5.3 Zwischen Fortschritt und Konservatismus



Als kompositorische Strömung, die der Avantgarde zuzurechnen ist, ist auch das Kritische Komponieren vom Geist des Fortschritts durchdrungen. So bemerkt Nonnenmann in Bezug auf Lachenmann:

Das Kontinuum einer bürgerlich revolutionären Musiktradition, auf das sich Lachenmann mit seinem Begriff der »latenten Tradition« stützt, wird also nicht durch die mehr oder minder reflektiert angewandte Regelhaftigkeit von Satz‑, Form- und Gattungsnormen verbürgt, sondern durch die genuin modernistische Auffassung der Kompositionsgeschichte als Problemgeschichte, wonach gemäß den Originalitäts-‑, Emanzipations- und Fortschrittsparadigmen von Werk zu Werk die Grundlagen des Komponierens immer wieder erneut zu problematisieren und neu zu definieren sind.156

Das Zitat offenbart bereits die Dialektik von Fortschritt und Tradition, die gleich näher behandelt werden soll. Zunächst soll jedoch anhand von Lachenmanns eigenen Texten das Moment des Fortschritts in den Blick genommen werden. Auf lexikalischer Ebene fällt die häufige Verwendung von Ausdrücken wie ›regressiv‹ oder ›Restauration‹ sowie generell von Begriffen auf, die dem Wortfeld des Gewohnten, aber zugleich auch Verbrauchten und Überholten angehören. In »Zur Analyse Neuer Musik« bezeichnet Lachenmann das »Kyrie« aus Ligetis Requiem als Sammlung

bewußt um ihrer geläufigen Wirkung willen geborgter Klischees der bürgerlichen tonalen Musikerfahrung […]. Die spekulative Demagogie solcher tausendfach erprobten Crescendo-Entwicklung, die fromme Inbrunst der sich in die Höhe windenden Chormassen […] sind Requisiten einer Ästhetik, deren bewußte Restauration allenfalls im opportunistischen Sinne reflektiert genannt werden kann. Denn nicht nur unbewußt oder bloß verschämt sind hier die Hörkategorien einer vernutzten Ästhetik in ein modernistisches Gewand geschlüpft, sondern bewußt hat sich hier das Musikdenken mit verstaubten Querfeldein-Erwartungen identifiziert und sieht in dieser bewußten Regression seine Verdienste als Befreiung der Musik aus der Sackgasse des seriellen Denkens.157

Neben ideologischen Motiven hat die Polemik gegen Komponisten wie Ligeti oder Penderecki aber auch eine materielle Dimension, die aus der erzwungenen Rivalität um begrenzte ökonomische Ressourcen – nicht zuletzt auch innerhalb der ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ – erwächst. Auf die Verflechtung ästhetischer Auseinandersetzungen mit ökonomischen Verteilungs­kämpfen wird in Kapitel 7.4 ausführlich eingegangen. Auf diskursgeschichtlicher Ebene entstammen die Kritik an der Erstarrung des bürgerlichen Musiklebens sowie das Verdikt der Restauration und Regression unzweideutig dem Begriffsarsenal der Kritischen Theorie – namentlich derjenigen Adornos –, dessen sich Lachenmann hier virtuos bedient, um den Gegner in die Knie zu zwingen. Mit solchen Aussagen verortet sich Lachenmann im Wirkungsbereich einer Fortschrittsästhetik, die einen Rückfall hinter den einmal erreichten Stand des Materials als Sakrileg verdammt.

Allerdings weist nicht nur Nonnenmann darauf hin, dass Fortschritt und Tradition in der Musikästhetik keine absoluten Gegensätze darstellen, sondern dialektisch aufeinander bezogen sind:

Obwohl der Begriff der Tradition gemeinhin der wichtigste Gegenbegriff zu dem der Modernität zu sein scheint, können Begriffe wie Kritik, Rationalität, Emanzipation und Fortschritt nicht ausschließlich als Gegenbegriffe zur Tradition gelten, da sie längst selber Traditionen gebildet haben, die kaum weniger geschichtsmächtig sind, als die unreflektierte, unmittelbare.158

So verwundert es nicht, wenn neben den erwähnten fortschrittlichen Tendenzen in Lachenmanns Texten auch rückwärtsgewandte Momente auszumachen sind. Diese manifestieren sich zum einen auf inhaltlicher Ebene als Bestandteile von Lachenmanns ästhetischem Denken. So bemerkt etwa Brinkmann, dass ›Handwerk‹ und ›Metier‹ für Lachenmann unentbehrliche Bestandteile des Komponierens sind, und verweist auf Hans Zenders Charakterisierung von Lachenmanns Festhalten am Werkbegriff als »konservative[m] Aspekt der Avant­garde«159. Hier ist auch Lachenmanns Geringschätzung elektronischer und improvisierter Musik zu nennen – handelt es sich dabei doch ebenfalls um Musikformen, die nicht dem Werkgedanken genügen.160 In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Komponist bereits in seinem frühen Aufsatz »Klangtypen der Neuen Musik« jene Klangcharakteristik, die für sein Komponieren von paradigmatischer Bedeutung ist – den ›Strukturklang‹ –, mit der Idee des geschlossenen Werkes in Verbindung bringt:

Und so ist der Gedanke vielleicht verwegen, aber keineswegs abwegig, sondern absolut zwingend, daß es sich bei jedem geschlossen konzipierten Werk – gleichgültig, ob seine Abmessungen die einer mehrstündigen Wagner-Oper, vielleicht gar des ganzen Rings, oder die eines siebentaktigen Webern-Satzes sind – um einen einzigen Strukturklang handelt.161

In die Kategorie konservativer Momente in Lachenmanns ästhetischem Denken fällt auch der Umstand, dass der Komponist sich in seiner Serialismus-Kritik auf Schönberg stützt und somit eine neuere Ästhetik durch den Rekurs auf eine vorangegangene verwirft. Ebenso lässt sich sein Festhalten am traditionellen Instrumentarium, das wiederum mit seiner Ablehnung der Elektronik einhergeht, als konservativ beurteilen.162

In Lachenmanns früheren Schriften sticht indes vor allem seine ablehnende Haltung gegenüber weiten Bereichen der zeitgenössischen Kunstmusik ins Auge. In »Zur Analyse Neuer Musik« kritisiert der Komponist das Musikschaffen der jüngeren Vergangenheit – also der 1950er- und 1960er-Jahre –, dem er pauschal das Abzielen auf ›Querfeldein-Kontakte‹, also das Spekulieren auf tonale Wirkungen bei den Hörenden, zum Vorwurf macht:

Das Musikdenken, so wie es sich über Schönberg, Berg und Webern zur seriellen Musik hinentwickelt hatte, ist heute in einer Regression begriffen, und das Fatale dabei ist, daß sich diese Regression als besonders typischer Schritt nach vorne verstanden wissen will und mit dialektischer Akrobatik sich anschickt, die alten tonalen Tabus und zugleich die inzwischen salonfähig gewordene revolutionäre Attitüde im künftigen Musikkonsum nebeneinander unversehrt unterzubringen.163

Obwohl Lachenmann hier im Sinn des Fortschritts argumentiert, macht seine Kritik auch vor meist als progressiv wahrgenommenen Strömungen wie der seriellen Musik nicht halt. Es scheint gerade die Behauptung eines fortschrittlichen Selbst­verständnisses zu sein, auf die es der Komponist abgesehen hat. Auf die Komposition Flugblätter seines Zeitgenossen Wolfgang Hamm zielend, schreibt Lachenmann:

Das alte beliebte Gesellschaftsspiel »Épatez le bourgeois« wird hier einfach um eine Variante bereichert, in welcher die Querfeldein-Aggressivität einer Pseudo-Avantgarde sich überschlägt und in außermusikalischen Disziplinen, angesiedelt zwischen Kabarett und moralischer Belehrung, landet. Dieses Beispiel mag stehen für all die vielen Versuche, welche die Hantierung mit außermusikalischen Disziplinen als verzweifeltes Non-plus-ultra einer bürgerlichen Vorstellung von Progressivität an die Stelle musikalischen Denkens stellen möchten. Musik als verbale Agitation, Musik als optische Erfahrung, Musik zum Lesen, Musik als organisierter Lunapark: Solche Form des musikalischen und künstlerischen Selbstmords bewirkt weniger als nichts, sie stabilisiert und vereint die bürgerlichen Vorstellungen von Kunst als Medium erbaulicher Unterhaltung und von Avantgarde als behördlich anerkanntem Bürgerschreck.164

Freilich verurteilt Lachenmann nicht die Provokation an sich, würde dieses Urteil doch auch sein eigenes Komponieren treffen – vielmehr ist es ihm um die absichtsvolle Provokation, die Provokation um ihrer selbst willen zu tun. Dennoch erfasst seine Kritik nolens volens all jene Komponist*innen, deren Musik im Entstehungszeitraum des Textes als provokant empfunden wurde. Insbesondere gilt sie dabei den sparten­übergreifenden sowie den mit Ironie, Humor und Subversion arbeitenden Musik­formen, deren Wurzeln im Fluxus liegen und deren prominentester und folgenreichster Vertreter, John Cage, hier ungenannt bleibt.

Nach einer gewissermaßen von Nono geerbten Haltung fundamentaler Opposition äußert sich Lachenmann verschiedentlich respektvoll-differenziert über Cage,165 den er 1990 in einem Gespräch mit dem US-ameri­kanischen Komponisten hinsichtlich der Reflexion des Musikbegriffs gar auf eine Ebene mit Nono stellt.166 In »Zur Analyse Neuer Musik« richtet sich sein scharfzüngiger Rundumschlag jedoch gegen alle in der Einflusssphäre von Fluxus operierenden, vornehmlich europäischen Komponist*innen, für die Hamm als Beispiel herhalten muss, die jedoch auch Namen wie Dieter Schnebel oder Mauricio Kagel umfassen.

Wenn Lachenmann also – an das dominante Fortschrittsnarrativ des Marxismus anknüpfend – gerade die exponiertesten Erscheinungen der ›neuen Musik‹ als bürgerlich denunziert oder als »surrealistischen Gag«167 und »aggressive Provokation«168 verurteilt, trifft er gerade jene musikalischen Tendenzen der 1960er-Jahre, die mit der Öffnung der Musik zu benachbarten Kunstformen, der Überschreitung des Werkbegriffs und dem verspielt-experimentellen Abbau der Schranken zwischen Kunst und Alltag wesentliche Anliegen der Avantgarde realisierten.169

In dem 16 Jahre nach »Zur Analyse Neuer Musik« entstandenen Vortrag »Komponieren im Schatten von Darmstadt« gelangt Lachenmann zu einem milderen Urteil über die im Darmstadt der 1950er- und 1960er-Jahre federführenden Komponisten. Dennoch grenzt er sich auch hier erneut ab gegenüber

jenem mit Aufgeklärtheit und Scheinradikalität auftrumpfenden ›Épatez-le-bourgeois‹ in meiner näheren und ferneren Umgebung, welches den musikalischen Werkbegriff in manieriert-bilderstürmerischer Weise in Frage stellte […].170

Wiederum gilt sein Verdikt gerade jenen Phänomenen, die durch das Hinterfragen des Werkbegriffs als fortschrittlich gelten könnten.171 Mit besonderer Vehemenz verurteilt Lachenmann wiederum »die vielfachen Varianten von Happenings, Performances, Improvisationen, Environments […], zusammengeschusterte und prätentiös aufgeplusterte Mini-Gesamtkunstwerke, aber auch jene in dieser Zeit nach symphonischem Glanz schielenden Struktur-Akademismen nach dem Muster der ›polnischen Schule‹«172, die ihm als Symptome einer ästhetischen Stagnation in den 1970er-Jahren gelten, welche »die Zeit der innovativen beziehungsweise aufgeklärten Restauration«173 der 1960er-Jahre abgelöst habe. Wiewohl sich der Komponist mit seinem Einspruch gegen ›Restauration‹ und ›Stagnation‹ einer progressiven Rhetorik bedient, trifft sein Urteil primär jene experimentellen Erscheinungen des Musiklebens, die in der Überschneidung mit anderen Kunstsparten eine Erweiterung des Musikbegriffs anstreben.

In Lachenmanns jüngeren Schriften fällt der Tonfall gegenüber manchen Tendenzen der aktuellen Kunstmusik tendenziell noch polemischer aus. Auch in dem 2016 erschienenen Text »Komponieren am Krater« argumentiert der Autor vordergründig aus einer progressiven Position, wenn er den »konzeptualistischen«174 Ansatz in der zeitgenössischen Musik als veraltet kritisiert. Allerdings ist diese Fortschrittsorientierung auch hier alles andere als eindeutig – so charakterisiert Lachenmann den Konzeptualismus auch als Symptom für »Orientierungslosigkeit«175 sowie für »unaufhaltsame Verblödung«176, »Bewusstseinsverkümmerung«177 und »Impotenz«178 und bedient sich so einer Metaphorik des kulturellen Niedergangs, die für ein konservatives und kulturpessimistisches Denken kennzeichnend ist.179 Weiters beurteilt Lachenmann das konzeptuelle Komponieren als »verhängnisvoll«, weil es »bürgerliche Einrichtungen« zur »Vermittlung von Kunst«180 gefährde, und erblickt darin gar ein Beispiel jenes kulturellen Verfallsprozesses, der auch politische Phänomene wie die AfD oder Pegida generiere. Im selben Text fordert Lachenmann den Schutz »jenes mir kostbaren Kunstbegriffs, so wie er in der europäischen Geistesgeschichte […] zu sich selbst gefunden hat«181, und verurteilt die »Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der Tradition«182.

Einen Zusammenhang zwischen Kritischem Komponieren auf der einen und konservativem Denken auf der anderen Seite hat auch Ferdinand Zehentreiter in Bezug auf Nikolaus A. Huber festgestellt. Dieser argumentiere in seinem Text »Kritisches Komponieren«183 im Geist einer »totalistic critique of modernity«184, mit der ihn »a similar oscillation between a neo-conservative and a slightly simplified neo-Marxist critique of reification«185 verbinde. Hubers Trugschluss bestehe darin, einen Gegensatz zwischen dem Menschen als Individuum und der entfremdeten Gesell­schaft zu konstruieren und dabei zu übersehen, dass die menschliche Natur für Marx immer schon sozial verfasst sei und Emanzipation nur im Rahmen der modernen Ausdifferenzierung der Gesellschaft stattfinden könne. Auch Hubers Kritik an der Werkautonomie missverstehe diese als Ausdruck einer technokratischen Moderne, weshalb er zur Aufladung der Musik mit außermusikalischen Inhalten Zuflucht nehme. In der Folge führt Zehentreiter Lachenmann als positives Gegenbeispiel ins Treffen, da dieser die Notwendigkeit der Werkautonomie und einer musikimmanenten Kritik erkannt habe. Dennoch lässt sich Zehentreiters anfängliche Charakterisierung von Hubers Moderne-Kritik auf Lachenmann ausweiten – nimmt doch auch dieser vor einer als entfremdet gedachten Gesellschaft Zuflucht zu einem heroischen Konzept des (individuellen) Menschen, womit er sich konservativen Positionen annähert.186

Solche augenscheinlich rückwärtsgewandten Tendenzen in Lachenmanns Texten lassen sich indessen nur im Kontext der Kritischen Theorie begreifen, die den intellektuellen Nährboden bildet, aus dem das Kritische Komponieren im Allgemeinen und Lachenmanns Musikdenken im Speziellen hervorgehen: Auch diese Denkschule weist – ihrer progressiven Grundhaltung zum Trotz – mehr Parallelen zu konservativen Strömungen auf, als ihre Vertreter offen zuzugeben bereit waren. So bringt Reinhard Mehring »zahlreiche, oft uneingestandene, manchmal auch verdeckte Gemeinsamkeiten«187 zur Sprache, welche die Kritische Theorie mit der zeitgleich in der Weimarer Republik entstandenen ›Konservativen Revolution‹ verbinde. Neben Parallelen zwischen Adorno und Heidegger konstatiert Mehring bei Stefan Breuer, einem jüngeren Vertreter und Chronisten der Kritischen Theorie, eine wertschätzende Haltung gegenüber Positionen dieser konservativen Bewegung. Diese Wertschätzung komme etwa in Breuers positiver Bezugnahme auf die Zivilisationskritik Friedrich Georg Jüngers zum Ausdruck, eines Autors, dessen konservative Grundeinstellung ihn von Haus aus vor der »geschichtsphilosophisch verblendete[n] Fortschrittsideologie des Marxismus«188 bewahre. Somit bildet die skeptische Haltung gegenüber dem Fortschritt in Mehrings Augen eine Gemeinsamkeit zwischen Positionen der Kritischen Theorie und solchen der Konservativen Revolution.

Rolf Wiggershaus wiederum weist darauf hin, dass die Vertreter der Kritischen Theorie und Jungkonservative wie Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky teilweise zu analogen Ergebnissen gelangt seien. So begegneten einander die Exponenten augenscheinlich gegensätzlicher Geisteshaltungen in ihrer Kritik an der Konsumorientierung der Massen sowie den technokratischen und normierenden Aspekten der Aufklärung (die sich bei Horkheimer und Adorno, anders als etwa bei Schelsky, allerdings in einer reflexiven Weiterführung des aufklärerischen Projekts und nicht in offener Gegnerschaft manifestierte). Die als konservativ zu deutenden Elemente in Lachenmanns Denken stehen also nicht für sich, sondern lassen sich vielmehr im Licht vergleichbarer Tendenzen innerhalb der Kritischen Theorie interpretieren.189

Bemerkenswert ist, dass sich manche von Lachenmanns Aussagen zu Fragen der Zugänglichkeit von Musik, der Bewertung sogenannter E- und U-Musik oder des Publikums in einen kulturpessimistischen Diskurs einschreiben, der sich im 19. Jahrhundert herausbildete und auch im späten 20. Jahrhundert noch fallweise aufgerufen wird. Fritz Stern zufolge stellten nationalkonservative Kulturpessimisten des 19. Jahrhunderts wie Paul de Lagarde, Moeller van den Bruck oder Julius Langbehn »all das zusammen, was an der industriellen Zivilisation Deutschlands unbefriedigend war, und warnten eindringlich vor dem Verlust von Glauben, Einheit und ›kulturellen Werten‹.«190 Die von ihm auch als ›konservative Revolutionäre‹ bezeichneten Denker

kritisierten jeden Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft und den Materialismus, den sie ihr zuschrieben. Sie prangerten die geistige Leere des Lebens in einer verstädterten, kommerziellen Zivilisation an und beklagten den Niedergang von Geist und Tugend in einer Massengesellschaft.191

Über das Bindeglied Thomas Mann, den Lachenmann in seinem 2009 erschienenen Aufsatz »Kunst und Demokratie« ausführlich zitiert, lässt sich eine Traditionslinie vom kulturpessimistischen Denken des 19. Jahrhunderts bis zu den Schriften Lachenmanns ziehen. Dieser beginnt den Text mit einem Zitat aus Manns Rede zum 150. Todestag Friedrich Schillers vom 5. Mai 1955.192 Darin ist von einer »Regression«193 bzw. einem »Kulturschwund«194 die Rede, der in den vorangegangenen 50 Jahren zu verzeichnen gewesen sei. Die beiden Weltkriege hätten

das intellektuelle und moralische Niveau […] tief gesenkt […]. Ohne Gehör für seinen [Schillers, Anm. d. Verf.] Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe […] taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen.195

In den darauffolgenden Ausführungen knüpft Lachenmann in verschiedenen Punkten an die von Mann exponierten Motive an. Davor aber führt er eine weitere Denkfigur ein, nämlich die Skepsis gegenüber der Demokratie, wobei dieser Begriff zunächst auf den Bereich der Künste bezogen wird:

Ich könnte ansetzen beim uralten, durchaus begründeten Misstrauen des Kunstschaffenden im Blick auf den Begriff und die Idee der »Demokratie«, insofern dieser Begriff im ästhetischen Bereich den unreflektierten Respekt vor einer angenommenen Autorität der Mehrheit impliziert […].196

Lachenmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Ausspruch des Fürsten Sapieha in Schillers Demetrius: »Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn«197, um in der Folge konkrete Zweifel an den gegenwärtigen Manifestationen von Demokratie im Bereich staatlicher Politik zur Sprache zur bringen. Diese Zweifel begründet Lachenmann zum einen mit der Unredlichkeit von Politiker*innen, zum anderen aber auch mit einem immanenten Konflikt zwischen dem Willen des ›Volkes‹ und der Autonomie des Einzelnen.198 Ein positiver Demokratiebegriff sei nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich ein Bewusstsein von Gemeinschaft mit dem »Gedanken an unsere Geistfähigkeit«199 verbinde.

Während sich Lachenmanns Skepsis – wie es der gesellschaftliche Konsens der Entstehungszeit nahelegt – nur auf bestimmte Aspekte von Demokratie bezieht, stellt ein generelles Misstrauen gegenüber demokratischen Regierungs­formen ein Leitmotiv bei den Autoren der ›Konservativen Revolution‹ dar. Diese sahen die Demokratie Stern zufolge als Bedrohung für die Freiheit des Individuums und als Ausdruck von Mittelmäßigkeit.200 Die Rede vom ›Geist‹ stelle wiederum einen beliebten Topos des Kulturpessimismus dar, der einen Großteil seines Vokabulars aus der rhetorischen Restmasse des deutschen Idealismus beziehe.

Lachenmann nimmt in Zusammenhang mit der Problematisierung des Demokratiebegriffs seinerseits auch die Medien aufs Korn:

Zum Überdruss an der Demokratie tragen auch die gewissenlos um hohe Einschaltquoten bemühten Medien bei mit hochbezahlten Protagonisten der kollektiven Verblödung für eine scheinbar selbstzufriedene Spaß- und Spießgesellschaft.201

In einem polemischen Statement für den Katalog zum Festival Wien Modern 2018 treibt Lachenmann die Journalismuskritik in Verbindung mit dem Vorbehalt gegenüber der Demokratie und einer umfassenden Zeit- und Kulturkritik noch weiter auf die Spitze:

Karl Kraus machte – ziemlich einseitig gezielt – die Journalisten verantwortlich für die »Blödmacherei«, die nicht zuletzt zum Ersten Weltkrieg bzw. in »die letzten Tage der Menschheit« geführt habe. […] Ich beobachte auf meine alten Tage den Krebsbefall der Demokratie, nämlich eine intransitiv aus der satten bürgerlichen Verformung des zivilisierten Menschen, und ich gehörte auch dazu, kommende, offensichtlich nicht aufzuhaltende, auch in unsere wunderbaren Einrichtungen zur Vermittlung von Kunst einsickernde Verblödung, im weiten kommerziell verwalteten Alltag, in der Politik, in der Kultur, die natürlich weithin und legitim »Entertainment« bedeutet, aber inzwischen leider einsickernd auch in jene »Szene«, die als der Kunst, dem einzigen potentiellen Angebot gegen solche »Entwicklung« gewidmete, die sich sich [sic!] dem entgegen stellen könnte.202

Hier werden gleich mehrere im Kulturpessimismus dominierende Motive miteinander kurzgeschlossen: die ›Verblödung‹ bzw. ›Blödmacherei‹, die Kritik an den Medien, die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand der Demokratie und eine alle Sphären der Gesellschaft erfassende Zivilisationskritik. Was die Vorwürfe gegenüber der Presse betrifft, so bilden diese Stern zufolge ebenfalls einen roten Faden im Kulturpessimismus des 19. Jahrhunderts.203

Doch die Parallelen gehen noch weiter: Mit dem Begriff der ›Verblödung‹ knüpft Lachenmann an Manns Metaphorik des Niedergangs an (»Regression«, »Kulturschwund«, »das intellektuelle und moralische Niveau […] tief gesenkt«, »eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit«, »ihrem […] Abgrund entgegen [taumeln]«). Dieses Arsenal an Verfallsbeschreibungen bildet auch eine deutliche Verbindung zu dem von Stern beschriebenen kulturpessimistischen Diskurs, in dem unter anderem die Degeneration von Glaube, nationaler Einheit, kulturellen Werten, Geist, Moral, Bildung und Individualität beklagt wird.204

Von ›Verblödung‹ ist auch in einem von Lachenmanns jüngeren Aufsätzen, dem Essay »Komponieren am Krater« von 2016 die Rede:

Ich brauche diese Erfahrung [autonomer Kunst, Anm. d. Verf.] wie reine Luft oder frisches Wasser und halte sie für die unverzichtbare Ergänzung und von unsereinem mitzuverantwortenden Teil unseres Einsatzes für ein humaneres Zusammenleben, wenn dieser, wo er materiell gelingt, nicht gleich wieder zu jener Verblödung führen soll, in der wir hierzulande als saturierte Glückspilze zu dem verkommen, was ich – nicht zum ersten Mal – die Spaß- und Spießgesellschaft nenne.205

Im Begriff der ›Verblödung‹ kommt einerseits der Gedanke einer von ›oben‹ gelenkten, gezielten Verdummung der Bevölkerung zum Ausdruck, wie ihn Lachenmann Adornos kulturkritischem Denken entlehnt haben dürfte (das sich im Übrigen – wenn auch unter entgegengesetztem politischem Vorzeichen – gerade in sprachlicher Hinsicht teilweise mit dem Kulturpessimismus überlappt; vgl. S. 2). ›Verblödung‹ ist aber auch als Chiffre für eine generalisierte Verfallsdiagnose zu lesen, die weniger die ökonomischen Eliten im Visier hat als die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit und in dieser Allgemeinheit eine enge Verwandtschaft mit dem skizzierten kulturpessimistischen Denken aufweist. So fügt sich Lachenmann denn auch mit seiner Warnung vor einem »Kulturschwund der beklemmenden Art«206, den »Thomas Mann vor fünfzig Jahren in seiner Schiller-Rede diagnostizierte und voraussagte«207, nahezu bruchlos in das Denken des Kulturpessimismus ein.

Indem Lachenmann eine positive Wendung des Demokratiebegriffs von der Erweckung der menschlichen ›Geistfähigkeit‹ abhängig macht, schlägt er die Brücke zur Kunst. Die Aufgabe nämlich, eine solche Erweckung herbeizuführen – ursprünglich von der Religion erfüllt –, sei mittlerweile der Kunst zugefallen, die »an jene Geistfähigkeit«208 appelliere, »ohne welche die Demokratie als manipulierbare suspekt bleiben wird.«209 Auch hier berührt sich Lachenmanns Denken mit dem Kulturpessimismus: Wie Stern festhält, wies etwa Langbehn der Kunst die Rolle zu, den (deutschen) Menschen aus seinem kulturellen Elend zu befreien:

Die einzig denkbare Möglichkeit einer Erlösung sah Langbehn in der Kunst, wie frühere Reformatoren sie in einer religiösen Erneuerung oder in utopischen Visionen einer sozialen Gerechtigkeit gesehen hatten.210

Von der Kunst erwartete Langbehn geistige Führerschaft in einem Zeitalter, das er von den verhassten Kräften der Wissenschaft und des Materialismus beherrscht sah. Zudem stand die Kunst für ihn in natürlichem Gegensatz zur Demokratie und verband ihre erstrebte Herrschaft daher mit einer Stärkung der Eliten – ein Indiz, wie sehr der kulturpessimistische Diskurs einem Elitendenken verhaftet ist. Anders als Lachenmann schwebte Langbehn allerdings eine volkstümliche und traditionalistische Kunst vor, die auf Veredelung zielte und von der realistischen Schilderung des Alltags Abstand nahm.211

Während Demokratie im Deutschland des 19. Jahrhunderts noch nicht als Regierungsform etabliert war, stellt sie in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts einen unanfechtbaren Konsens dar, was auch die jeweilige Ausdehnung von Demokratiekritik bedingt – umfasste diese zu Zeiten von Lagarde und Langbehn jeglichen Aspekt von Demokratie, so stehen in der jüngeren Vergangenheit immer nur jeweils konkrete Ausprägungen zur Debatte. Dennoch weist Lachenmanns Sprache (ungeachtet einer Selbstverortung des empirischen Autors Helmut Lachenmann) eine Nähe zum Duktus des Kulturpessimismus auf.

Endnoten


  1. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 245.↩︎

  2. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 29-30.↩︎

  3. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 245.↩︎

  4. Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 121; Hans Zender, »Über Helmut Lachenmann«, in: Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975-2003, hg. von Hans Zender u.a., Wiesbaden 2004, S. 68.↩︎

  5. Ryan, »Musik als ›Gefahr‹ für das Hören«, S. 16.↩︎

  6. Helmut Lachenmann, »Klangtypen der Neuen Musik« [1970], in: MaeE3, S. 1-20, hier S. 20.↩︎

  7. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 234.↩︎

  8. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 22.↩︎

  9. Ebd., S. 33.↩︎

  10. Vgl. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 343, 345; Ryan, »Musik als ›Gefahr‹ für das Hören«, S. 16.↩︎

  11. Heinz-Klaus Metzger, »Gespräch zwischen John Cage, Helmut Lachenmann und Heinz-Klaus Metzger«, in: Die freigelassene Musik. Schriften zu John Cage, hg. von Heinz-Klaus Metzger u.a., Wien 2012, S. 178-190, hier S. 179-180.↩︎

  12. Helmut Lachenmann, »Air. Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968/69)«, in: MaeE3, S. 380.↩︎

  13. Ebd., S. 380.↩︎

  14. Vgl. dazu Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 66-67; Gianmario Borio, Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik. Zugl.: Berlin, Univ., Diss., 1990 (= Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 1), Laaber 1993, S. 16-29.↩︎

  15. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 344.↩︎

  16. Borio, Musikalische Avantgarde um 1960, S. 31.↩︎

  17. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 345.↩︎

  18. Ebd., S. 345.↩︎

  19. Lachenmann, Komponieren am Krater, S. 3.↩︎

  20. Ebd.↩︎

  21. Ebd.↩︎

  22. Ebd.↩︎

  23. Ebd.↩︎

  24. Vgl. S. 132137.↩︎

  25. Lachenmann, Komponieren am Krater, S. 3.↩︎

  26. Ebd.↩︎

  27. Ebd.↩︎

  28. Huber, »Kritisches Komponieren«, S. 40-42.↩︎

  29. Ferdinand Zehentreiter, »Sensory Cognition as an Autonomous Form of Critique. Nicolaus A. Huber and Helmut Lachenmann«, in: Critical Composition Today, hg. von Claus-Steffen Mahnkopf (= New Music and Aesthetics in the 21st Century, Bd. 5), Hofheim 2006, S. 43-61, hier S. 48.↩︎

  30. Ebd., S. 48.↩︎

  31. Ebd., S. 48-53.↩︎

  32. Reinhard Mehring, »Kritische Theorie und Konservative Revolution. Zu Stefan Breuers Auseinandersetzung mit der Konservativen Revolution«, in: Politische Vierteljahresschrift 34 (1993), Heft 3, S. 476-482, hier S. 476.↩︎

  33. Ebd., S. 478.↩︎

  34. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 648.↩︎

  35. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 2.↩︎

  36. Ebd., S. 11.↩︎

  37. Thomas Mann zählte laut Fritz Stern zu den Bewunderern des Orientalisten und Kulturpessimisten Paul de Lagarde. Im Übrigen kommt für Stern den »großen Werken der idealistischen Epoche« wie etwa jenen Friedrich Schillers im kulturpessimistischen Denken die Rolle eines Orientierungspunktes zu. Ebd., S. 381, 18.↩︎

  38. Lachenmann, Kunst und Demokratie, S. 26.↩︎

  39. Ebd., S. 26.↩︎

  40. Thomas Mann, Versuch über Schiller, Frankfurt a.M. 2005, S. 87-88; Auslassungen nach Lachenmann, Kunst und Demokratie, S. 26.↩︎

  41. Ebd., S. 26.↩︎

  42. Friedrich Schiller, Demetrius. Dramatischer Nachlass (= Werke und Briefe, Bd. 10), Frankfurt a.M. 2004, S. 533.↩︎

  43. Lachenmann, Kunst und Demokratie, S. 26-27.↩︎

  44. Ebd., S. 27.↩︎

  45. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 3, 9, 113, 207.↩︎

  46. Lachenmann, Kunst und Demokratie, S. 27.↩︎

  47. Helmut Lachenmann, »1968. Ein Fragebogen«, in: Wien Modern 31. Festivalkatalog – Essays, hg. von Bernhard Günther u.a., Wien 2018, S. 102-103, hier S. 103.↩︎

  48. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 11.↩︎

  49. Ebd., S. 2, 7, 11, 112-115, 173.↩︎

  50. Lachenmann, Komponieren am Krater, S. 4.↩︎

  51. Carsten Fastner, »›Ich verehre Morricone‹. Komponist Helmut Lachenmann im Gespräch«, in: Falter (2005), Heft 46, S. 68-69, hier S. 69.↩︎

  52. Lachenmann, »1968«↩︎

  53. Lachenmann, Kunst und Demokratie, S. 27.↩︎

  54. Ebd.↩︎

  55. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 187.↩︎

  56. Ebd., S. 87-90.↩︎