4.3 Wahrnehmung als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung



Die Wahrnehmung erweist sich in Lachenmanns Texten als zentraler Schauplatz sowohl des ästhetischen Geschehens als auch der damit verbundenen existentiellen Veränderung bei den Hörenden – in ihr manifestiert sich der gesellschaftliche Gehalt und das gesellschaftsverändernde Potenzial von Musik.116 Dass Lachenmann damit im Musikdenken der Gegenwart keine Ausnahme darstellt, illustriert Martin Kaltenecker mit Verweis auf Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jean-Luc Nancy. Der Themenkomplex von Hören und Wahrnehmung bilde mittlerweile geradezu einen Topos in Werkkommentaren und wissenschaftlichen Publikationen. Diese prominente Position im Diskurs führt Kaltenecker unmittelbar auf die Wirkungsgeschichte von Lachenmanns Texten zurück.117

Der Komponist hat sich eingehend mit dem Begriffsfeld des Hörens auseinandergesetzt und sein Hörverständnis unter Zuhilfenahme des Wahrnehmungs­begriffs präzisiert:

Der Begriff der Wahrnehmung ist abenteuerlicher, existentiell umfassender als der des Hörens: Er setzt alle syntaktischen Vorwegbestimmungen, alle Sicherheiten des Hörens aufs Spiel, er impliziert höchste intellektuelle wie intuitive Sensibilität und daran gebundene Aktivität des Geistes […].118

Trotz dieser Differenzierung verwendet Lachenmann ›hören‹ und ›wahrnehmen‹ häufig synonym. Eine weitere Unterscheidung trifft der Komponist zwischen einem auf einer verbindlichen Musiksprache und dem Nachvollzug konventioneller Strukturen basierenden ›Zuhören‹ und einem die akustischen Klangeigenschaften analytisch beobachtenden ›Hören‹ – Letzteres hat Lachenmann als bewusst gewordenes Wahrnehmen klanglicher Prozesse ins Zentrum seines musikästhetischen Denkens gestellt.119

Dieses gründet in der Vorstellung, dass sich in Hörenden von avancierter Musik eine existenzielle Veränderung vollzieht, die gleichzeitig deren Verhältnis zur sozialen Umwelt transformiert. Damit Musik im Wahrnehmungsvorgang eine solche Macht über die Individuen entfalten kann, ist es zunächst nötig, dass sie anders verfährt, als es die Hörenden gewöhnt sind – dass sie sich deren Erwartungshaltung verweigert. Der Begriff der Verweigerung nimmt in der Lachenmann-Literatur eine beherrschende Stellung ein – eine Stellung, gegen die der Komponist wiederholt Einspruch erhoben hat (siehe S. 2). Lachenmann verwehrt sich dagegen, auf den Begriff der Verweigerung reduziert und nolens volens als Oberhaupt einer Schule identifiziert zu werden, die diesen Begriff auf plakative Weise ausschlachtet. Ungeachtet solch partieller Dementis spielt der Verweigerungsbegriff in Lachenmanns Texten aus den 1970er-Jahren eine durchaus bedeutende Rolle. Dabei spezifiziert der Autor, worauf sich die Verweigerung konkret bezieht: »Seit temA und Air geht es in meiner Musik um streng auskonstruierte Verweigerung, Aussperrung dessen, worin sich mir Hör-Erwartungen als gesellschaftlich vorgeformt darstellen.«120 In »Zum Problem des musikalisch Schönen heute« heißt es:

Die Elemente der kompositorischen Individuation lassen sich unmittelbar in der komponierten Struktur und dort nicht anders denn als Verweigerung des Gewohnten, als latentes oder offenes Skandalon, als expressive Neubestimmung der aus der Verdinglichung aufgeschreckten Mittel nachweisen.121

Die Formel von der ›Verweigerung des Gewohnten‹ impliziert den Widerstand gegen die Normen des Ästhetischen Apparats; ihre rezeptionsästhetische Bedeutung liegt im Bruch mit Erwartungshaltungen – einem Bruch, der das Hören für neue Erfahrungen öffnen soll. Eine erste eingehende Auseinandersetzung damit ist in dem Text »Zur Analyse Neuer Musik« dokumentiert. Entgegen der von Lachenmann konstatierten Tendenz einiger Komponist*innen ›neuer Musik‹, auf ›Querfeldein-Kontakte‹122 mit dem Publikum zu spekulieren, sieht er es als Aufgabe avancierten Komponierens, sich Hörgewohnheiten konsequent zu verweigern. Dafür nennt er Beispiele aus der musi­kalischen Tradition:

Bach, Haydn, Mozart, Beethoven: Komponieren hieß schon für sie: mit der Klarheit und Selbständigkeit des denkenden Willens etablierte Formen und Normen sprengen und aus der Geborgenheit gesellschaftlich verankerter Kommunikationsgewohnheiten sich heraus in die Ungeborgenheit der eigenen Verantwortung gegenüber dem musikalischen Material wagen.123

Der Brückenschlag zwischen der Sphäre des Materials und jener des Hörens verdeutlicht nochmals, dass das Erkunden neuer Klänge für Lachenmann niemals Selbstzweck, sondern stets auf das Ermöglichen eines neuen Hörens gerichtet ist. Aufgabe von ›neuer Musik‹ ist es demnach, jene eingeschliffenen kommunikativen Muster zu durchbrechen, die sich im tonal geformten Bewusstsein westlich geprägter Rezipient*innen etabliert haben und als Bestandteile des Ästhetischen Apparats nach wie vor Geltung besitzen. Durch die Negation ästhetischer Normen wird somit die Wahrnehmung und mit ihr das Bewusstsein aus einer Art Trance geweckt, in die sie das Verdrängungssystem des Kulturbetriebs versetzt hat. Die Verweigerung dieser Normen bewirkt Lachenmann zufolge bei den Hörenden eine Verunsicherung, die das Hören aus den hergebrachten Bahnen der Gewohnheit wirft: »Das Moment der Irritation meiner Wahrnehmungsgewohnheiten halte ich für äußerst kostbar.«124 Um diese Irritation zu erreichen,

mußte ich immer wieder von den vorgegebenen tonalen Bezügen abzulenken versuchen, sie aussperren oder still legen, damit sie das Hören nicht wieder auf die alten Geleise ziehen. Nur in diesem Zusammenhang hat der Terminus ›Verweigerung‹ eine Bedeutung in meiner Musik. Vertrautes mußte ich verbergen, damit Unvertrautes dahinter wahrnehmbar wurde. Es ging mir von jeher weniger um neue Klänge als um ein verändertes Hören.125

Diese Irritation beschreibt Lachenmann auch als Brechung vorgegebener Strukturen.126 Ausschlaggebend ist dabei nicht die Komplexität der kompositorischen Faktur, sondern deren Verhältnis zu den Hörerwartungen der Rezipient*innen:

Denn das Entscheidende ist nicht die konzeptionelle Dichte des notierten Textes, sondern was die Friktion der komponierten Struktur mit jener Rezeptionsstruktur des Hörenden bewirkt, die über die musikalische Wahrnehmungsfähigkeit und ‑bereitschaft hinaus von unendlich vielen, aus der eigenen Existenz und ihrem historischen und gesellschaftlich-kulturellen Umfeld sich bestimmenden Komponenten sich bestimmt.127

Die Irritation, die aus der Frustration von Hörerwartungen hervorgeht, aktiviert also eine neue Qualität der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Verweigerung impliziert demnach neben dem negativen auch ein positives Moment, das Lachenmann als Angebot an ein verändertes Hören bezeichnet. In diesem Kontext sieht Lachenmann auch die Bedeutung von Provokation:

Provokation, das heißt: Ausbruch aus gedankenlos übernommenem Hörverhalten und zugleich Angebot an die Wahrnehmung: Angebot, anders zu hören, im Hören übers Hören nachzudenken, sich immer von neuem dem Ungewohnten zu öffnen, sich ihm auszusetzen und sich damit auseinanderzusetzen.128

Das ›neue Hören‹ zeichnet sich zunächst durch eine gesteigerte Sensibilität aus, die Lachenmann schon bei der Musik Luigi Nonos gefordert sieht:

Es ist das, was ich mit fortschreitender Sensibilisierung meine: Dinge, die wir erleben oder sehen, mal genauer anzuschauen. Das habe ich bei meinem Lehrer Nono gelernt, der immer wieder darauf hinwies, die Wahrnehmung selbst in dem Moment bewußt zu machen, wo wir anfangen zu hören.129

Die sensibilisierte Wahrnehmung bricht mit der Passivität, die Lachenmann als konstitutiv für das tonale Hörverhalten versteht: »In der Praxis bedeutet solches Hören Konzentration des Geistes, also Arbeit.«130 Weiters ist das neue Hören durch einen Nachvollzug des kompositorischen Aufbaus gekennzeichnet: »Ich habe Hören immer wieder gern bezeichnet als Abtastvorgang, welcher Rückschlüsse auf die im Werk wirkenden Bauprinzipien und darüber hinaus auf die zugrunde liegende expressive und ästhetische Haltung ermöglicht«131. In diesem Zusammenhang verwendet Lachenmann auch den Begriff des ›strukturell gerichteten Hörens‹132, das er als bewusstes Wahrnehmen beschreibt:

Für mich hat das Hören sehr viel mit bewußtem Beobachten zu tun. […] Das heißt, ich achte tatsächlich auf den tonlosen Zischer des Horns, der in einen Bek-k-enschlag [sic!] übergeht, ich erlebe akustisch die Unterschiedlichkeit. […]; solche Dinge meine ich mit botanisieren, im Grunde sind das akustische Informationen, die mich wachsam machen.133

Durch die Schärfung und gesteigerte Bewusstheit der Wahrnehmungsfähigkeit richtet sich das Hören zunehmend auf sich selbst. Wiederholt sind bei Lachenmann Formulierungen wie »sich selbst wahrnehmendes Hören«134 oder »sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung«135 anzutreffen:

Gemeint ist Musik, die den abendländischen Begriff von Kunst als reflektierter, vom Geist beherrschter Materie einlöst, indem sie den Blick auf die eigene Struktur und auf die Strukturhaftigkeit des Klingenden schlechthin zum Erlebnis der Selbsterfahrung für die Wahrnehmung macht und so immer wieder auf andere Weise ausbricht aus der falschen Geborgenheit, welche jener scheinbar reibungslos funktionierende und so verwaltete – gar unterrichtbare – Musikbegriff mitsamt seinen tabuisierten Kategorien verkörpert.136

Die reflexive Qualität der Wahrnehmung wird gekoppelt an einen ›abend­ländischen‹ Kunstbegriff, den eine spezifische reflexive Qualität auszeichne.137 Diese manifestiere sich im Vorgang der Bewusstwerdung einer »vom Geist beherrschten Materie«. Eine Musik, die die »Strukturhaftigkeit des Klingenden« thematisiert, bildet die Grundlage einer sich selbst wahrnehmenden Wahrnehmung – die reflexive Qualität, die sich in der Musik ausdrückt, greift also gleichsam auf die Hörenden über und zwingt sie, die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Gehörte, sondern auf das Hören selbst zu richten. Von der Reflexion des Hörens führt für Lachenmann ein logischer Schritt zu einer Auseinandersetzung der Hörenden mit sich selbst:

Musik verstehen muß einerseits heißen, seine eigene Vorprägung zu kennen […]. Musik verstehen heißt bereit sein, sich selber neu zu erkennen, und das bedeutet, um die eigene Vorprägung wissen. Und auf der Basis der Prägung geht es darum, sich auf Abenteuer und Veränderungen einzulassen.138

Diese Selbstreflexion der Hörenden wird ausgelöst durch eine existenzielle Erschütterung, welche die Einwirkung der Musik nach sich zieht. Das Verhältnis von Hörenden und Musik ist durchaus widersprüchlich: Erscheint der*die Hörende zunächst als überlegenes Subjekt, das die wahrgenommenen Strukturen durch einen Akt bewusster Erkenntnis dem Bereich der geistlosen Gewohnheit entzieht, so sieht sich das Individuum gleichzeitig schutzlos der Gewalt der Musik ausgesetzt:

Gute Musik – andere interessiert mich sowieso nicht – zwingt mich, nicht im unterdrückenden Sinn, und besser wäre vielleicht zu sagen: bezwingt mich; läßt mir keinen anderen Weg der Begegnung als den, neu und intensiv aufzumerken, mich im Hören schärfer zu konzentrieren (und glücklichere Entspannung als ästhetische Konzentration gibt es einfach nicht) und mich in gewisser Weise so auch selbst zu verändern und neu zu erfahren.139

Hier erscheint die Musik als Subjekt und das Individuum als Objekt einer Veränderung, die sich dessen Kontrolle entzieht. Die Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses geht für Lachenmann mit der Transformation vom ›Zuhörer‹ zum ›Hörer‹ einher, einer radikalen Erfahrung der eigenen Veränderbarkeit: Der Zuhörer

wird dort, wo die vertraute Sprache sich zersetzt hat, ›Hörer‹: körperlich-akustisch Wahrnehmender, der ohne vorgegebene Orientierung Zeit- und Klangraum abtastet – oder vielleicht sollte man sagen: Er selbst wird auf eine ihm ungewohnte Weise von der Musik abgetastet. Hören heißt so, sich selbst als Veränderter, aber auch als Veränderbarer neu erfahren. Hören heißt im Gegensatz zum mitvollziehenden Zuhören: sich radikal umorientieren, sich neu zurechtfinden müssen, heißt, im Ertasten ungewohnter Strukturen verborgene Räume in sich erschließen.140

Die Komposition, die sich überlieferten Kommunikationsmustern widersetzt, setzt also die gewohnte Wahrnehmung außer Kraft und an ihrer Stelle einen Prozess in Gang, der die Restitution des vom Kulturbetrieb beschädigten Ichs zur Folge hat. Der Impuls, der diese Neuorientierung auslöst, entspricht einer Erfahrung der Erschütterung, einer Art Schock, wie er zur genuinen Wirkungsweise der historischen Avantgarden gehört und auch von Adorno beschrieben wurde.141 Um diese radikale Umorientierung der Wahrnehmung zu beschreiben, verwendet Lachenmann den Begriff der ›Befreiung‹: »Was der Komponist zu ermöglichen hat, sind neue Formen des Hörens: Situationen befreiter Wahrnehmung durch die Neubeleuchtung und Umformung des Vertrauten.«142 ›Befreiung‹ ist einer jener Termini, die es Lachenmann erlauben, mit sprachlichen Mitteln einen Zusammenhang zwischen musikalischer und gesell­schaftlicher Ebene herzustellen. Die Verbindung zu Marcuse liegt auf der Hand: Dieser machte den Befreiungsbegriff 1969 zum titelgebenden Gegenstand eines Aufsatzes, der zum Grundlagentext der Studierendenrevolte avancierte. Darin definierte er individuelle Triebe und Bedürfnisse als maßgeblich für einen gesell­schaftlichen Umbruch, wobei er dem Ästhetischen »als eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft«143 zentrale Bedeutung zuwies. Neben dem Gedanken, dass eine »Revolution der Wahrnehmung«144 die notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung darstelle, dem in der Lachenmann-Literatur zu Recht eine Vorbild­funktion für die gesellschafts­kritische Ästhetik des Komponisten zugeschrieben wird, dürfte auch der für Lachenmann grundlegende Befreiungsbegriff wesentlich durch dessen Marcuse-Rezeption geprägt sein.145

Wie für Marcuse hat das Vorenthalten gewohnter Wahrnehmungsmuster, der Bruch mit »den routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens«146 auch für Lachenmann eine Befreiung der Wahrnehmung zur Folge, die sich mit einem Mal in Konflikt mit der gesellschaftlichen Realität befindet. Diese ist für Lachenmann von Unfreiheit geprägt – eine Sichtweise, in der Adornos Vorstellung vom spätmodernen Menschen ihren Widerhall findet, der einer totalen Kapitalmacht unterworfen ist:147

Eine freie, voraussetzungslose Wahrnehmung gibt es sowieso nicht. Allenfalls im Übergang vom gewohnten Hören zum strukturell neu bestimmten Beobachten blitzt jenes im Grunde unfaßbare Moment einer befreiten Wahrnehmung auf, welches uns beiläufig an unsere Unfreiheit erinnert und uns zugleich so [sic!] an unsere Bestimmung zu deren Überwindung, das heißt: an unsere Geistfähigkeit gemahnt.148

Durch die Konfrontation mit Musik, die mit den Normen des Ästhetischen Apparats bricht, springt gewissermaßen auch die normierte Wahrnehmung aus dem Gleis – eine Umorientierung, die sich nicht auf die Sphäre des Ästhetischen beschränkt, sondern sich auf die außermusikalische Wirklichkeit erstreckt, wodurch es zu einer Konfrontation mit den Normen der Gesellschaft kommt. Lachenmann entwirft also ein Modell des musikalischen Hörens, das zu einer kritischen Reflexion zunächst des Gehörten, dann des Hörens selbst und schließlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit führt. Letztere operiert in Form von kulturellen Verdrängungsmechanismen, welche die Individuen an der Selbsterkenntnis hindern.149

Dass sich die Art der Verbindung zwischen einer Selbstwahrnehmung des Hörens (bzw. der Hörenden) und einer kritischen Wahrnehmung der Gesellschaft nicht auf den ersten Blick erschließt, liegt daran, dass die Homologie zwischen sozialen und musikalischen Strukturen eine unhinterfragte Grundannahme des Lachenmann’schen Denkens darstellt, sodass sich die Auswirkung einer der beiden Sphären auf die andere automatisch zu vollziehen scheint:

Gerade dort, wo es um nicht mehr und nicht weniger als um die Mobilisierung von struktureller Wahrnehmung geht, gerät die so konzipierte Musik in automatischen Konflikt mit den geltenden Tabus und philharmonischen Spielregeln einer Gesellschaft, die sich ihr geliebtes Kulturspielzeug nicht nehmen lassen will […].150

Das In-Eins-Setzen von persönlicher Transformation und Gesellschaftskritik beruht auf einem unausgesprochenen Parallelismus ästhetischer, subjektiver und gesell­schaftlicher Strukturen:

[D]er direkte Weg zur Beeinflussung und Aufrüttelung des Menschen […] geht über dessen ästhetische Tabus. Denn dort schlägt sich – wohl unbewußt, dafür aber unbestechlich – das allgemeine Ideal nieder, welches ihm letztlich die Legitimation für sein gesellschaftliches Verhalten gibt. […] Wenn Kunst eine gesellschaftliche Berechtigung und Funktion heute hat, dann die, neue ästhetische Realitäten zu kommunizieren und zu reflektieren, und so dem Einzelnen den alten Boden wegzureißen, ihn zu zwingen, jene Verantwortung, die er bisher solchen irrationalen Instanzen zugeschoben hatte, auf sich selbst zu nehmen.151

Subjekt, Musik und Gesellschaft sind verbunden durch die gesellschaftlich geformten ästhetischen Tabus, die in einem Großteil der verfügbaren Musik wirken. Diese Argumentation erschließt sich vor dem Hintergrund einer Strukturäquivalenz von Musik und Gesellschaft, wie sie Adornos Musikphilosophie zugrunde liegt. Insofern die Gebote und Verbote der ästhetischen Tradition, insofern der Ästhetische Apparat durch gesellschaftliche Normen geprägt wurde (oder, um auf Adornos Begrifflichkeit zurückzugreifen: insofern »das ›Material‹ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist«152), führt ein Aufbrechen ästhetischer Tabus zu einer gesellschaftlichen Sensibilisierung oder – genauer gesagt – einer Sensibilisierung für gesellschaftliche Unterdrückungs­mechanismen.153 Mit dieser Reaktivierung geht auch ein Bewusstsein für die erfolgte Manipulation und die gesellschaftliche Gewalt einher, die das Individuum in seiner Wahrnehmungsfähigkeit beschnitten haben. In der aus der Psychoanalyse bekannten Annahme, dass Bewusstwerden gleich Veränderung sei,154 trennt die Erkenntnis der Unfreiheit in Lachenmanns Augen ein vergleichsweise kleiner Schritt von ihrer Überwindung:

In solchen Grenz- oder gar »Krisen«-Situationen [der Herausforderung des Hörens, Anm. d. Verf.] fängt unser Hören an, sich selbst und die eigenen spontanen Reaktionen zu beobachten, sich seiner so irritierten Wertvorstellungen zu erinnern. Darüber hinaus wird der so in Bewegung geratene Geist an seine Unfreiheit als gesellschaftlich verwalteter und zugleich an seine Fähigkeit erinnert, diese zu überwinden, über die Wahrnehmung des Akustischen hinaus die Gesamtsituation zu verstehen, in der solche »Provokation« sich ereignet und auf die sie reagiert.155

Lachenmann begreift die Wahrnehmung also als zentrale Schnittstelle von Musik und Gesellschaft. Materialtechnische Innovation ist niemals Selbstzweck, sondern dient der Ermöglichung eines veränderten Hörens. Dieses richtet sich in zunehmender Reflexivität zunächst auf das ästhetische Gebilde, in weiterer Folge aber auch auf sich selbst und schließlich auf die Gesellschaft, deren Normen und Tabus jenen der Ästhetik als Grundlage dienen. Auch wenn die Ebene der Gesellschaftsveränderung bei Lachenmann nur gestreift wird, erschließt sich aus dem Gesagten, dass eine Veränderung der Wahrnehmung die Grundlage eines veränderten und verändernden sozialen Handelns bildet.

Der erste Hauptteil dieses Buches – die »Innenansicht« – hatte eine Klärung der begrifflichen Grundlagen zum Ziel, auf denen Die Politik des Kritischen Komponierens basiert. Dabei galt die Aufmerksamkeit zunächst »Lachenmann als Autor«, um die Rolle zu umreißen, die die Textproduktion des Komponisten im Diskurs über das ›kritische Komponieren‹ spielt. Trotz der erstaunlichen Konsistenz dieses ein halbes Jahrhundert umfassenden Textkorpus zeigt sich ab den 1990er-Jahren eine wesentliche Verschiebung: Denkmuster aus dem Umfeld der Neuen Linken weichen zunehmend einem Denken in bildungsbürgerlicher Tradition, das mit einem exklusiven Kunstbegriff und kulturkritischen Tendenzen einhergeht. An die Stelle von dezidiert politischen Positionsnahmen treten immanent politische Aspekte – dazu zählt neben dem anhaltenden Streben nach einer Irritation der Wahrnehmung die implizite Annahme einer Überlegenheit der europäischen Kultur.

Weiters wurden »Offene und verdeckte Bezüge« aufgezeigt, die Lachenmanns Schriften intertextuell mit jenen Theodor W. Adornos, György Lukács’ und Luigi Nonos verschränken. Dabei zeigte sich, dass die zweite der auf S. 16 beschriebenen Dimensionen des Politischen bei Lachenmann – die gesellschaftliche Wirkungsabsicht – maßgeblich auf dessen konzeptuelle Nähe zu Adorno zurückzuführen ist. Die Parallelen zu Lukács werden hingegen von beträchtlichen Diskrepanzen konterkariert. Lachenmanns Beziehung zu Nono berührt wiederum die explizit politische Ebene: Wie gezeigt wurde, changiert Lachenmanns Verhältnis zu der kommunistischen Position seines Lehrers zwischen Aneignung und Abgrenzung.

Schließlich thematisierte der erste Teil »Zentrale Konzepte in Lachenmanns Texten«, die auf die darin manifeste gesellschaftliche Wirkungsabsicht hin untersucht wurden. Dabei wurde das musikalische Material in Weiterführung von Adorno als jener Ort bestimmt, an dem der gesellschaftliche Gehalt von Musik zum Ausdruck kommt. Trotz der negativen Bezugnahme auf die überlieferte musikalische Sprache besitzt Musik für Lachenmann insofern Sprachcharakter, als sie auf Strukturen außerhalb ihrer selbst verweist.

Die überlieferten musikalischen Mittel erscheinen so als homologes Spiegelbild gesellschaftlicher Normen, deren radikale Reflexion im ästhetischen Medium wiederum auf diese Normen zurückwirkt. Mit dem Begriff des ›Ästhetischen Apparats‹ verschiebt Lachenmann den zentralen Schnittpunkt von Musik und Gesellschaft schließlich vom Material hin zur Wahrnehmung, deren Irritation mit Marcuse über die ästhetische Sphäre hinauswirkt und in einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Unterdrückungsmechanismen resultiert.

Endnoten


  1. Eine Frühfassung von Kapitel 4.3 erschien bereits 2021 als Teil des Aufsatzes »Musikalische Wahrnehmung – ein gesellschaftsverändernder Prozess?«, in: Wahrnehmen als soziale Praxis. Künste und Sinne im Zusammenspiel, hg. von Christiane Schürkmann u.a., Wiesbaden 2021, S. 87-108, hier S. 87-93. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Springer VS. Dieses Kapitel ist daher von der CC BY-NC Lizenz ausgenommen.↩︎

  2. Martin Kaltenecker, »Was ist eine reiche Musik? Laudatio auf Helmut Lachenmann«, in: MusikTexte (2012), Heft 134, S. 37-40, hier S. 39.↩︎

  3. Lachenmann, »Von verlorener Unschuld«, S. 142.↩︎

  4. Lachenmann, »Hören ist wehrlos – ohne Hören«, S. 116-121; Clemens Gadenstätter und Christian Utz, »Klang, Magie, Struktur. Ästhetische und strukturelle Dimensionen der Musik Helmut Lachenmanns. Podiumsdiskussion mit Helmut Lachenmann an der Kunstuniversität Graz (21. November 2005).«, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann, hg. von Christian Utz u.a., Saarbrücken 2008, S. 13-66, hier S. 28. Auch Lydia Jeschke bezieht sich auf diese Differenz und sieht Lachenmanns ›neues Hören‹ als ein Hören, das den Selektionsprozess der traditionellen Musikrezeption außer Kraft setzt. Lydia Jeschke, »Hören ohne zu und auf? Gedanken über einen Begriff mit Tradition«, in: Auf()und zuhören. 14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, hg. von Hans-Peter Jahn, Hofheim 2005, S. 27-34, hier S. 27-28.↩︎

  5. Lachenmann, »Selbstporträt 1975«, S. 154.↩︎

  6. Lachenmann, »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, S. 108-109.↩︎

  7. Vgl. Kapitel 4.2, S. 87.↩︎

  8. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 24.↩︎

  9. Helmut Lachenmann, »Herausforderung an das Hören. Gespräch mit Reinhold Urmetzer«, in: MaeE3, S. 352-356, hier S. 355.↩︎

  10. Ebd.↩︎

  11. Vgl. Lachenmann, Kunst in (Un)Sicherheit bringen, S. 3.↩︎

  12. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«, S. 93.↩︎

  13. Helmut Lachenmann, »Nachzutragende Gedanken«, in: MaeE3, S. 335.↩︎

  14. Hilberg, »›Nicht hörig, sondern hellhörig‹«, S. 91.↩︎

  15. Lachenmann, »Hören ist wehrlos – ohne Hören«, S. 118.↩︎

  16. Lachenmann, »Vom Greifen und Begreifen – Versuch für Kinder«, S. 164.↩︎

  17. Helmut Lachenmann, »›… zwei Gefühle …‹«, in: MaeE3, S. 402.↩︎

  18. Hilberg, »›Nicht hörig, sondern hellhörig‹«, S. 92.↩︎

  19. Vgl. Lachenmann, »Von Nono berührt«, S. 302.↩︎

  20. Lachenmann, »Hören ist wehrlos – ohne Hören«, S. 117.↩︎

  21. Helmut Lachenmann, »Vier Fragen zur Neuen Musik«, in: MaeE3, S. 357.↩︎

  22. Vgl. Kapitel 5.5.↩︎

  23. Hilberg, »›Nicht hörig, sondern hellhörig‹«, S. 92.↩︎

  24. Lachenmann, »Herausforderung an das Hören«, S. 353.↩︎

  25. Lachenmann, »Accanto«, S. 169.↩︎

  26. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 26, 131 und passim.↩︎

  27. Lachenmann, »Von verlorener Unschuld«, S. 142.↩︎

  28. Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 1969, S. 48.↩︎

  29. Ebd., S. 61.↩︎

  30. Vgl. z.B. Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 122; Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 20; Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 54; Nyffeler, »Sich neu erfinden, indem man sich treu bleibt«, S. 3.↩︎

  31. Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 19.↩︎

  32. Vgl. zum Begriff ›Unfreiheit‹ auch Kapitel 3.1.↩︎

  33. Lachenmann, »Von verlorener Unschuld«, S. 142.↩︎

  34. Vgl. Lachenmann, »Zum Problem des Strukturalismus«, S. 91: »Die Gesellschaft, in der wir leben, ist geprägt nicht bloß von den Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt weiß, geprägt vielmehr von ihren Verdrängungen solcher Bedrohungen, geprägt im ästhetischen Bereich aber von billig verfügbarer Magie und der per Knopfdruck abrufbaren Emphase, von wohlig erlebter Exotik und ängstlich beschworener Illusion von Geborgenheit in einer Welt, die alles Irritierende vorsorglich zur ›Dissonanz‹ eingemeindet«.↩︎

  35. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 345.↩︎

  36. Lachenmann, »Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik«, S. 256.↩︎

  37. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 39.↩︎

  38. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 39: »Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete«.↩︎

  39. »In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben«. Sigmund Freud, »Nachwort zur ›Frage der Laienanalyse‹«, in: Gesammelte Werke 14, hg. von Anna Freud, London 1948, Nachdruck 1955, S. 287-296; hier S. 293-294.↩︎

  40. Ryan, »Musik als ›Gefahr‹ für das Hören«, S. 17.↩︎