Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie Marko Kölbl.
Protest in künstlerischer Form gibt es in allen Sprachen, Epochen und Regionen. Woher kommt diese enge Verbindung von Protest und Kultur?
Susanne Preissl (SP): Kunst bietet sich sehr gut an, weil der Protest subversiv platziert werden kann, ohne direkt zu konfrontieren. Dazu zielen wir auf Emotionen ab, denn das triggert auf einer weniger rationalen Ebene. Das ist die große Chance, das Potenzial, das Kunst im Kontext mit Protest hat.
Golnar Shahyar (GS): Dazu ist Kunst die Sprache der Solidarität. Es ist eine emotionale Sprache und Ausdrucksform, die unsere Gefühle, Sorgen und unsere Identität reflektiert. Aber nicht nur das, sie gibt uns auch Visionen. Durch das Zusammenkommen stärken wir uns als Community und deswegen ist Kunst bzw. Musik so mächtig – sie bringt die Menschen zusammen.
Eva Puchner (EP): Zudem ist mit dem Einsatz von Kunst eine gemeinsame, spielerische Aufmerksamkeit möglich. Bevor die Menschen bei den Klimaprotesten auf die Straße gegangen sind, hat man sich getroffen, um gemeinsam Schilder zu malen. Das hat maßgeblich zur Bekanntheit des Protestes beigetragen.
Marko Kölbl (MK): Neben Musik als Kunstform auf der Bühne, kann man sie auch als alltägliche Praxis verstehen. Bei Protesten geht es darum, eine Message zu vermitteln. Wenn man auf die Straße geht und Inhalte vermitteln möchte, bietet es sich an, diese mit Rhythmen oder Melodien zu versehen. Diese Form der Musik ist partizipativ und demokratisch – alle können mitmachen, unabhängig davon, ob sie tolle Sänger_innen sind.
Funktionieren Protest-Lieder deshalb so gut, weil jede_r mitsingen kann?
MK: Ja, weil sie partizipativ sind, aber auch weil sie für etwas stehen.
GS: Protest-Songs mit einer direkten Message müssen für ein breites Publikum nachvollziehbar sein. Man muss sich mit dem Rhythmus bewegen können, egal wie musikalisch man ist. Die Melodien müssen einfach zu singen sein und einen Bezug zu kulturellen Erinnerungen haben. Wenn man das mit einem aussagekräftigen Text kombiniert, hat man ein erfolgreiches Protestlied.
Gibt es eine Kunstform bzw. ein Genre, das sich besonders für den Protest eignet?
MK: Das melodische Skandieren von Forderungen bei Demonstrationen begründet ja schon fast ein eigenes Genre. Auf der Bühne findet man Protest in beinahe allen Genres, allein die Klassik ist weniger stark vertreten.
GS: Es werden zwar Protestsongs auf der Bühne präsentiert und Unterstützung für Krisen und deren direkte soziopolitischen Themen signalisiert, dabei darf man aber die grundlegenden Probleme innerhalb des Systems nicht vergessen. Eine andere Art der Widerstandsarbeit leisten hier Künstler_innen, die sich mit solchen chronischen und systematischen Problemen auseinandersetzen. Ich denke an Diskriminierung, Kolonialismus und Kapitalismus, die sehr viele andere Kunstformen ausschließen. Diese Art des Widerstandes sollte auch als Protest gewertet werden. In diesem Rahmen eine Vision zu platzieren ist schwierig, deshalb hat Kunst, die das System herausfordert, so eine große Bedeutung.
Es ist also die Aufgabe von Künstler_innen sich für gesellschaftsrelevante Themen einzusetzen? Muss Kunst politisch sein?
Simon Scharinger (SS): Nun, ich würde sagen, sie sollte es zumindest versuchen. Als Künstler_innen haben wir eine Bühne zur Verfügung und die Möglichkeit Aufmerksamkeit zu generieren, das nicht zu nutzen, ist verschenktes Potenzial.
MK: Wobei ich nicht denke, dass sich Künstler_innen soziopolitisch engagieren müssen, auch wenn mir persönlich Künstler_innen gefallen, die das tun, vor allem, wenn es mit meinen politischen Ansichten übereinstimmt. Aber es gibt genügend Künstler_innen, die apolitisch bleiben wollen oder sind. Schwierig finde ich dabei die Überhöhung von Künstler_innen-Persönlichkeiten und die Annahme, dass sie keine Fehler machen dürfen oder politische Ansichten haben können, die von den eigenen abweichen. Andreas Gabalier beispielsweise macht sich gegen eine geschlechtergerechte Formulierung der Bundeshymne stark – das ist auch eine Form von Protest.
GS: Kunst ist eine soziopolitische Sache, die nicht auf der Schulter von einzelnen Personen ruhen sollte. Wie kann ich Musik und kulturelle Ausdrucksformen mit sozialen oder politischen Aspekten verknüpfen? Das sollten wir thematisieren. Was ist dabei unsere Aufgabe? Leider geschieht das auf institutioneller Ebene nicht. Man separiert Kunst und Hochkultur von sozialen und politischen Themen. Die Macht der Musik liegt in der Kommunikation und Verbindung, durch die sich Menschen entweder ausgeschlossen oder aber verbunden fühlen. Es liegt bei den Institutionen, Künstler_innen dieser Diskussion auszusetzen, um hier Bewusstsein zu schaffen.
EP: Meiner Ansicht nach müssen wir unsere Kunst nutzen, um Dinge aufzuzeigen, die richtig schieflaufen. Und ich erinnere mich an einen Moment des politischen Geschehens, wo der Drang unsere Stimme zu erheben, so groß war, dass es gar nicht mehr anders ging.
Das heißt, man verarbeitet als Künstler_in im Umkehrschluss Themen, die eine_n beschäftigen und ist damit per se gesellschaftskritisch?
SP: Anders kann es gar nicht funktionieren. Eva und ich haben uns überhaupt erst gefunden, weil wir das Bedürfnis hatten, etwas zu sagen, uns auszudrücken. Kennengelernt haben wir uns am IKM, dem Institut für Kulturmanagement und Gender Studies an der mdw, wo wir auch unser Programm konzipiert und entwickelt haben. Wir arbeiten viel im feministischen Kontext und haben uns überlegt, wie wir unser Statement positionieren können. Wir haben schnell gemerkt, dass wir von den Bühnen in den öffentlichen Raum wechseln müssen. Auch weil man dort Menschen trifft, die man im Theaterraum nicht findet. Menschen, die gar nicht vorhatten, sich mit Kunst zu beschäftigen. Das alles entstand aus einem ursprünglichen Bedürfnis, der Ungleichbehandlung der Geschlechter entgegenzuwirken.
Was sind eure Erfahrungen von Protestausübung im öffentlichen Raum? Wie werden sie angenommen?
EP: Unterschiedlich, teilweise erhalten wir Feedback des Empowerments, wo Frauen dazu inspiriert werden, weiterzukämpfen und ihre Geschichten auch mit uns teilen. Das ist wunderschön. Es gibt aber auch negatives, sogar aggressives Verhalten uns gegenüber – hauptsächlich von Männern. Eine Situation ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Wir waren im Rahmen einer Performance eine Woche lang am Karlsplatz positioniert. Ein junger Mann hat uns am ersten Tag gefragt, was wir Feministinnen hier eigentlich wollen und ob wir keine Arbeit hätten. Ein paar Tage später ist er zurückgekommen und hat uns erzählt, dass er sich über das Thema informiert hat, und dass unsere Aktion nicht so schlecht ist. Diese Konfrontation war nur durch das lange Ausharren an einem Ort möglich.
Was braucht es, um sich als Künstler_in überhaupt mit diesen wichtigen Themen auseinandersetzen zu können?
GS: Es ist nicht nur zeit- und kräftezehrend, ein_e Expert_in auf dem Gebiet der Musik zu werden, sondern es erfordert ein weiteres Maß an Wissen und Energie, sich mit dem Musikvertrieb vertraut zu machen und darin zu bestehen. Daher sind Musiker_innen in der Regel überlastet und haben nur wenig Zeit sich auf andere Dinge als das Überleben ihrer Kunst zu konzentrieren. Zudem ist man als frisch ausgebildete_r Musiker_in politisch und sozial zu schwach, um Stellung zu beziehen, im Gegenteil, man muss alles in Kauf nehmen. Wenn wir daher von Involvement in der Kunst sprechen, müssen wir darauf achten, unser System für freischaffende Künstler_innen so zu gestalten, dass das auch möglich ist.
MK: Hier stimme ich hundertprozentig zu. Und deswegen glaube ich, dass man diese soziopolitische Verantwortung von den Institutionen einfordern muss.
SS: So ist es, es reichen nicht nur schöne Worte. Wichtige Messages, politische Standpunkte werden oft ausnahmslos in Pressekonferenzen verbreitet, strukturell bleibt aber alles beim Status quo. Wir müssen lernen, oberflächliche Schönheitschirurgie von tatsächlich veränderndem Tun zu unterscheiden und diese Art von Protest voranzutreiben und zu kultivieren.
Was bedeutet das konkret?
SS: Das bedeutet verschiedene Dinge, vor allem aber viel Arbeit an sich selbst. Protest fängt immer im Kleinen an, beim Hinterfragen der eigenen Strukturen und Muster, wenn man sich selbst in die Mangel nimmt. Protest ist mühsam und never-ending, ein Posting oder das Mitgehen bei einem Demo-Zug sind nicht genug, man kann nie ein Häkchen dahinter setzen und sich zurücklehnen. Sehr oft bedeutet Protest auch „nur“ ein_e gute_r Verbündete_r, eine Stütze im Hintergrund zu sein und den Raum für andere freizugeben. Manchmal ist es aber auch politisch, nichts zu sagen. Jeden 8. März werde ich in den sozialen Medien überflutet von Künstlern, die sich scheinbar solidarisch geben, mit ihren Selbstdarstellungen aber erst recht wieder den Raum von Künstlerinnen okkupieren. Ich bin selbst Performer und Musiker und oft ist es schwierig da eine Balance zu finden. Mit dem A-cappella-Musikkabarett-Projekt Gesangskapelle Hermann versuchen meine Kollegen und ich Anliegen zu unterstützen, die uns wichtig sind, manchmal subversiv, manchmal sehr aktiv – und manchmal, indem wir kürzertreten und uns zurücknehmen. Aber zu guter Letzt – und das wollen wir auch stets im Auge behalten – sind wir vor allem Musiker, mit dem Hauptziel zu unterhalten und die Menschen zum Lachen zu bringen.
EP: Man muss sich Protest ja auch leisten können und die Zeit dafür finden, denn er wird schließlich nicht immer bezahlt. Die ganze künstlerische Arbeit, das Befassen und Erlernen, ist ein intensiver Prozess, der viel Zeit in Anspruch nimmt.
Also hat Protest auch einen Einfluss auf die Karriere?
EP: Natürlich und man muss vorsichtig sein. Als ein Teil von Kill the Trauerspiel, ein Verein, der sich für Diversität und Geschlechtergerechtigkeit auf Österreichs Bühnen einsetzt, werde ich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass Leute sich aus dem Thema herausnehmen müssen, aus Angst ihr politisches Engagement könnte negative Auswirkungen auf ihre Anstellung oder ihre künstlerische Arbeit haben. Aber gerade wenn es um diese Themen geht, sind ja die Institutionen am Zug. Hier sehe ich die Politik in der Verantwortung.
GS: Wenn man sich politisch und sozial engagieren möchte, ist das ein eigener Wissensbereich, den man sich aneignen muss. Man muss sich intensiv damit beschäftigen, sonst bleibt es oberflächlich. Ich nehme mir Zeit dafür, die ich eigentlich für meine Musik brauche, und gehe beispielsweise in ein Seminar, um zu hören, wo der Diskurs steht. Darunter leidet natürlich die Kunst, das ist die Realität.
MK: Wir gehen hier immer von Künstler_innen aus, die sich politisieren und für etwas Bestimmtes einsetzen. Aber manchmal ist es der stärkste Protest, wenn man ein Volkslied in einer Sprache singt, die im eigenen Land verboten oder verpönt ist. Ich als Burgenlandkroate denke an eine Zeit, wo Kroatisch nicht gerne gehört wurde. Wenn man dann ein Lied in seiner Sprache gesungen hat, war man schon radikal und automatisch politisch.
Kunst ist also auch dann Protest, wenn man sie in einem Land ausübt, in dem sie verboten ist …
MK: Unbedingt. Ich beschäftige mich in meiner Forschung mit afghanischer Musik und dem seit Sommer 2021 impliziten Musikverbot. Musik zu machen, ist ein Gesetzesbruch, also eine Form von Protest. Für Frauen, die schon vor den Taliban nur selten Musik gemacht haben, umso mehr. Der politische Kontext kann vermeintlich ganz natürliche kulturelle Ausdrucksformen mit Inhalten aufladen.
Zum Beispiel?
MK: Ich denke hier an den Auftritt der Vengaboys am Ballhausplatz nach Beendigung der türkis-blauen Koalition. We’re going to Ibiza ist ein gutes Beispiel für Musik, die per se keine Protest-Message hatte, sich aber durch bestimmte Ereignisse – den Ibiza-Skandal – inhaltlich aufgeladen hat und damit politisch wurde. Der Song wurde zur Hymne der Protestbewegung und landete in Österreich sogar auf Platz 1 der Spotify-Charts.
Protestkunst oder -kultur kann also so erfolgreich werden, dass sie sogar zum Mainstream wird? Was bedeutet das für die eigentliche Sache?
SS: Das ist wieder so etwas, wo man das große Ganze sehen sollte, denke ich. Insofern sich die eigentliche Sache nicht auflöst und dadurch eine noch größere Masse generiert werden kann, die wiederum etwas in Bewegung setzt, ist das okay. Man muss nicht mit allem d’accord sein. Bei den Black-Lives-Matter-Demos habe ich mich immer wieder über (weiße) Teilnehmer_innen ärgern müssen, die – so mein Eindruck – hauptsächlich Party machen und ihre nächsten Instagram-Posts generieren wollten. Trotzdem haben auch diese Menschen zum Erfolg der Bewegung beigetragen. Und auch ich selbst habe schon an Demos teilgenommen, weil ich mich auf die Zeit mit meinen Freund_innen gefreut habe, so ehrlich muss ich sein.
MK: Protest soll und darf ja auch Spaß beinhalten.
SP: Und ich merke, dass es uns guttut, wenn wir den Spaß am Protest bzw. unserer Kunstform nicht verlieren. Es ist nicht immer einfach, sich der Öffentlichkeit auszusetzen, weil man auch negative Vibes abbekommt.
SS: Und über Spaß und Lust erreicht man wirklich viel. Das hat das Theater noch nicht ganz verstanden, bzw. wieder verlernt. Wenn ich ausnahmslos Moralpredigten halte und Missstände vollkommen platt eins zu eins wiedergebe (und reproduziere), erreiche ich das Publikum bestimmt nicht. Bei dem lustlosen Anklagetheater unserer Zeit habe ich fast schon das Gefühl, man will das Publikum auch gar nicht mehr erreichen, bloß ein vermeintliches Soll abhaken und sich ganzkörperlich in Unschuld baden. Ich vermisse die Widersprüche, die Grauzonen, die tatsächlichen Geschichten.
GS: Ich denke, jede Situation braucht ihre eigene Energie. Kunst bzw. Musik hat die Macht, Emotionen in Bewegung zu bringen. Ich denke an den Iran, wo Rap-Musik ein Kanal für die aufgestaute Wut geworden ist – diese Energie wird dort gerade gebraucht. Sie bewegt Massen und bringt sie zusammen.
Wenn wir den Mainstream-Gedanken noch weiterdenken, fällt uns auf, dass sogar ganze Musikrichtungen, die ursprünglich Protest zum Ziel hatten, vereinnahmt und kommerzialisiert werden.
MK: Ein gutes Beispiel dafür ist House, der seine Ursprünge in einem Black-, Queer-, Underground-Setting genommen hat, dann total gewhitewashed wurde und heute das apolitischste Genre ist, das man sich vorstellen kann. Interessanterweise verlaufen derartige Entwicklungen immer wieder entlang von „Racial Divides“. Sobald ein Musikstil von den schwarzen Ursprüngen in eine Kommerzialisierung findet, ist er ein weißer Musikstil. Das geschieht bei sehr vielen Popularmusikstilen.
GS: Wenn man sich auf institutioneller Ebene sozial und politisch engagiert, muss man solche Dinge wahrnehmen und Communitys, von denen diese Kunst gekommen ist, fördern.
Was könnte hier der Anteil von Ausbildungs-Institutionen sein?
GS: Sehr viel und leider nicht genug. Allein das Wissen, dass Kunst ein soziopolitischer Akt ist, existiert nicht. Dieses Bewusstsein muss geschaffen werden. Es ist ein kulturpolitisches Thema und deswegen muss man diesen Diskurs auch auf politischer Ebene führen.
EP: Tatsächlich war der Protestgedanke an den klassischen Kunstuniversitäten kein Thema. Erst am IKM wurde ich durch das Zitat einer Lehrenden inspiriert, meine Kunst politisch zu nutzen.
MK: Ich glaube, es hängt auch von der Kunstform ab. In der bildenden und angewandten Kunst hat ein politisches Arbeiten eine längere Tradition. Im Bereich der klassischen Musik ist das nicht so einfach, weil sie eine Kunstform ist, bei der man hauptsächlich interpretiert. Es gibt einen Kanon und der ist festgesetzt: weiß, männlich, hetero, christlich, europäisch usw. Es geht darum, die Musik so richtig wie möglich – und auch das ist festgelegt – interpretieren zu können. Hier bleibt wenig Raum für eine politische Ausgestaltung. Daher ist es wichtig, diesen Kanon zu reflektieren und auf diese Festheit und Starrheit hin zu kritisieren. Ich bin aber der Meinung, dass sich hier an der mdw etwas ändert, beispielsweise durch die Verankerung von Lehrveranstaltungen zu Geschlecht und Diversität in allen Studienrichtungen.
Herr Scharinger, Sie haben sich bereits während Ihrer Studienzeit mit dem Thema Protest auseinandergesetzt …
SS: Ich habe das Stück Protest von Václav Havel im Rahmen des Festivals Neues Wiener Volkstheater inszeniert. Peter Roessler, Professor für Dramaturgie am Max Reinhardt Seminar, hat mir diesen Text vorgeschlagen und ich habe mich sofort verliebt. Auch die weitere Auseinandersetzung mit dem Autor hat viel in mir angestoßen. Havel ist ja irgendwie auch ein Paradebeispiel für die Verknüpfung von Kunst und Politik: als Dissident im Gefängnis, Theaterstücke schreibend, und nach der Samtenen Revolution 1989 Staatspräsident der Tschechoslowakei, bzw. im weiteren Verlauf erster Staatspräsident der Tschechischen Republik – eine unglaublich faszinierende Figur jedenfalls.
Gibt es Beispiele in der jüngeren Vergangenheit, wo Kunst Protestbewegungen effektiv unterstützt hat?
MK: Mir fallen die Donnerstags-Demos ein, wo unterschiedlichste Formen von Klang, von performativen Ausdrucksformen zu einer sehr vielfältigen Hör- und Sichtbarkeit dieses Protests geführt haben. Da waren etwa Isabel Frey mit jiddischen Revolutionsliedern, oder die für Demos sehr typischen rhythmischen Gruppen, bis hin zu skandierten kurzen Melodien, die während des Protests improvisiert wurden.
Ein anderes Beispiel sind Lieder, die politische Aktivität bekommen. Ein berühmter afghanischer Popsong, Sarzamine-man („Meine Heimat“), der ursprünglich ein türkischer Arabesk-Pop-Song war, hat das Thema Flucht während des ersten Taliban-Regimes in den 90ern behandelt. Mit den Migrationen 2015 wurde der Song wieder aktuell und nach der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 noch einmal. Bei einer großen Demo in Bezug auf Asylrecht in Wien war dieses prägnante Lied immer wieder zu hören. Ich finde es sehr interessant, dass gewisse Lieder mit einer politischen Bedeutung immer wieder aktuell werden. Leider, muss man sagen.
GS: Es gibt einen Protest-Song des iranischen Musikers Shervin Hajipour mit dem Titel Baraye, der bei den diesjährigen Grammys ausgezeichnet wurde. In dem Text hat der Sänger Tweets von Menschen zusammengesetzt, in denen es darum ging, welche Gründe sie haben, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Das waren sehr schöne, integrative und inklusive Wünsche. Es ging um Freiheiten, die man in so einer Diktatur nicht haben kann. Daraus wurde das Lied der iranischen Revolution und hat Massen bewegt. Es ist ein wichtiges Beispiel, welchen Einfluss ein Musikstück haben kann. Siehe Artikel Musik als Stimme des Protests im Iran.
SP: Was sicher auch Hoffnung gibt, ist das Graffiti von Banksy in der Ukraine, wo ein Kind einen Judoka zu Boden wirft. Es ist eine Erinnerung an die Zustände in der Ukraine, ein Spotlight, um wieder hinzusehen und Hoffnung zu schöpfen.
GS: Hoffnung ist wichtig – und Visionen. Das macht Kunst, sie gibt uns Visionen. Ich habe jetzt auch meinen ersten Protest-Song geschrieben. Ich dachte immer, ich würde meinen Protest anders zeigen und habe ihn nie direkt ausgesprochen. Aber manchmal muss man direkt sprechen.