6.1 Tendenzen in der Lachenmann-Literatur


Unterkapitel

Unterkapitel

6.1 Tendenzen in der Lachenmann-Literatur
  Hagiografie
  Verschwisterung
  Verschmelzung der Positionen


Teil III: Außenansicht

6 Über Lachenmann sprechen

6.1 Tendenzen in der Lachenmann-Literatur

Der Diskurs, der den Gegenstand dieser Arbeit bildet, kann als Anordnung konzen­trischer Kreisen visualisiert werden, deren relative Position die Nähe zum Kern des Korpus veranschaulicht, der von Lachenmanns eigenen Texten gebildet wird. Diesem Subkorpus wird in diesem Buch die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Der zweite Kreis repräsentiert das diskursive Umfeld, also jene Menge an Texten, die über ein gemein­sames Set an Kernaussagen mit Lachenmanns Texten kommunizieren. Ein dritter Kreis umfasst jene Texte, die zwar ebenfalls den Bereich der ›neuen Musik‹ behandeln, dies jedoch aus mehr oder weniger stark divergierenden theoretischen Perspektiven. Sie bilden kein eigentliches Thema dieser Arbeit, sondern stellen lediglich den weiteren Diskurshorizont der behandelten Texte dar (siehe Abb. 1).

Nachdem am Beginn von Kapitel 2 der innerste Kreis – die Texte Helmut Lachenmanns – behandelt und in diesem Zusammenhang auch die heikle Doppelrolle von Komponist und Autor thematisiert wurde, soll nun ein weiterer Blickwinkel eingenommen werden, indem Lachenmanns diskursives Umfeld – also der zweite Kreis – einer Gesamtschau unterzogen wird. Dies geschieht aus einer histo­rischen Perspektive, um die Brüche und Verschiebungen zu erhel­len, die seit den frühen Jahren des Kritischen Komponierens zu beobachten sind.

Wie in Kapitel 2 dargestellt, bilden die Jahre zwischen 1970 und 1990 eine besonders produktive Phase in Lachenmanns Textproduktion1 – sie bringen in enger Abfolge jene Texte hervor, welche die größte Diskursmacht entfalten sollen.2

Kreis mit verschiedenen Ebenen des Diskurses um Helmut Lachenmann; von außen nach innen: Diskurs der 'neuen' Musik, Diskurs des 'kritischen Komponierens', Texte Lachenmanns
Abbildung 1: Schichtungen im Diskurs um Helmut Lachenmann

Was hingegen die Sekundärliteratur zu Helmut Lachenmann betrifft, so zeigt sich ein anderes Bild: Hier ist erst in den 2000er-Jahren – also mit rund 20-jähriger Verspätung – eine Häufung an Beiträgen zu verzeichnen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen erscheinen Bücher, die gänzlich der Person Lachenmanns gewidmet sind, erst nach der Jahrtausendwende – eine Dissonanz, die sich mit der zeitverzögerten Wahrnehmung von Lachenmanns kompositorischer Bedeutung erklären lässt, wobei auch das Erscheinen der ersten Auflage von Musik als existentielle Erfahrung im Jahr 1996 eine Rolle spielen dürfte.3 Dennoch ist das Echo, das Lachenmanns kompositorisches und publizistisches Schaffen in Musikpublizistik und Musikwissenschaft hervorruft, in den letzten Jahrzehnten zu einem umfangreichen Teilgebiet der Musikliteratur ange­wachsen, das aus mehreren Gründen unser Interesse verdient.

Bemerkenswert ist dieses Textkorpus zum einen aufgrund der weitreichenden Kongruenz zwischen Lachenmanns Position und jener der Autor*innen, die über ihn schreiben: An dieser Tendenz zur Übernahme Lachenmann’scher Kategorien ist die Diskursmacht des Komponisten zu ermessen. Zudem hat dieses Diskurssegment bereits früh einen reflexiven Charakter entwickelt und so die eigenen Tendenzen, Verfestigungen und Schwachstellen zum Thema gemacht. Nicht zuletzt erfuhr das Lachenmann-Schrifttum seit der Jahrtausendwende eine beträchtliche Ausdiffe­renzierung, in der auch alternative und antagonistische Interpretationsansätze abseits des theoretischen Rahmens der Kritischen Theorie zu beobachten sind. Hier soll jedoch zunächst die Frühphase des Schreibens über Lachenmann dargestellt werden, die von einem auffallenden Naheverhältnis vieler Autor*innen zu ihrem Gegenstand gekennzeichnet war.

Hagiografie

»Der 82-jährige Lachenmann gilt als der große Meister der sogenannten Neuen Musik«4, vermeldete am 6.6.2018 die dpa. Aus der gleichen Quelle erfuhren interessierte Medienkonsument*innen auch, dass Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern »zu den wenigen Rennern des zeitgenössischen Musiktheaterschaffens« zählt. Ob es sich bei diesen Aussagen um akkurate Tatsachenbeschreibungen handelt, kann und soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Es wäre billig, über den hagiografischen Tonfall des Tagesjournalismus zu spotten oder derartige Lobeshymnen als ›gesunkenes Kulturgut‹ des Fachjournalismus zu verhöhnen. Den Wahrheitsgehalt solcher Schilderungen zu analysieren wäre müßig oder vielmehr ein Kategorienfehler, sind sie doch als Symptom für einen Diskurs zu werten, der die Grenzen des Fachjournalismus überschreitet und im medialen Mainstream seinen festen Platz gefunden hat. Die Aussage, es handle sich bei Lachenmann um einen bedeutenden deutschen Komponisten seiner Generation, wird niemand bestreiten. Bemerkenswert sind solche Würdigungen jedoch, weil sich im Alltagsdiskurs Klischees, Topoi und Stereotype mit größerer Deutlichkeit herauskristallisieren als in Fachdiskursen, die aufgrund ihres Anspruchs auf Differenzierung derartigen Gemeinplätzen naturgemäß weniger Raum bieten.

Gleichwohl bleiben solche Denkmuster keineswegs auf den theoriefernen Tagesjournalismus beschränkt: Die Vorstellungen von Größe, Meisterschaft und einem Kanon unvergänglicher Werke bilden vielmehr Konstanten des musikhistorischen Denkens, das sie als »Tiefenstrukturen«5 seit dem 19. Jahrhundert durchziehen. Kritik an solchen narrativen Mustern ist demgegenüber ein vergleichsweise junges Phänomen. Der Erklärungsbedarf erhöht sich allerdings bei ihrer Anwendung auf ›neue Musik‹, die ihre Legitimation nicht zuletzt aus ihrem Widerspruch gegen diese Tradition bezieht. Dennoch manifestiert sich im obigen Zitat ein Merkmal, das auch den Fachdiskurs über Lachenmann kennzeichnet, nämlich eine geringe Distanz zum Gegenstand der Betrachtung. Hagiografische Beschreibungsmuster finden sich auch in den Texten von Wissenschaftler*innen, in denen das Phänomen Lachenmann etwa als »kleines Wunder«6 bezeichnet oder dessen Auftreten in der Musikgeschichte als »Rückkehr authentischer Musik«7 gefeiert wird. Bisweilen wird die Heroisierung offen ausgesprochen, wenn etwa mit ›Größe‹ und ›Humanität‹ weitere Denkfiguren des bürgerlichen Kunstdiskurses bemüht werden: »Sein ganzes Komponieren kann als der heroische Versuch verstanden werden, durch die Negation des schlechten Bestehenden den humanistischen Gehalt der großen bürgerlichen Musik in unsere Zeit hinüberzuretten.«8 Neben dem Beharrungsvermögen eines Narrativs, das Kunst und Künstler(*in) ins Übermenschliche erhöht und ihnen den quasi-religiösen Rang von Kultobjekten zuweist, sowie einer affirmativen Bezugnahme auf im kulturellen Sinn vermeintlich bessere Zeiten, deren Erbe in die augenscheinlich defizitäre Gegenwart ›hinübergerettet‹ werden muss (ein kulturpessimistischer Gemeinplatz), spricht aus diesen Zeilen neuerlich Lachenmanns Transformation vom Bürgerschreck zum Liebkind des Bildungsbürgertums.

Verschwisterung

Frank Hentschel versucht mit dem Begriff der ›Verschwisterungsideologie‹ die Neigung mancher Musikwissenschaftler*innen zu erfassen, sich mit der Position der von ihnen beschriebenen Komponist*innen ›neuer Musik‹ zu identifizieren und so gewissermaßen als deren Sprachrohr zu fungieren:

Statt die Komponisten und Werke der Neuen Musik zu einem historischen Gegenstand neben anderen zu machen, agieren Musikwissenschaftler oft als deren Verbündete. […] Das Problem besteht […] darin, dass Musikwissenschaftler tendenziell mit denselben ästhetischen und historiografischen Prämissen die Musik analysieren, mit denen sie komponiert wurde, anstatt sich zu einer sozialhistorischen Verortung und Zergliederung gerade jener Prämissen aufzuschwingen. Es liegt der Verdacht nahe, dass Neue Musik und ihre Exegeten ein gemeinsames soziales Interesse teilen, durch das ein solches Bündnis bedingt wird.9

Hentschel zufolge bildet die ›Verschwisterungsideologie‹ also ein Grundmerkmal des Diskurses über ›neue Musik‹. Eine solche Art der Parteinahme lässt sich auch in den Texten über Lachenmann beobachten, wo sie sich mitunter auf das Phänomen der ›neuen Musik‹ in seiner Gesamtheit richtet: So suggeriert die Aussage, Veranstaltungsstätten ›neuer Musik‹ hätten sich »etwas bewahrt, was andere Orte auch gern hätten: vor allem eine Aufgeschlossenheit der meisten Hörer gegenüber dem Ungewohnten«10, eine Überlegenheit der Hörer*innen von ›neuer Musik‹ gegenüber anderen Publika, die zwar vom Ästhetischen ausgeht, aber auch den ethischen Bereich umfasst. Wer dem Unbekannten mit Offenheit begegnet, beweist nicht nur eine ästhetische Tugend, die im Denken der Avantgarde hoch veranschlagt wird, sondern grenzt sich auch gegenüber Engstirnigkeit und Rassismus ab. ›Aufgeschlossenheit gegenüber dem Ungewohnten‹ erscheint in jedem Fall als positive Eigenschaft, im Gegensatz etwa zu Angst vor dem Ungewohnten oder Beschränkung auf das bereits Bekannte. Abgesehen davon, dass diese Aussage bislang einer empirischen Überprüfung harrt, wird offensichtlich die Sichtweise der betreffenden Akteur*innen übernommen, in deren Interesse es liegt, sich selbst als aufgeschlossen darzustellen. Es könnte hinter einer solchen Aussage also eine Distinktionsabsicht vermutet werden, also das Bestreben, sich zumindest in den Augen der eigenen Peergroup vorteilhaft von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzusetzen.

Neben einer positiven Voreingenommenheit gegenüber dem Feld der ›neuen Musik‹ kennzeichnet das von Hentschel beschriebene Phänomen die Literatur über Lachenmann aber auch in spezifischer Weise, also in der Bezugnahme auf den Komponisten selbst. Der Lachenmann gegenüber gewählte Tonfall ist häufig ehrerbietig und suggeriert eine unterlegene Position der Autor*in. Selbst Reinhold Brinkmann, der einen der hellsichtigsten Kommentare zur Lachenmann-Diskussion beigesteuert hat und nicht mit sorgfältig argumentierter und präzise formulierter Kritik an deren Lenkung durch den Komponisten spart, beeilt sich, dieser Kritik durch Beteuerungen der Wertschätzung die Spitze zu nehmen – auch, indem er die Diskrepanz zwischen seiner Wahrnehmung von Lachenmanns Musik und dessen Selbstkommentar sicherheitshalber höflich auf die eigene Kappe nimmt.11 Dass Brinkmann zwar Lachenmanns Selbstexegese kritisiert, dessen Musik jedoch dezidiert von der Kritik ausnimmt, zeigt auch, dass Brinkmann – anders als Wellmer – Werk und Kommentar als klar getrennte Sphären versteht.

Auch in einer demokratischen und formell egalitären Gesellschaft leben im ästhetischen Diskurs Umgangsweisen der ständischen Gesellschaft fort: Nicht nur tote Komponisten sind aufgrund ihres Klassikerstatus weit über die Normalsterblichen erhaben, auch der lebende Komponist ist ein Fürst der Musik – freilich unter der Voraussetzung, zu den wenigen zu zählen, die sich wie Lachenmann einen Platz im Pantheon des zeitgenössischen Kanons erobert haben. Diese Sonderstellung des Künstlers äußert sich etwa im Vorwort zu Musik als existentielle Erfahrung, in welchem der Herausgeber sich genötigt sieht, einen Hang zum Subjektivismus in Lachenmanns Texten – also ein autoritatives Sprechen aus gesicherter Position – zu verteidigen:

Immer geht die Argumentation aus der Sicherheit der eigenen, als Grundgesetz wirkenden Position hervor. Man sollte dies nicht als primitive Egozentrik sehen, vielmehr handelt es sich dabei um die festgefügte Gewißheit einer Welt- und Geistesschau, die sich eingebunden weiß in die großen Traditionen abendländischen Denkens, in die Überlieferung eines Hoch-Begriffs von Kunst, wie er mit den Namen Bach, Beethoven, Schönberg zu umreißen wäre, und es handelt sich auch um das unverrückbare Bewußtsein der moralischen Verpflichtung, die aus solcher Einbindung notwendigerweise erwächst.12

Die einst selbstverständliche Sprecherposition des bürgerlichen, europäischen, männlichen Subjekts hat im späten 20. Jahrhundert offenbar ihre Universalität verloren, bedarf also der Rechtfertigung. Dabei macht Häusler klar, dass die subjektive Haltung nicht jedem zusteht, sondern ein Privileg darstellt, das durch die Tradition legitimiert wird. Lachenmann ist mehr als ein Zwerg auf den Schultern von Riesen, er ist ein Gigant unter Giganten – daher ist seine Sprecherhaltung auch nicht ›primitiv egozentrisch‹ (also vorlaut und überheblich), sondern festgefügt und gewiss.

Verschmelzung der Positionen

Insbesondere bei der Analyse der frühen Lachenmann-Literatur wird augenscheinlich, dass diese demselben Diskurszusammenhang angehört wie Lachenmanns eigene Schriften, wodurch die darin vertretenen Positionen jenen des Komponisten teilweise zum Verwechseln ähneln. Diese Identifikation geht so weit, dass oftmals nicht klar ist, bei welchen Argumenten es sich um jene der Autor*in und bei welchen um jene Lachenmanns handelt. Gemeinsam ist vielen Texten eine bis in die Satzstellung reichende Anlehnung an Adorno und die Begrifflichkeit der Kritischen Theorie. Die Tendenz zur Identifikation kennzeichnet insbesondere die Sekundärliteratur aus den 1980er- und den frühen 1990er-Jahren, ist aber teilweise auch später noch anzutreffen. Deutlich lässt sie sich etwa in einem 1984 erschienenen Aufsatz über Lachenmann nachvollziehen:

[S]eine Musik weigert sich, Bekanntes dem Hörer zu liefern [sic!] und widersetzt sich einer Hörhaltung, die konsumiert und deren Erwartungen zu befriedigen wären, welche damit also schon dem Kompositionsprozeß als unverrückbare Kriterien zugrunde liegen müßten.13

In dieser indirekten Wiedergabe der ästhetischen Position Lachenmanns wird nicht einfach referiert, was Lachenmann mit seiner Musik zu erzielen hofft, sondern dessen Haltung distanzlos verabsolutiert. Der gesellschaftskritische Anspruch an das Komponieren wird damit nicht einem bestimmten Komponisten – eben Lachenmann – zugeschrieben, sondern als unumstrittene Selbstverständlichkeit präsentiert. Interessanterweise fällt der Name Lachenmann zwischen Zeile 1 und Zeile 52 nur ein einziges Mal, und auch da nur in Klammern. Der Autor muss Lachenmanns Standpunkt nicht als solchen markieren, da er sich dessen Sache, die er als Wahrheit referiert, vollständig zu eigen gemacht hat.

Clytus Gottwald geht in seinem Beitrag zu dem Lachenmann gewidmeten Musik-Konzepte-Band von 1988 in seiner kulturkritischen Haltung noch über Lachenmann hinaus, wenn er in seinem Plädoyer für die »Elfenbein-Turm-Musik«14 nicht nur die »Unterhaltungs- und Beschwichtigungsindustrie«15 geißelt, sondern auch eine

Klangvorstellung, die nur die Showseite des Klanges sich gestattet als ein Medium falscher gesellschaftlicher Ostentation […]. Zum anderen soll der Klang aus seiner Verdinglichung erlöst werden, in die er geriet, seit Komponisten ihn als ästhetischen Wert, gar als Gegenstand von Komposition entdeckten. Gerade diese Verfügung über den Klang, so sehr sie historisch sich im Recht wußte, machte ihn verfügbar für die Kulturindustrie.16

In der Ablehnung vermeintlicher Oberflächlichkeit zeigt sich die Nähe zu Lachenmanns Denken ebenso wie im Abrufen von Chiffren der Kritischen Theorie wie ›Verdinglichung‹ oder ›Kulturindustrie‹. Selbst die Haltung Michael Mäckelmanns, der den Standpunkt des Komponisten 1985 in überwiegend sachlicher Weise darlegt, verschwimmt in der Rede von der »Befreiung von gewohnten Klischees«17, welche die Komposition Air durch den »verweigerten Klang des Solo- und Orchesterparts«18 erziele, mit der Position Lachenmanns. Insgesamt ähneln die Texte aus den 1980er-Jahren einander in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht – etwa in ihrer Übernahme von Elementen der ästhetischen Theorie Adornos oder in der Verteidigung des Kritischen Komponierens gegenüber dezidiert politischer Musik – bis zur Ununterscheidbarkeit.

Unter den Musikwissenschaftler*innen, die sich in den letzten 20 Jahren besonders eingehend mit dem Werk Lachenmanns auseinandergesetzt haben, nimmt Rainer Nonnenmann aufgrund seiner intimen Kenntnis und differenzierten Betrachtung des Gegenstands eine zentrale Stellung ein. Zugleich belegen auch seine Schriften die Dominanz von Lachenmanns Denkfiguren im Diskurs über den Komponisten. Dies schmälert Nonnenmanns Verdienst keineswegs, es zeigt lediglich, dass es sich bei diesen so persistenten Kategorien in der Tat um diskursive Elemente handelt, die nicht einer einzelnen Autor*in zuzurechnen sind, sondern den Diskurs in seiner Ganzheit konturieren.

Auch in den Darstellungen Nonnenmanns ist Lachenmanns Standpunkt nicht immer klar von jenem des Autors zu trennen. So heißt es etwa in Der Gang durch die Klippen:

Zugleich wendet sich Lachenmann gegen jene a priori zum Scheitern verurteilten heroisch puristischen Ambitionen, möglichst sämtliche expressiven Vorprägungen und qualitativen Unterschiede der kompositorischen Mittel durch serielle, algorithmische, aleatorische oder sonst wie geartete quantifizierende Organisationsverfahren rücksichtslos zu ignorieren […].19

Hier wird Lachenmanns kritische Darstellung der seriellen Musik und ihres Anspruchs auf völlige Kontrolle des Materials nicht als subjektive Position des Komponisten gekennzeichnet, sondern vom Autor als ›wahr‹ übernommen. Auch in anderen ästhetischen Belangen scheint sich Nonnenmanns Position in unausgesprochener Weise mit derjenigen Lachenmanns zu decken, etwa, wenn über von diesem abgelehnte musikalische Phänomene gesagt wird:

Im Gegensatz zu Lachenmanns genuin musikalischen Innovationen verhielten sich Fluxus und Happenings bei allen anarchoiden Tabuverletzungen letztlich konform gegenüber dem bestehenden Musikbetrieb, weil sie als dezidiert kunstnihilistische Bewegungen auf innerästhetische Innovation zugunsten anästhetischer Polemik gegen Kunst und Kultur im Allgemeinen und den Werkbegriff im Speziellen verzichteten. Lachenmann hält sie lediglich für zusammengeschusterte und prätentiös aufgeplusterte Mini-Gesamtkunstwerke, die insgesamt symptomatisch seien für eine Zeit der innovativen beziehungsweise aufgeklärten Restauration.20

Während der zweite Satz Lachenmanns Standpunkt klar als solchen markiert, ist die Sprecherposition im ersten Satz des Zitats unklar: Was eindeutig Lachenmanns ästhetischem Denken zuzuordnen ist, erscheint hier wiederum als Tatsachenschilderung, was freilich auch legitim ist, sofern der Autor es als wahr erachtet. Dennoch nähert sich die Beziehung zum Gegenstand hier einem kommentierenden Diskurs, wie ihn Hakan Gürses gegenüber dem Diskurstypus der Kritik abgrenzt.21

Auch die Art und Weise, wie andere Autor*innen die Musik Lachenmanns beschreiben, ähnelt oft frappant den Äußerungen des Komponisten – so etwa, wenn Ralf-Alexander Kohler schreibt, Lachenmanns instrumentalkonkrete Musik sei »ihrem Wesen nach subversiv. Sie verweist auf eine Tätigkeit, die eben nicht in Dollarnoten quantifizierbar ist [sic!] und speist sich aus dem Wissen, daß es ein Leben jenseits der großen Kaufhäuser, Einkaufsstraßen und Designerläden gibt.«22 Die Konsumkritik und der Topos eines subversiven Potenzials von Musik sind feste Bestandteile des Lachenmann’schen Denkgebäudes – wie auch des Diskurses um das Kritische Komponieren in seiner Gesamtheit.

Albrecht Wellmer hat sich als Philosoph ausführlich mit Lachenmanns Musikästhetik auseinandergesetzt, der ein wesentlicher Teil seines Buches Versuch über Musik und Sprache gewidmet ist. Unter dem Titel »Helmut Lachenmann: Die Befreiung des Klangs in der konstruktivistischen Tradition der europäischen Moderne« schildert Wellmer zunächst Lachenmanns Ästhetik und deren ›negative‹ Komponente, die neben einer ästhetischen

zugleich eine gesellschaftliche Dimension hat; es ist der Widerstand gegenüber Tendenzen zur gesellschaftlichen, das heißt heute: der kulturindustriellen Vereinnahmung, Verharmlosung und Nivellierung der Kunst, das heißt gegenüber der Tendenz, die Kunst in eine alles nivellierende Konsumkultur zu integrieren.23

Dass Wellmer hier nicht nur Lachenmanns, sondern auch seine eigene ästhetische Haltung referiert, kann über weite Strecken vermutet werden, wird aber an der erläuternden Wendung »das heißt heute« explizit, die Wellmers Position als solche kenntlich macht und auf beiläufige Weise den Schritt von der Positionsschilderung aus zweiter Hand zur Tatsachenschilderung vollzieht. Auch bei Hiekel vollzieht sich dieser Übergang fließend, wenn der Autor die gesellschaftskritische Haltung beschreibt, wie sie in Lachenmanns Texten der 1970er-Jahre zum Ausdruck kommt:

Dabei bezieht sich diese Haltung nicht im engeren Sinne auf die politische Wirklichkeit, sondern auf die von gesellschaftlichen Usancen geprägte Wirklichkeit des Umgangs mit den Künsten. Hauptzielpunkt der Kritik ist dabei jene allgegenwärtige Suche nach Behaglichkeit, die dazu tendiert, Kunst bloß als harmlos-hübsches Beiwerk anzusehen und die in ihr liegenden Erlebnis- und Erkenntnismomente zu überdecken.24

Während der erste Satz noch als Wiedergabe des ästhetischen Denkens Lachenmanns zu verstehen ist, macht der zweite Satz eine Aussage über die Wirklichkeit und offenbart damit die Sichtweise des Autors – es ist dieser und nicht bloß Lachenmann, der eine »allgegenwärtige Suche nach Behaglichkeit« diagnostiziert und ihr im Sinne einer Kritik an der ›Kulturindustrie‹ eine Verharmlosung von Kunst attestiert.

Diese Tendenzen ziehen sich bis in die jüngsten Beiträge zur Lachenmann-Forschung: Ob Martin Kaltenecker die musikalischen 1970er-Jahre als Zeitalter »der Clowns, des Allerleis, der unbestimmten Negationen«25 schmäht oder Livine van Eecke 2016 von einer »inherent tendency of the musical material itself«26 ausgeht, der Lachenmann zu folgen trachte, finden sich zahlreiche Belege für ein Naheverhältnis der Musikwissenschaft zur ästhetischen Position Lachenmanns, das einen kritischen Blick auf den Untersuchungsgegenstand erschwert.

Endnoten


  1. Kapitel 2.6.↩︎

  2. So entstanden 1971 »Zur Analyse Neuer Musik«, 1973 »Die gefährdete Kommunikation«, 1976 »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, 1978 »Bedingungen des Materials«, 1979 »Vier Grundbestimmungen des Musikhörens«, 1982 »Affekt und Aspekt«, 1984 »Musik als Abbild vom Menschen«, 1986 »Über das Komponieren«, 1987 »Komponieren im Schatten von Darmstadt« und 1990 »Zum Problem des Strukturalismus« (hier zitiert unter dem Titel der Fassung letzter Hand). Vgl. Hockings, Jewanski, Hüppe, »Helmut Lachenmann«.↩︎

  3. Davor erschienen der erste Lachenmann gewidmete Band der Musik-Konzepte (1988) und Frank Sieleckis Dissertation Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber (1992). Zu erwähnen ist aus diesem Zeitraum auch ein Lachenmann-Schwerpunkt der MusikTexte aus dem Jahr 1997. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.), Helmut Lachenmann (= Musik-Konzepte, Bd. 60/61), München 1988; Sielecki, Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber; MusikTexte 67-68 (1997), S. 61-114.↩︎

  4. Georg Etscheit und dpa, »Komponist Lachenmann setzt auf Hörner. Uraufführung in München«, in: NMZ Online (06.06.2018), https://www.nmz.de/kiz/nachrichten/komponist-lachenmann-setzt-auf-hoerner-urauffuehrung-in-muenchen (Zugriff am 22. Oktober 2020).↩︎

  5. Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, S. 158.↩︎

  6. Nyffeler, »Himmel und Höhle«, S. 88.↩︎

  7. Kaltenecker, »Was ist eine reiche Musik?«, S. 40.↩︎

  8. Nyffeler, »Sich neu erfinden, indem man sich treu bleibt«, S. 3.↩︎

  9. Hentschel, Neue Musik in soziologischer Perspektive, S. 15.↩︎

  10. Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 11.↩︎

  11. »Es ist nicht das Problem dieser Musik, eher ist es (vermutlich) mein Problem.« Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 117.↩︎

  12. Häusler, »Vorwort des Herausgebers«, S. XVIII-XIX.↩︎

  13. Febel, »Zu Ein Kinderspiel und Les Consolations von Helmut Lachenmann«, S. 84.↩︎

  14. Clytus Gottwald, »Vom Schönen im Wahren. Zu einigen Aspekten der Musik Helmut Lachenmanns«, in: Helmut Lachenmann, hg. von Heinz-Klaus Metzger u.a. (= Musik-Konzepte, Bd. 60/61), München 1988, S. 3-11, hier S. 9.↩︎

  15. Ebd., S. 7.↩︎

  16. Ebd., S. 4.↩︎

  17. Mäckelmann, »Helmut Lachenmann, oder: ›Das neu zu rechtfertigende Schöne‹«, S. 24.↩︎

  18. Ebd.↩︎

  19. Nonnenmann, Der Gang durch die Klippen, S. 340.↩︎

  20. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 119.↩︎

  21. Hakan Gürses, »Kunstkritik zwischen Macht und Veränderung«, in: mdw-Webmagazin (28. Februar 2020), https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2018/02/28/kunstkritik-zwischen-macht-und-veraenderung/ (Zugriff am 22. Oktober 2020).↩︎

  22. Kohler, »Zur politischen Dimension einer musikalischen Kategorie, oder wie ist Helmut Lachenmanns ›musique concrète instrumentale‹ satztechnisch zu verstehen«, S. 116.↩︎

  23. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 272.↩︎

  24. Hiekel, »Die Freiheit zum Staunen«, S. 6.↩︎

  25. Kaltenecker, »Was ist eine reiche Musik?«, S. 37.↩︎

  26. Van Eecke, »The Adornian Reception of (the) Child(hood) in Helmut Lachenmann’s ›Ein Kinderspiel‹«, S. 224.↩︎