Julia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann
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Heimerdinger, Julia, Hannah Riedl und Thomas Stegemann. 2025. »Einleitung«. In Musik und Suizidalität. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Julia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann. Wien und Bielefeld: mdwPress.
Übersicht
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Dieser Band präsentiert die verschriftlichten Beiträge des Symposiums »Musik und Suizidalität«, das am 6. und 7. Mai 2022 an der mdw — Universität für Musik und darstellende Kunst Wien in Kooperation des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung und des Instituts für Musiktherapie stattgefunden hat. Dem Symposium ging ein intensiver fachlicher Austausch voraus, der — wie es der Zufall wollte — zustande kam, da wir drei Herausgeber:innen gemeinsam in einer Big Band musizieren. In Gesprächen nach Probenschluss stellte sich heraus, dass wir uns in unseren jeweiligen Disziplinen — Musikwissenschaft (Julia Heimerdinger), Musiktherapie (Hannah Riedl) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Musiktherapie (Thomas Stegemann) — schon mit dem Thema Musik und Suizidalität beschäftigt haben (z. B. Stegemann et al. 2010; Heimerdinger 2020). Im Zuge der Diskussionen über bekannte und unbekanntere ›Suicide Songs‹, über Bücher, Fachliteratur, empirische Studien, klinische Praxiserfahrung, Filme und Fernsehserien erschien uns eine Zusammenarbeit naheliegend. Zum einen entstand schnell die Idee, ein studienfächerübergreifendes Seminar zur Rolle der Musik in der breit rezipierten und wegen der Befürchtung von Nachahmungssuiziden umstrittenen Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht (13 Reasons Why, USA 2017) anzubieten, zum anderen, ein interdisziplinäres Symposium zum Thema Musik und Suizidalität zu veranstalten, bei dem auch die Ergebnisse der Arbeit im Seminar vorgestellt werden sollten. Für das Symposium war es uns ein besonderes Anliegen, Vertreter:innen aus den Bereichen Kulturwissenschaft, Musikwissenschaft, Medizin, Musiktherapie, Psychotherapie und Suizidforschung zusammenzubringen, um verschiedene Perspektiven auf den Themenkomplex aufzugreifen und zu diskutieren. Verschiedene Perspektiven heißt in diesem Fall nicht nur unterschiedliche Blickwinkel der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsmethoden, sondern auch unterschiedliche Diskurse aus (kulturhistorischer und empirischer) Wissenschaft und (medizinischer/therapeutischer) Praxis.
Bei der Zusammenstellung der Beiträge gingen wir von der Beobachtung aus, dass einerseits Suizidalität in ihren verschiedensten Facetten seit Jahrhunderten ein Thema von Musik ist und dass andererseits Musik im Kontext von — und im (therapeutischen) Umgang mit — Suizidalität eine Rolle spielen kann. Hieran knüpft sich eine Reihe von Fragen bezüglich musikalischer Darstellung, musikalischen Ausdrucks und musikalischer Wirkung: Wie wurde und wird der suizidale Zustand musikalisch und musikdramatisch dargestellt? In welchen Gattungen und Genres der Musikgeschichte und der Gegenwart wird das Thema aufgegriffen und was bedeutet dies — nicht zuletzt gesellschaftlich? Welche Facetten von Suizidalität kommen in Musik zum Ausdruck? Können individuelle Musikpräferenzen etwas über das Suizidrisiko aussagen? Kann Musik ein Trigger für suizidale Handlungen sein? Was weiß man über die Wechselwirkungen von Musik und selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen? Welchen Einfluss können Musik oder das Sprechen über musikalisches Erleben auf suizidale Menschen haben? Kann Musik in suizidalen Krisen oder nach einem Suizidversuch hilfreich sein — und wenn ja, wie?
Suizidalität ist nachweislich seit der Antike ein — zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maß — präsentes Sujet unzähliger Lieder, Opernarien und sogar einiger Instrumentalmusik.1 Unerfüllte Liebe, Verlust, Bewahrung der Ehre, Selbstopfer, Selbstzerstörung oder die Flucht vor der Bestrafung durch Mächtigere gehören zu den Motiven musikalischer bzw. musikdramatischer Darstellungen, von Theokrits Hirtengesängen über zahlreiche ›Abbandonata‹-Arien (wie Arianna oder Dido ), Balladen und Moritaten bis hin zum Depressive Suicidal Black Metal.
Während manche Musikstücke Merkmale des von Erwin Ringel beschriebenen präsuizidalen Syndroms (Ringel 1953) wie eine starke Einengung auch auf der musikalischen Ebene aufweisen (siehe z. B. den nur einen Ton wiederholenden Beginn von Otellos Arie »Dio! Mi potevi scagliar«), zielen andere eher auf Abschreckung (z. B. »Verstoßen oder Der Tod auf den Schienen«). Viele jüngere Songs bewegen sich musikalisch unspezifisch im Rahmen von Genrekonventionen, wobei sich manche Genres offenbar mehr als andere des tabubehafteten Themas annehmen.
Gleichzeitig wurde Musik immer wieder auch ein Einfluss auf suizidales Empfinden nachgesagt. Beispielsweise berichtete der französische Psychiater Jean-Pierre Falret in seiner Abhandlung Der Selbstmord (1824; frz. Originalausgabe: De l’hypochondrie et du suicide 1822) von einer jungen Frau, die bei Arien aus der Oper Nina, o sia La pazza per amore (Giovanni Paisiello 1789; dt.: Nina oder Die Wahnsinnige aus Liebe) Suizidneigungen empfunden habe. Der wegen der angeblichen Auslösung einer Suizidwelle als ›Hungarian Suicide Song‹ berühmt gewordene Song »Gloomy Sunday« (original: »Szomorú vasárnap«, 1933) wurde von der BBC angeblich bis ins Jahr 2002 nicht gespielt, und in den USA kam es in den 1980er-Jahren wiederholt zu Klagen von Eltern gegen Heavy-Metal-Musiker, deren Songs ihre Kinder angeblich zum Suizid angestiftet hätten. Obwohl diese Klagen sämtlich erfolglos waren, steht Heavy Metal als sogenannte ›Problem Music‹ noch immer an erster Stelle der ›üblichen verdächtigen‹ Genres und fehlt auch heute in kaum einer Studie zum Verhältnis von psychischer Gesundheit bzw. von Suizidraten und Musikpräferenzen von Jugendlichen. Gruppen wie die 1982 gegründete kalifornische Band Suicidal Tendencies reagierten mit der Wahl ihres Namens und ihren Songs nicht zuletzt auf gesellschaftliche Symptome einer damals virulenten ›Moral Panic‹, die sich beispielsweise in der Gründung des Parents Music Resource Center durch die sogenannten ›Washington Wives‹ Tipper Gore und Susan Baker ausdrückte. Unter anderem beschuldigte Gore die Musikindustrie und Musiker:innen, »inmitten einer nationalen [Suizid-]Epidemie den Selbstmord von Teenagern zu fördern« (Gore 1987, 107), ohne dabei mögliche andere Zusammenhänge kritisch zu reflektieren.
Durch Medienberichterstattung und fiktionale Darstellungen von Suiziden angeblich angestoßene Nachahmungseffekte wurden nach Goethes bekannter Romanfigur »Werther-Effekt« benannt, und die Frage, ob im Rahmen von Literatur, Film oder Musik dargestellte Suizide tatsächlich Imitationssuizide oder gar Suizidepidemien auslösen können, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Beispielsweise hat die erste Staffel der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht eine entsprechende Debatte ausgelöst, in der u. a. der Vorwurf artikuliert wurde, sie romantisiere den Suizid der Hauptfigur Hannah Baker — ein Vorwurf, der vermutlich deshalb so laut ist, weil die Serie als Zielgruppe ein jugendliches und damit spezifisch vulnerables Publikum adressiert. Dem Streamingdienst Netflix wurde außerdem vorgeworfen, dass in der Serie keinerlei Hinweise darauf gegeben werden, dass Krisen bewältigbar sind; im Gegenteil werden die Helfersysteme als nicht verfügbar oder sogar ineffizient dargestellt.
Als Pendant zum »Werther-Effekt« wurde durch Niederkrotenthaler et al. (2010) der Begriff »Papageno-Effekt« geprägt. Dieser ist von der Figur Papageno aus Mozarts Oper Die Zauberflöte abgeleitet: Papageno will sich aus Liebeskummer erhängen, wird im letzten Moment jedoch von den drei Knaben davon abgehalten, die ihn davon überzeugen, dass es einen Ausweg aus dieser Situation gibt — wie bereits zuvor Pamina, die sich von Tamino verlassen fühlt (Arie »Ach ich fühl’s, es ist verschwunden« ). Der Begriff Papageno-Effekt beschreibt präventive Effekte, die durch die Darstellung der Bewältigung realer oder fiktionaler suizidaler Krisen bewirkt werden können.
Einige der hier angerissenen Themen, Begriffe, musikalischen Genres und Songs ziehen sich wie rote Fäden durch die Beiträge: so der berüchtigte Suicide Song »Gloomy Sunday« , unter dessen Motto auch das Konzert stand, das zum Abschluss des Symposiums stattfand. Auf diesen Song war eine der Herausgeber:innen, Julia Heimerdinger, bei der Lektüre eines Beitrags des deutschen Psychiaters Harm Willms gestoßen, der bereits 1975 in der Zeitschrift Musik + Medizin veröffentlicht worden war. Willms berichtete darin über einen Vortrag des Psychiaters und Gründers des Wiener Kriseninterventionszentrums, Erwin Ringel, in dem dieser darstellte, wie Merkmale des präsuizidalen Syndroms in Musik ausgedrückt sind; eines seiner Beispiele war »Gloomy Sunday«
bzw. eine deutschsprachige Fassung des Lieds mit dem Titel »Einsamer Sonntag«. Ebendieses Lied bzw. die Legenden, die sich um dessen Wirkung ranken, sei, so Willms in seinem Beitrag im vorliegenden Band, Anlass für seine Untersuchung zur Rolle der Musik bei Suizidhandlungen gewesen, die er Mitte der 1970er-Jahre durchgeführt, deren Ergebnisse er jedoch nie veröffentlicht hatte. Wir, die Herausgeber:innen, haben uns sehr über seine Bereitschaft gefreut, die Untersuchung knapp 50 Jahre nach ihrer Durchführung auf unserem Symposium noch einmal vorzustellen und uns seinen Beitrag zur Veröffentlichung zu überlassen. Harm Willms ist am 7. Februar 2023 verstorben. Wir sind dankbar, ihn als Vortragenden und als inspirierenden und kritisch denkenden Gesprächspartner bei unserem Symposium zu Gast gehabt zu haben.
Neben dem Song »Gloomy Sunday« (siehe die Beiträge von Heimerdinger, Willms, Till und Niederkrotenthaler sowie Storf et al.) lassen sich weitere wiederkehrende Themen und Motive erkennen wie der Werther-Effekt (Macho, Willms, Plener, Storf et al.) und der Papageno-Effekt (Stein, Till und Niederkrotenthaler, Plener, Storf et al.), das Heavy-Metal-Genre (Brown, Stein, Till und Niederkrotenthaler) und das Motiv des Verstummens (Heimerdinger, Korn). Ein Motto steht jedoch über allen Beiträgen: »Let’s talk about it!« Dieses Motto stellte Thomas Macho, der damit auf den Titel einer Ausstellung des Kasseler Museums für Sepulkralkultur im Jahr 2021 (Pörschmann et al. 2021) anspielte, seinem Vortrag voran — und ergänzte es am Ende seines Beitrags um ein Zitat Émile Durkheims: »Was wirklich der Entwicklung des Selbstmordes oder des Mordes Vorschub leistet, ist nicht, daß man davon spricht, sondern wie man davon spricht« (Durkheim 1983, 148; Hervorhebung durch die Herausgeber:innen). Wie wichtig es ist, über dieses schwierige und häufig tabuisierte Thema zu sprechen und damit u. a. der weit verbreiteten »gefährliche[n] Fehleinschätzung [entgegenzutreten], dass das Ansprechen einer Person auf ihre Suizidgedanken diese erst auf die Idee kommen ließe, sich umzubringen« (Stein im vorliegenden Band), ist eine zentrale Botschaft, die dieser Band vermitteln will.
Da wir davon überzeugt sind, dass das Thema von gesamtgesellschaftlichem Interesse ist, richtet sich der vorliegende Tagungsband ausdrücklich nicht nur an ein Fachpublikum, sondern an eine breite Leser:innenschaft. Dennoch ließ es sich selbstverständlich nicht vermeiden, Fachbegriffe zu benutzen und auf fachspezifische Konzepte zu rekurrieren; diese werden erläutert, wo es uns notwendig erschien. Einige Konzepte, insbesondere der bereits erwähnte Werther-Effekt, spielen in verschiedenen Beiträgen eine Rolle und werden aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Da dieser Band parallel zur gedruckten Fassung im Open Access-Format erscheint und die Beiträge auch einzeln heruntergeladen werden können, haben wir uns dazu entschieden, mögliche Redundanzen im Gesamtband zu akzeptieren.
Die Beiträge sind in drei thematische Abschnitte gegliedert: (I) Kulturwissenschaft & Musikwissenschaft, (II) Medizin & Musiktherapie sowie (III) Suizidforschung, Jugendpsychiatrie & Medienpsychologie.
I Kulturwissenschaft & Musikwissenschaft
Mit dem Beitrag »Ansteckende Fragen. Zur Kulturgeschichte der Suizidepidemien« greift der Kulturwissenschaftler Thomas Macho das Thema eines Kapitels aus seinem 2017 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne auf, das einen der erwähnten roten Fäden bildet: »Werther-Effekte«. Die Umwertung des Suizids in der Moderne hin zu einer Entmoralisierung und Entkriminalisierung war durch den Aufstieg der Medizin und damit um den Preis der Pathologisierung des Suizids möglich geworden, die wiederum dazu führte, dass man — neben der Pest und der Cholera — auch begann, Suizide als ansteckend zu betrachten. Spätestens seit zeitgenössischen Berichten über das »Werther-Fieber« nach Erscheinen des Romans Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe 1774 wurde auch das Lesen von Büchern und Zeitungsnachrichten als potenziell lebensgefährlich angesehen. Im Zuge der Reflexion historischer Diskurse über die Frage medieninduzierter Nachahmungssuizide kommen auch jüngere »Selbsttechniken« wie der Abschiedsbrief zur Sprache.
Julia Heimerdinger diskutiert in ihrem Beitrag »Von hohen Felsen, trocknen Blumen und traurigen Sonntagen. Schlaglichter auf Musik und Suizidalität aus musikhistorischer Perspektive« Lieder und Songs, Opernarien, Instrumentalmusik und Klangcollagen von antiker Lyrik bis zur Industrial Music der 1970er-Jahre. Neben Fragen nach der musikalischen Darstellung und Reflexion des suizidalen Zustands und den jeweiligen künstlerischen und gesellschaftlichen Kontexten und Intentionen werden auch Diskurse über die Wirkung von Musik angerissen, die mitunter im Rahmen von Liedtexten und vor allem in Texten über Musik als Gegenstand ästhetischer und existenzieller Erfahrung geführt wurden und werden.
Ganz auf Heavy Metal konzentriert sich der englischsprachige Text »Songs in the Key of Depression, Suicide and Death« von Andy R. Brown. Wie bereits angedeutet, wurde dieses Genre (inklusive zahlreicher Subgenres) seit seiner Entstehung in den 1970er-Jahren als ›Problem Music‹ markiert. Die Stigmatisierung von Metal Fans, die ihren Höhepunkt in den 1980er-Jahren in den USA erlebte, führte u. a. zu solch fragwürdigen Maßnahmen wie »Demetaling«-Programmen für Jugendliche. Brown beleuchtet in seinem Beitrag zum einen das Phänomen sogenannter Moral Panics, zum anderen zeigt er anhand ausgewählter Songs — insbesondere der Thrash Metal Ballade — und am Beispiel von Musikvideos auf, wie Bands die Themen Suizidalität und Stigmatisierung aufgreifen, um auf diese Weise mit ihren Fans in eine Art Dialog zu treten.
II Medizin & Musiktherapie
Der zweite Abschnitt wird mit einer Einführung in das Thema Suizidprävention eröffnet. Mit seinem Beitrag »Hält Beziehung am Leben?« rückt Claudius Stein, langjähriger ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, ein Thema in den Fokus, das in der Krisenintervention von zentraler Bedeutung ist: das Beziehungsangebot von Helfenden. Anschließend an eine Übersicht zu soziodemografischen Daten geht Stein auf einige gängige Vorurteile zum Thema Suizid ein. Ausgehend vom Beispiel der Rettung des suizidalen Papageno durch die drei Knaben in der Zauberflöte werden die Möglichkeiten suizidpräventiver Maßnahmen aufgezeigt.
Die Musiktherapeutin Susanne Korn (Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel) beschäftigt sich in ihrem Beitrag »Suizidalität und Suizid in der Musiktherapie« mit dem Phänomenbereich im klinischen Alltag und erörtert Herausforderungen und Chancen sowie mögliche Interventionen bei akuter, chronischer oder abklingender Suizidalität. Daneben wird auf Indikationen und Kontraindikationen der Musiktherapie und insbesondere auf die Notwendigkeit von Selbstschutz und Selbstfürsorge von professionellen Helfer:innen eingegangen, die mit Suizidalität und Suiziden von Patient:innen konfrontiert sind.
Harm Willms berichtet in seinem Beitrag »Über die Rolle der Musik bei Suizidhandlungen« über eine Untersuchung, die er Mitte der 1970er-Jahre im Rahmen seiner Tätigkeit als Psychiater an einer Berliner Klinik durchgeführt hat. In fünf Fallvignetten wird das musikalische Erleben im Zusammenhang mit Suizidversuchen beschrieben und analysiert.
III Suizidforschung, Jugendpsychiatrie & Medienpsychologie
Benedikt Till und Thomas Niederkrotenthaler widmen sich dem »Zusammenhang zwischen Suizidrisikofaktoren und individuellen Musikpräferenzen« und gehen im Zuge dessen auf den Werther- und den Papageno-Effekt ein. Die Autoren diskutieren zunächst frühere Studien mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen, wie Untersuchungen zu Genrepräferenzen oder Präferenzen für Musik mit suizidalem Inhalt, und stellen zwei eigene Studien vor, die das Verhältnis von Musikpräferenzen und Suizidgedanken sowie den positiven Effekt von Songs untersuchen, die Hilfsangebote für die Bewältigung von Krisen zum Inhalt machen.
Im Beitrag »›Doch sie liebte die Klinge‹« des Kinder- und Jugendpsychiaters Paul Plener werden nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen und negative wie positive Wechselwirkungen mit dem Hören von Musik erörtert. Anhand von zwei Pilotprojekten, in denen musiktherapeutische Ansätze mit Elementen aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie kombiniert wurden, verdeutlicht Plener das Potenzial des Mediums Musik in der Behandlung von Jugendlichen mit psychischen Problemen.
Der Beitrag von Studierenden der Musiktherapie und der Instrumental(Gesangs)pädagogik, die sich im Rahmen des oben erwähnten Seminars mit der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht auseinandergesetzt haben, fasst verschiedene Perspektiven auf die in der Serie verwendete Musik zusammen. Bei der Untersuchung der Musik und der Art ihres Einsatzes stehen sowohl die original komponierten Tracks von Eskmo als auch die ca. 70 für die Serie ausgewählten Songs im Fokus. Vor dem Hintergrund medienpsychologischer Forschung werden die Rezeption der Serie und die damit verbundene Kritik hinsichtlich Nachahmungseffekten bei Jugendlichen diskutiert.
Die Zusammenstellung der Beiträge bzw. die Auswahl der Themenbereiche in diesem Band erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist uns bewusst, dass wichtige Disziplinen und wesentliche Themenstellungen in Bezug auf Musik und Suizidalität hier nicht vertreten sind, wie etwa eine dezidiert soziologische Perspektive, das Thema des assistierten Suizids, Suizide von Musiker:innen oder Suizidalität bei älteren Menschen — der am stärksten betroffenen Altersgruppe.
In den Diskussionen während des Symposiums wurden konträre Positionen evident, welche Musikgenres als problematisch markiert werden. Wie z. B. bei der Gegenüberstellung der Beiträge von Brown und Till und Niederkrotenthaler sichtbar wird, braucht die Auseinandersetzung mit diesem Thema die Konfrontation und den Austausch — nicht zuletzt, um Vorurteile gegenüber bestimmten Musikgenres zu relativieren, indem sie auch kultur- und mediengeschichtlich betrachtet werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Musik nicht nur auf eine bestimmte Art wirkt und sich das individuelle Erleben derselben Musik innerhalb kürzester Zeit verändern kann. Weiters wurden in den Diskussionen immer wieder auch grundsätzliche Fragen philosophisch-existenzieller Natur aufgeworfen (freie Entscheidung versus Pathologisierung des Suizids) und Fragen der Haltung bezüglich einer Entscheidung zum Suizid thematisiert (aus der Sicht professioneller Helfer:innen und persönlich Betroffener), was einmal mehr deutlich machte, wie groß der Gesprächsbedarf zum Thema Suizidalität ist.
Das Gloomy Saturday-Konzert zum Nachhören
Das zweitägige Symposium wurde am Samstag, den 7. Mai 2022, mit einem Konzert abgeschlossen, dessen Titel Gloomy Saturday an den Song »Gloomy Sunday« angelehnt ist. Das Programm, das thematisch passende Stücke — Arien, Lieder und ein Werk für Klavier solo — vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart umfasste, wurde von Tanya Aspelmeier (Professorin für Gesang am Antonio Salieri Institut für Gesang und Stimmforschung in der Musikpädagogik) und Julia Heimerdinger zusammengestellt und von Studierenden und Kolleg:innen der mdw ausgeführt. Zu Dokumentationszwecken wurde das Konzert mit einfacher Video- und Tontechnik aufgezeichnet. Da der Abend auf sehr positive Resonanz stieß, haben wir uns mit Zustimmung der beteiligten Musiker:innen dazu entschlossen, die Aufzeichnung gemeinsam mit diesem Band zugänglich zu machen. Unter diesem Link findet sich eine Liste mit allen Musikstücken des Konzerts, die als Videoclips aufgerufen werden können. In den einzelnen Kapiteln sind die verfügbaren Titel mit Links hinterlegt und mit Lausprechericons
gekennzeichnet.
Danksagungen
Abschließend möchten wir all jenen Personen und Institutionen herzlich danken, die an der Realisation dieses Tagungsbands beteiligt waren: an erster Stelle den Vortragenden des Symposiums und den Teilnehmer:innen des Seminars »Zur Rolle der Musik in der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht« für die Verschriftlichung ihrer Referate, sowie den Mitwirkenden des Abschlusskonzerts für ihre musikalischen Beiträge. Herzlich danken wir auch Tanya Aspelmeier für die wunderbare Zusammenarbeit bei der Gestaltung des musikalischen Programms, Robert Hofmann und Arik Kofranek vom Audio-Video-Zentrum für die professionelle technische Betreuung des Symposiums, Robert Hofmann zudem für die Bearbeitung des Konzertmitschnitts für die Online-Veröffentlichung.
Besonderer Dank gebührt mdwPress für die Aufnahme des Bands in das Verlagsprogramm, namentlich den Verlagsleiter:innen Therese Kaufmann und Michael Staudinger, sowie Max Bergmann für die umsichtige Betreuung. Dem mdwPress-Kuratorium und den zwei anonymen Gutachter:innen danken wir für ihre hilfreichen Anmerkungen. Ohne die Offenheit der mdw — Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dieser Thematik einen Denk- und Diskussionsraum zu geben, und ohne die finanzielle Unterstützung durch das Institut für Musiktherapie, das Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung sowie den Open Access-Publikationsfond der Stabstelle Forschungsförderung wäre die Umsetzung des Symposiums und des daraus hervorgegangenen Buchs nicht möglich gewesen. Vielen herzlichen Dank dafür!
Für ihre Mitwirkung bei der Einrichtung des Manuskripts sind wir einer Reihe von Personen dankbar: insbesondere Johannes Fiebich (Wissenschaftsorganisation am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung), daneben Maximilian Böhm, Jil Paul, Sofie Himmelbauer und Elsa Campbell, sowie Jason Heilman für das Korrekturlesen des englischsprachigen Texts und der Abstracts.
Julia Heimerdinger möchte darüber hinaus Simon Obert herzlichst für seine unschätzbaren Hinweise und Unterstützung bei der Entstehung des Buchs danken. Nicht zuletzt dankt Julia Heimerdinger Martin Heinze, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit der Immanuel Klinik Rüdersdorf, der vor Jahren in Gesprächen und gemeinsamen Vorträgen zur Beschäftigung mit diesem besonderen Thema und zur interdisziplinären Arbeit angeregt hat.
Endnoten
-
Dieser und die folgenden drei Absätze basieren auf dem Beitrag von Heimerdinger und Stegemann 2022.↩︎
Literaturverzeichnis
Durkheim, Émile. 1983. Der Selbstmord. Übers. von Sebastian und Hanne Herkommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Falret, Jean-Pierre. 1824. Der Selbstmord: Eine Abhandlung über die physischen und psychologischen Ursachen desselben, und über die Mittel, seine Fortschritte zu hemmen. Übers. von Gottlob Wendt. Sulzbach: Seidel.
Gore, Tipper. 1987. Raising PG Kids in an X-Rated Society. Nashville: Abingdon Press.
Heimerdinger, Julia. 2020. »›Einsame Sonntage hab ich zu viel verbracht, heut’ mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht‹. Ein Lied von Liebe und Tod — Gloomy Sunday (1999)«. In Lebensmüde, todestrunken: Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie, hg. von Martin Poltrum, Bernd Rieken und Otto Teischel, 127—41. Berlin: Springer.
Heimerdinger, Julia und Thomas Stegemann. 2022. »Musik und Suizidalität«. mdw-Magazin Nr. 1 (März/April): 39—41. Zugriff am 18. Dezember 2023. https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2022/02/28/musik-und-suizidalitaet/.
Macho, Thomas. 2017. Das Leben nehmen: Zum Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Niederkrotenthaler, Thomas, Martin Voracek, Arno Herberth, Benedikt Till, Markus Strauss, Elmar Etzersdorfer, Brigitte Eisenwort und Gernot Sonneck. 2010. »Role of Media Reports in Completed and Prevented Suicide: Werther v. Papageno Effects«. British Journal of Psychiatry 197: 234—43.
Pörschmann, Dirk, Tatjana Ahle und Reinhard Lindner. 2021. Suizid: Let’s talk about it! Bielefeld: Kerber.
Ringel, Erwin. (1953) 1997. Der Selbstmord: Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung; Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern. 6. Aufl. Eschborn: Klotz.
Stegemann, Thomas, Annika Brüggemann-Etchart, Anna Badorrek-Hinkelmann und Georg Romer. 2010. »Die Funktion von Musik im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität bei Jugendlichen«. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 59, Nr. 10: 810—30. https://doi.org/10.13109/prkk.2010.59.10.810.
Willms, Harm. 1975. »Die Bedeutung der Musik für den Suicid und die Suicidprophylaxe«. Musik + Medizin 1, Nr. 6: 39—41.