Zur Kulturgeschichte der Suizidepidemien
Thomas Macho
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Macho, Thomas. 2025. »Ansteckende Fragen: Zur Kulturgeschichte der Suizidepidemien«. In Musik und Suizidalität. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Julia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann. Wien und Bielefeld: mdwPress.
Abstract
Abstract
Die Moderne ist eine Epoche der Umwertung des Suizids, der zunehmend nicht mehr verfolgt, verteufelt, bestraft oder tabuisiert wird. Ermöglicht wurden die Prozesse allmählicher Entheroisierung, Entmoralisierung und Entkriminalisierung der Suizide durch deren umfassende Pathologisierung, beispielsweise als »Werther-Fieber« oder »Ophelia-Komplex«, als Suizidepidemie oder Serie medieninduzierter Nachahmungssuizide. In seinem Buch zu Vizi e virtù del suicidio (2020) bemerkt der italienische Kinderarzt Franco Foschi: »Der Suizid ist eine infektiöse, keine genetische Krankheit. Das heißt, sie ist ansteckend, aber nicht vererbbar.« Die Rede von Suizidepidemien stellt indes nicht nur die Frage nach den Einflüssen kultureller Artefakte auf die Entscheidung für einen Suizid in den Mittelpunkt, sondern auch die Frage, ob und wie die historischen und aktuellen Erfahrungen einer Pandemie unsere kulturelle Wahrnehmung des Suizids geprägt haben und prägen.
1.
Die historische Reihe respektierter Suizide — der heroisch-ehrenvolle Suizid, das Martyrium und Selbstopfer, der Notsuizid aufgrund von unheilbarer Krankheit, quälenden Schmerzen oder Alter — referierte auf verschiedene Instanzen: Staat und Familie, religiöse Autoritäten, zuletzt die Medizin.1 Relevant für die Umwertung des Suizids in der Moderne war zweifellos der Aufstieg der Medizin, Psychiatrie und Psychologie, die zunehmend zur Rechtfertigung des Suizids beitrugen, freilich um den Preis seiner Pathologisierung. An die Stelle der Sünde trat die Krankheit. In mancher Hinsicht kann die europäische Mentalitäts- und Ideengeschichte ohnehin als eine Art von Konkurrenzkampf zwischen Religion und Medizin dargestellt werden: Heil und Heilung konnten divergieren; die Erlösung von Leid und Schmerzen war zweitrangig gegenüber der Erlösung von Sünden. Die Krankenpflege galt zwar als christliche Pflicht, der sich manche Orden, etwa die Antoniter und Franziskaner, mit großem Engagement widmeten, nicht aber die fachkundige Ausbildung der Ärzte und Chirurgen. Vermutlich inspirierte erst die Verbreitung neuer Instrumente, Techniken und Übersetzungen griechischer oder arabischer Abhandlungen zur Medizin, die ab dem 13. Jahrhundert nicht nur in Spanien, sondern auch in Westeuropa zu zirkulieren begannen, den Aufstieg der ärztlichen Künste, ebenso wie der Beginn der Frührenaissance und des Humanismus; vor allem aber erzwangen die Schreckenserfahrungen des Schwarzen Todes eine neue Orientierung.
Die Pest bildete die zentrale Bruchstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts wurden zahlreiche Städte und Länder Europas heimgesucht; nach realistischen Schätzungen starben damals rund 25 Millionen Menschen, fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Kontinents. Immer wieder flackerte die Seuche auf. Die mentalen Effekte dieser beschleunigten Entvölkerung können kaum überschätzt werden; sie entluden sich in den Pogromen gegen Juden und später in den Hexenverfolgungen, aber auch in regelrechten Suizidwellen, die bereits Boccaccio beklagt hatte. Die apokalyptischen Schrecken der Pest prägten die folgenden Jahrhunderte; und während die Kirche ihre »Pestblätter« verteilte, in denen die Seuche als Strafe Gottes dargestellt wurde, verkündeten die gemalten Totentänze, die zahlreiche Friedhofsmauern — von Paris bis Basel oder Lübeck — zu schmücken begannen, den Triumph des Todes, der alle Stände und Zünfte traf, Frauen und Männer, Kinder und Alte, Mächtige und Schwache, Ärzte und Patienten. »Der Tod erwürget alle gleich, wie er sie findet, arm und reich«, kommentierte ein deutsches Sprichwort. Ein mörderischer Egalitarismus der Ansteckung! Gezeigt wurden keine Allegorien des Todes, wie manchmal missverständlich behauptet wurde, sondern zumeist konkrete, individuelle Leichen in allen möglichen Übergangsstadien der Verwesung, häufig eine Art von Doppelgänger der Lebenden. »Tu fui, ego eris«, steht auf manchen Grabsteinen: »Ich war (wie) du, du wirst sein (wie) ich«. Ist nicht der Tote, welcher Papst und Kaiser, Bischof und Kaufmann, Soldat, Jungfrau und Bauer abholt, deren künftige Gestalt? Ein Vorgänger als Wiedergänger, der die unvermeidliche Richtung anzeigt? Ein solcher Wegweiser wurde nicht zuletzt für die Ärzte errichtet, die ihre Hilflosigkeit bekennen mussten. In der Pariser Danse macabre (von 1425) heißt es: »Arzt, bei all Eurem Urin, seht Ihr denn, wie hier zu helfen ist? Einst wußtet Ihr von der Medizin genug und konntet wohl befehlen. Nun kommt der Tod und ruft Euch. Wie jeder andere müßt Ihr sterben. Dagegen gibt es keinen Einspruch.« Und der Arzt resigniert: »Gegen den Tod gibt es kein Kraut« (zit. nach Kaiser 1983, 97). Im Basler Totentanz von 1440 verhöhnt der Tote sogar sein Opfer: »Herr Doktor, beschaut an mir die Anatomie, ob sie auch richtig sei. Denn Du hast manchen hingerichtet, der aussieht jetzt wie ich.« Kläglich erwidert darauf der Arzt: »Ich habe mit meinem Urinbeschauen Männern und Frauen geholfen. Doch wer beschaut mein Wasser jetzt? Ich muß mit dem Tod dahin« (ebd., 229).
Um die rätselhaften Wege der Ansteckung kreisten die Debatten; beschuldigt wurden die Juden als »Brunnenvergifter«, die Hexen, die Aussätzigen, denen nachgesagt wurde, dass sie die Krankheit durch Sexualkontakte übertrugen (vgl. Die Chronik 1892, 173—74), aber auch die Ärzte selbst, die angeblich durch mörderische Salben die Seuche verbreiteten.
Im Jahre 1530 wurde in Genf eine Verschwörung aufgedeckt, die von »Salbern« angezettelt worden war und der, wie man glaubte, der Leiter des Seuchenspitals, dessen Frau, der Wundarzt und sogar der Armenpfleger der Anstalt angehörten. Als man sie der Folter unterwarf, gestanden die Verschwörer, sich dem Teufel verschrieben zu haben, der ihnen im Austausch dafür verraten hatte, wie die tödliche Mixtur herzustellen sei: Sie wurden alle zum Tode verurteilt. (Delumeau 1989, 189)
Zuletzt wurde gar den Pestkranken selbst vorgeworfen, die Gesunden absichtlich anstecken zu wollen. Daniel Defoe zog freilich den Schluss, der Vorwurf sollte bloß die Verweigerung von Hilfeleistungen rechtfertigen, angesichts einer Bedrohung, in der Panik unmittelbar zur Flucht führte und jedes Mitgefühl auslöschte: »Selbsterhaltung schien in der Tat das einzige Gesetz zu sein. Denn Kinder liefen von ihren Eltern fort, wenn die in äußersten Qualen dahinsiechten. Und manchmal, wenn auch nicht so häufig wie umgekehrt, taten Eltern das gleiche ihren Kindern an« (Defoe 1987, 156).
Kaum hatte sich die Pest — mit einer letzten Epidemie, die 1771 in Moskau aufflammte — aus Europa zurückgezogen, trat die Cholera ihr Erbe an. Vermutlich war es der wachsende Kolonial- und Orienthandel, der die viele Jahre lang vorrangig in Südasien auftretende Infektionskrankheit in mehreren Wellen nach Europa einschleppte. Besonders dramatisch verlief die zweite Pandemie zwischen 1826 und 1841, in deren Verlauf die europäischen Metropolen heimgesucht wurden: Berlin, London, Paris. Vom Wüten der Cholera in Paris, die zunächst unterschätzt worden war, berichtete Heinrich Heine unter dem Datum vom 19. April 1832:
Nur ein Tor konnte sich darin gefallen, der Cholera zu trotzen. Es war eine Schreckenszeit, weit schauerlicher als die frühere, da die Hinrichtungen so rasch und so geheimnisvoll stattfanden. Es war ein verlarvter Henker, der mit einer unsichtbaren Guillotine ambulante durch Paris zog. (Heine 1996, 168)
Erneut begann die Suche nach Schuldigen: Erst wurden die Reichen verdächtigt, denn die Seuche traf in erster Linie die Armen; bald danach wurden auch die Ärzte angegriffen.
Man belagerte Ambulanzen, Krankenhäuser und Behelfslazarette, plünderte Apotheken, malträtierte Ärzte in aller Öffentlichkeit […]. In Rußland und Polen […] wurden Krankenhäuser demoliert und Krankenschwestern und Ärzte ermordet; in Frankreich kam das Pflegepersonal wenigstens nur durch die Cholera um. (Ruffié und Sournia 1987, 71—72)
2.
Die Belastbarkeit der Zahlen über die Häufigkeit von Suiziden oder ihre mögliche Zunahme in Zeiten der Pest und Cholera ist wohl nicht hoch. Die beschleunigte Häufung der Sterbefälle überforderte die Behörden und Kirchenämter, sofern ihre Vertreter überhaupt am Leben blieben. Immerhin erinnerte sich Montaigne an die Pest im Gebiet seines Schlosses und Weinguts im Périgord, wo von der Bevölkerung nicht einmal »der hundertste Teil« überlebte. Mit kaum verhohlener Bewunderung erzählte er:
Manche schaufelten sich schon bei voller Gesundheit ihr Grab, andre legten sich in das ihre sogar lebendigen Leibes hinein; und einer meiner Tagelöhner scharrte im Sterben mit Händen und Füßen die Erde über sich. Heißt das nicht sich wahrlich tief einhüllen, um gelöster zu entschlafen? (Montaigne 1998, 529)
Einige Jahrzehnte später berichtete Defoe, es sei vorgekommen, dass »Menschen, die krank lagen und schon im Fieberwahn und dem Ende nahe waren, zu den Gruben liefen, in Decken oder Bettücher gehüllt, und sich hinunterstürzten, um, wie sie sagten, sich selbst zu begraben.« Und er beobachtete, dass »Menschen, die in der Hitze des Fiebers oder in der Pein ihrer Geschwülste, die in der Tat unerträglich war, außer sich gerieten, rasend und wahnsinnig wurden und oft gewaltsam Hand an sich legten, sich zum Fenster hinausstürzten, sich erschossen« (Defoe 1987, 83—84 und 111—12). Jean Delumeau zitiert den Bericht eines Arztes aus Malaga, in dem es heißt: »Eine Frau begrub sich lebendig, um nicht den Tieren als Fraß zu dienen. Ein Mann zimmerte sich seinen eignen Sarg, nachdem er seine Tochter begraben hatte, und starb neben ihr« (Delumeau 1989, 171).2 Gewiss kann die Aussagekraft dieser spärlichen Zeugnisse und Quellen relativiert werden; dennoch wäre schwer vorstellbar, dass Katastrophen wie die geschilderten Epidemien keinen realen Einfluss auf die Suizidzahlen ausübten (vgl. Lind 1999, 242—43).
Die Frage nach exakten Suizidzahlen — und deren Zunahme etwa in England zwischen 1580 und 1620 (vgl. Minois 1996, 132—74) oder während des gesamten 19. Jahrhunderts (vgl. Barbagli 2015, 19) — steht im Zentrum moderner Suiziddiskurse. Denn diese Diskurse sind Diskurse der Ansteckung, und zwar bis heute; und sie waren eminent geprägt von den epochalen Erfahrungen mit Pest und Cholera. Üblich wurde die Diagnose von »Selbstmordepidemien«; doch als Quellen dieser »Epidemien« figurierten nicht mehr faulige Luft, vergiftetes Brunnenwasser oder mysteriöse Bakterien, sondern Zeitungsnachrichten und Bücher. Als lebensgefährlich erschien nicht mehr das Atmen, Trinken oder Berühren von Seuchentoten, sondern das Lesen, das sich im Zuge der Aufklärung und Einführung allgemeiner Schulpflicht gleichsam »epidemisch« verbreitet hatte. Nicht umsonst war es ja auch ein literarischer Text, dem zuerst nachgesagt wurde, er verführe zum Suizid: Johann Wolfgang Goethes 1774 anonym veröffentlichter Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Das Ende des Romans berichtet detailliert vom Freitod des jungen, unglücklich verliebten Titelhelden:
Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. […] Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste. […] Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen. (Goethe 1996, 124)
Schon Werther starb nicht nur an einem Pistolenschuss, sondern auch an gefährlicher Lektüre.
Die genaue Beschreibung der Szene schien geradezu zur Nachahmung einzuladen: die ›Werther-Tracht‹ (der blaue Frack mit gelber Weste), der Schreibtisch, das aufgeschlagene Buch — wobei Lessings Trauerspiel von 1772, in dem zum Schluss der Vater die verzweifelte Tochter ersticht, um ihre Ehre zu wahren (und ihren Suizid zu verhindern), natürlich ersetzt wurde durch Goethes Roman. Zwar wurde der Begriff »Werther-Effekt« erst rund zweihundert Jahre später, in soziologischen Untersuchungen über kausale Korrelationen zwischen Suizidraten und der Ausstrahlung von Filmen geprägt (vgl. Phillips 1974); doch in der Sache selbst wurde bereits zu Goethes Zeit über das »Werther-Fieber« diskutiert.
Quellenmäßig belegt ist in jedem Fall eine zweistellige Zahl von Suiziden in verschiedenen europäischen Ländern, die in direkter Verbindung mit Goethes Buchpublikation stehen. Das Phänomen der Nachahmung des literarischen Vorbildes war bei diesen Fällen insofern evident, als sich die Suizidenten genau wie die tragische Romanfigur mit blauer Jacke und gelber Weste kleideten oder das Buch direkt beim Suizid bei sich führten, wie im Fall eines jungen Mannes namens Karstens, der sich bei aufgeschlagenem Buch erschoss, oder Christine von Lassberg, die sich mit dem Buch in der Tasche ertränkte. (Ziegler und Hegerl 2002, 41)
Kurzfristig wurden Die Leiden des jungen Werther — wegen verhängnisvoller Verführung zum Suizid — sogar verboten; schon im Januar 1775, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Romans, schrieb der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, Johann August Ernesti, an die sächsische Zensurbehörde, das Buch sei eine gefährliche »Apologie und Empfehlung des Selbst-Mordes«; er zitierte einige »gelehrte und sonst gesetzte Männer«, die »sich nicht getrauet hätten das Buch durchzulesen, sondern es etliche Male weggelegt hätten« (zit. nach Flaschka 1987, 281).3 Ein Jahr später wurden Werthers Leiden auch in Mailand und Kopenhagen verboten, und Goethe ließ die zweite Auflage mit Versmottos vor dem ersten und zweiten Buch erscheinen; das zweite Motto endete bekanntlich mit der Empfehlung: »Sey ein Mann, und folge mir nicht nach«. Implizit reagierte der Roman auf eine wirkliche Tat, den Suizid des Wetzlarer Gesandtschaftssekretärs Carl Wilhelm Jerusalem (in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772). Bevor Werther zur Ansteckungsquelle eines kollektiven »Fiebers«, einer Art von »Selbstmordepidemie«, avancieren konnte, war er selbst schon gleichsam »infiziert« (vgl. Neumeyer 2009, 151—64 und Lessing 1776, [3—14]), und zwar von der Erzählung über einen leidenschaftlichen Leser, wie August Kestner in seinem Bericht vom Suizid Jerusalems betonte: »Er las viel Romane, und hat selbst gesagt, daß kaum ein Roman seyn würde, den er nicht gelesen hätte. Die fürchterlichsten Trauerspiele waren ihm die liebsten« (Kestner 1854, 87—88). Goethe hat übrigens den medizinisch detailreichen Bericht Kestners (vom November 1772) fast wörtlich übernommen; schon auf dem Pult Jerusalems sei eine aufgeschlagene Ausgabe der Emilia Galotti gelegen (ebd., 98—99).
3.
Während der Suizid im 18. Jahrhundert entweder als religiös oder politisch inkriminierbare Handlung betrachtet wurde, als Zerstörung fremden Eigentums, das Gott und König gehört, oder als Ausdruck einer fragwürdig freien Selbstbeziehung, vergleichbar mit der Onanie (vgl. Neumeyer 2009, 86—105), wurde er im 19. Jahrhundert zunehmend als Tat imaginiert, die zur Nachahmung verführt. Im 18. Jahrhundert diskutierten Gegner des Suizids wie Immanuel Kant, der sogar die Verpflanzung eines Zahns als »partialen Selbstmord« (vgl. Kant 1978, 555) verurteilte, oder Befürworter des Freitods wie David Hume über die Frage der Pflichten gegen Gott und Gesellschaft; ihr Streit wurde jedoch bald im Kontext einer Kritik an Werthers Leiden rezipiert, wie sie der lutherische Theologe, Schlossprediger und Schulleiter Gottfried Less im Jahr 1776 — dem Todesjahr Humes — ausgedrückt hatte:
Dichter! Romanenschreiber! Wizige Köpfe! Wohin füren alle die Vernisse die ihr dem Selbstmorde anstreicht? Alle die glänzenden Larven, womit ihr ihn bekleidet? Jene melancholischen Gemälde der Vereitelung einer ehelichen Liebe, oder gar einer viehischen Lust; jene Lobpreisungen der Selbstmörder, vom Cato an bis zum Werther herab! Wohin füret dies alles? — Allen Lastern die Thore zu eröfnen; alle Verbrechen zu begünstigen; und das menschliche Geschlecht durch sie zu Grunde zu richten! Wer Selbstmord predigt, oder beschöniget, der ist — der größte Feind des menschlichen Geschlechts! (Less 1776, 44—45)
Das »Verbrechen, unser Leben zu endigen« setzt also Lektüre, Studium und Wissen voraus.
Michel Foucault oder Pierre Hadot haben die Entwicklung einer neuen »Sorge um sich selbst« in der stoischen und frühchristlichen Antike als Verbreitung von »Selbsttechniken« untersucht (vgl. Foucault 1993, 24—62; vgl. auch ders. 2004 und Hadot 1991); dabei zeigten sie auch, dass diese Selbsttechniken nicht nur als Techniken der Meditation, des Gebets, der Askese oder Körperpflege, sondern vor allem im Schreiben, Lesen und Diktieren praktiziert wurden, als »ethopoetische« Strategien. In diesem Sinne bedeutete der Titel der Aufzeichnungen Marc Aurels — ta eis heauton — in wörtlicher Übersetzung weder »Selbstbetrachtungen« noch »Selbstermahnungen«, sondern schlicht und einfach eine Art von Adressierung, gleichsam Briefe an sich selbst (vgl. Hadot 1996, 45—61). Selbsttechniken ermöglichten und vertieften eine Aufspaltung des Subjekts: Der Lesende spaltet sich auf in ein sprechendes und ein hörendes Selbst; der Schreibende spaltet sich auf in Autor und Adressat seiner Texte, gleichgültig ob er Dialoge mit sich selbst, Tagebucheintragungen oder Briefe verfasst. Von solchen strategischen Verdoppelungs- und Spaltungstechniken erzählen bereits die platonischen Dialoge, etwa wenn sie Auskunft geben über die Beziehung zwischen Sokrates und seinem daimon, dem Begleiter, der die Seelen nach dem Tode in die Unterwelt führt (vgl. Platon 1958, 57 [107 d]), aber auch Senecas 25. Brief an Lucilius, der dem Freund empfiehlt, sich probehalber einen prominenten Zeugen vorzustellen, der seine Handlungen beaufsichtigt (Seneca 2014, 90—91 [25,5—7]). Und noch Paul Valéry betonte, es sei unmöglich, »die ›Wahrheit‹ von sich selber zu empfangen. Wenn man sie Gestalt annehmen fühlt (das ist ein Eindruck), formt man gleichzeitig ein anderes ungewohntes Selbst … auf das man stolz ist — auf das man eifersüchtig ist …« (Valéry 1997, 51; vgl. auch Macho 2000, 27—44). Mit diesem »ungewohnten Selbst« befasste sich Valéry während seines gesamten intellektuellen Lebens: Er nannte es den »Herrn Zeugen«, Monsieur Teste.
Können wir also von einer longue durée der Selbsttechniken — von Platon bis Montaigne, von Seneca bis Paul Valéry — sprechen? An einem entscheidenden Punkt täuscht diese Perspektive. Sie blendet nämlich aus, dass Selbsttechniken seit der Antike — trotz christlicher Mission, der Einübung von Gebeten, Passionsmeditationen und Praktiken der Gewissenserforschung — jahrhundertelang bloß zum Verhaltensrepertoire einer zahlenmäßig kleinen Elite zählten. Nur eine Minderheit im Römischen Reich — und danach im christlichen Mittelalter — hat Platons Dialoge, Marc Aurels Aufzeichnungen, Senecas Briefe oder die Bekenntnisse des Augustinus gelesen. Unter diesem Aspekt kann erst die Geschichte der Modernisierung als ein Prozess der Popularisierung von Selbsttechniken beschrieben werden, der zunächst mit der Erfindung des Buchdrucks begann, einen ersten Gipfel durch die Einführung allgemeiner Schulpflicht und die nachfolgende Massenalphabetisierung erreichte, und heute — seit Anbruch des digitalen Zeitalters, mit Internet und millionenfacher, weltweiter Nutzung sozialer Medienplattformen — eine neue, historisch bisher unvorstellbare Gestalt angenommen hat. Die Umrisse einer Welt, in der nicht mehr nur einzelne Stoiker, Heilige oder Genies ihre jeweiligen Selbsttechniken praktizieren, sondern ungezählte Gruppen und Individuen aus den verschiedensten sprachlichen und kulturellen Kontexten, können gegenwärtig allenfalls erahnt werden. Salopp gesagt: Das Internet ist die technische Form einer Art von »Ansteckung« durch Selbsttechniken, ein Medium vielfältiger Praktiken des Sprechens, Schreibens, Lesens und Abbildens, aber auch ein Medium der Subjektspaltung und Suizidreflexion, etwa im Sinne des vielzitierten Satzes von Théodore Jouffroy: »Suizid ist ein schlecht gewähltes Wort; wer tötet, ist niemals identisch mit dem, der getötet wird« (Jouffroy 1842, 245; übers. von T. M.).
Die Popularisierung und Verbreitung von Selbsttechniken ab dem 18. Jahrhundert generierte nicht nur eine Vielzahl von Ansteckungsdiskursen, die um Fieber, Epidemie und eine gefürchtete Verführung zum Suizid kreisten, sondern auch ein neues Genre: den Abschiedsbrief. Zwar war es seit der Antike üblich, die letzten Worte eines Sterbenden aufzuzeichnen; und natürlich wurden Testamente verfasst, aber eben keine Abschiedsbriefe. Im ersten Kapitel seiner Sammlung von Suicide Notes spricht Marc Etkind von der »Geburt« des Abschiedsbriefs im 18. Jahrhundert; er bemerkt:
Aus einer Hollywood-Sicht auf die Welt ist ein Suizid ohne Abschiedsbrief schwer vorstellbar. Doch vor dem 18. Jahrhundert plagten sich nur sehr wenige Menschen während der letzten qualvollen Momente mit der Niederschrift ihrer Gedanken. Wenige Menschen konnten lesen oder schreiben, und selbst wenn sie es gekonnt hätten, wäre es das Letzte gewesen, was sie hätten machen wollen, ihren Suizid der Welt zu verkünden. Denn sie wären verteufelt, ihre Körper durch die Stadt geschleift und an einer Wegkreuzung angepflockt, das Eigentum und der Besitz ihrer Familien beschlagnahmt worden. Doch im 18. Jahrhundert, im Zuge dramatischer Steigerungen der Alphabetisierungsrate, entschieden sich einige exzentrische Geister für Kommunikationsversuche, auch wenn sie ewige Verdammnis bedeuten sollten. Zur selben Zeit begannen die Zeitungen, die ein anwachsendes Lesepublikum versorgen mussten, solche letzten Mitteilungen zu publizieren. Und als die Öffentlichkeit nicht empört war, sondern tatsächlich großes Interesse zeigte, diese Dokumente zu lesen, war ein neues Phänomen geboren: die seltsame Kombination von Schreibfähigkeit und Wahnsinn, die wir als Abschiedsbrief bezeichnen. (Etkind 1997, 1—2; übers. von T. M.)
Und Etkind betont, was zum Common Sense der bis heute geführten Debatten um den Medieneinfluss auf Suizide zählt:
Die Rolle, die die Presse bei der Verbreitung von Abschiedsbriefen spielte, darf nicht unterschätzt werden. […] [Allmählich] verschafften die Zeitungen potentiellen Suiziden, erstmals in der Geschichte, Zugang zu einem Massenpublikum. Suizide konnten durch den Gebrauch von Abschiedsbriefen den Tod nutzen, um Sympathie, Rache oder Nachleben zu erreichen. Der Suizid wurde nun zum Ausdruck des Selbst. (Ebd., 2; übersetzt von T. M.)
Von »suizidärer Sterbekunst« spricht Marie Isabel Schlinzig in ihrer Untersuchung der Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts (vgl. Schlinzig 2012, 177; vgl. auch MacDonald und Murphy 1990).
Die Beispiele, die Marc Etkind in seiner Sammlung kommentierte — und auf die sich auch Simon Critchley in den Notes on Suicide ausführlich bezieht (vgl. Critchley 2015, 45—76) — berühren häufig durch ihre Schlichtheit. Zu sagen gibt es etwas, auch wenn es nichts zu sagen gibt: »No Comment« steht auf einem Zettel, der bei einem Suizidopfer gefunden wird; ein Bauarbeiter, der sich in einem Haus erhängt, das er gerade saniert, malt davor an die Wand: »Sorry about this. There’s a corpse in here. Please inform police«. George Eastman, der Gründer der Firma Kodak, schreibt »To my friends: My work is done. Why wait?« Ein fünfzigjähriger Mann aus Massachusetts hinterlässt die Botschaft: »I’m done with life. I’m no good. I’m dead«. Und neben der Leiche eines Handelsvertreters, der sich erschossen hat, liegt die Notiz: »Somebody had to do it. Self awareness is everything« (Etkind 1997, 12—14). Der kurze Schlusssatz bringt zum Ausdruck, wie wichtig — neben den Gesten der Rechtfertigung, der Verzweiflung, der liebevollen oder zornigen Botschaften — das schriftliche Dokument ist: als könnte ein Suizid gar nicht begangen werden ohne Abschiedsbrief, ohne eine Notiz für die Zurückbleibenden. Es sind gerade die kurzen, oft grammatikalisch und stilistisch mangelhaften Aufzeichnungen, die den Imperativ der Schrift, die Selbsttechnik des Suizids, eindringlich bezeugen. Die anonymen Abschiedsbriefe beeindrucken nicht nur durch existenzielle Not, sondern auch durch ihre schriftliche Liminalität. Zwei Beispiele: »Ich habe keinen Grund habe nichts Böses getan, nur habe ich mich in diese Nervosität gearbeitet; kann nicht mehr leben. Bitte schicke der Frau M. die Sache in der schwarzen Tasche. Ich bin im Estrich.« Und: »Du ich versuche also, tapfer zu sein, ob es mir gelingen wird? Es wird mir so schwer, es Dir zu sagen, aber ich habe seit meiner Jugendzeit immer ein Bedürfnis nach der großen Ruhe in mir herumgetr…« (zit. nach Willemsen 2007, 31 und 69).4
4.
Das »Werther-Fieber« verkehrte die Diskussion um die Legitimität des Suizids, die Frage, wem denn mein Leben gehöre, in eine Diskussion der Ansteckung, des Zwangs zur Nachahmung. Ein unwiderstehlicher mimetischer Sog rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und an Stelle der Autonomie wurde eine verhängnisvolle Abhängigkeit diskutiert, die Verführungskraft von Romanen, Theaterstücken oder Bildern. So berichtete schon Johann Michael Sailer, angebliches Mitglied der Illuminaten und späterer Bischof von Regensburg, über den Selbstmord eines Bekannten, der »im Blute schwimmend« gefunden wurde: »Auf seinem Tische liegt der Werther aufgeschlagen, S. 218, wo es heißt: es ist zwölf — sie sind geladen«. Sailer folgerte:
Sogar das Lesen solcher Schriften, die wider den Selbstmord geschrieben sind, kann einem Schwermüthigen, der mit Gedanken vom Selbstmorde zu kämpfen hat, zur Falle werden. […] Gewissen zum Trübsinn oder Schwärmerey geneigten Seelen können sogar Schriften für die Unsterblichkeit gefährlich werden. (Sailer 1785, 147—48)
Ähnliche Beobachtungen verdichtete der Gynäkologe und Geburtshelfer Friedrich Benjamin Osiander zur Beschreibung von »Selbstmord-Moden«: Die »einheimische Celebrität von Männern und Frauen deutscher Nation« verleite ihre Anhänger, »Thorheiten nachzuahmen, und erregt zuweilen unter schwachen Seelen eine Sucht, den selbstgewählten Tod irgend eines berühmten Theaterhelden zu sterben. Daher giebt es Perioden, wo eine Art des Selbstmordes vor der andern Mode ist« (Osiander 1813, 359). Auch Osiander zog eine radikale Schlussfolgerung, die an die Maßnahmen der Seuchenquarantäne erinnert:
Man verbiete, unterdrücke und zernichte alle Romane, Trauerspiele oder schöngeisterische Schriften, in welchen der Selbstmord als eine rühmliche Handlung, als eine Heldenthat oder eine Handlung eines großen Genie’s dargestellt wird. Gleichviel, wer das Buch geschrieben hat, ein Shakespeare, Schiller oder von Goethe. Die Welt verliert nichts dabei, so wenig als ein Küchengarten, aus welchem man die Belladonna, das Bilsenkraut und den Schierling ausrottet. (Ebd.)
In dieselbe Kerbe schlug der französische Psychiater Jean-Pierre Falret, ein Schüler von Philippe Pinel und Dominique Esquirol, der betonte, wenn nicht »strenger Geschmack« und »geläuterte Moral die Wahl der Bücher bestimmt, welche die Jugend zum Gegenstande ihres Nachdenkens und ihrer Unterhaltungen macht«, so könne die »Übung des Verstandes eine Ursache zum freiwilligen Tode werden« (Falret 1824, 21). Nicht nur Romane, sondern auch Gemälde oder Musik seien gefährlich; Falret berief sich auf Zeugnisse aus Almanachen und Kunstjahrbüchern, die bewiesen hätten, dass — neben bestimmten Opernarien — sogar »die Harmonika den freiwilligen Tod herbeiführen kann« (ebd., 23). Falret stützte seine Überlegungen auf statistische Tabellen, mit deren Hilfe er die Suizidraten der Jahre 1817 und 1818 im Seine-Departement auswertete, differenziert nach Suizid mit oder ohne »erfolgtem Tode«, nach Geschlecht, Familienstand, Methode und Motiv (ebd., 86—87); und er bezog sich nicht nur auf Modeströmungen (wie Osiander), sondern auf regelrecht »epidemische Selbstmorde« (ebd., 141—42). Er zitierte Belege für »Selbstmordepidemien« in Versailles, Rouen und Montpellier; den Chroniken von Marseille entnahm er Indizien für eine »Selbstmord-Epidemie, die auf die Mädchen dieser Stadt durch die Unbeständigkeit ihrer Liebhaber einwirkte« (ebd., 142). »Nach Esquirol fielen im Jahre 1820 zu Montpellier mehr Selbstmorde vor, als in zwanzig Jahren vorher zusammengenommen. — […] Ein erschreckender Census! — Sind diese Thatsachen nicht redende Beweise, dass der Selbstmord Epidemien hat?« (Hoffbauer 1859, 26). Wichtiger als alle Beispiele und Fallgeschichten blieb indes die Frage nach den möglichen Ursachen dieser »Selbstmordepidemien«, die weder auf Vererbung noch auf klimatische Bedingungen oder die Lektüre von Romanen und den Besuch von Theateraufführungen allein zurückgeführt werden konnten. Darum bemerkte Carl August Diez in seiner Studie über den Selbstmord (1838), das intensive Studium von Trauerspielen oder Briefromanen sei keine Ursache, sondern selbst ein Symptom:
Wer nach der Lectüre dieses Romans (der Durchaus keine Apologie des Selbstmordes enthält, sondern vielmehr zeigt, wie Unstätigkeit, gereizte Empfindlichkeit und Unzufriedenheit mit der Welt und ihren Verhältnissen zum Selbstmorde führen) zum Selbstmörder wird, der wäre es ganz gewiss auch geworden, wenn Werthers Leiden nie geschrieben worden wären. (Diez 1838, 240)
Auch Diez berief sich auf statistische Tabellen (etwa zur Zahlenrelation zwischen Morden und Suiziden) (ebd., 79—87); und er lobte die Untersuchungen Johann Ferdinand Heyfelders, der bereits 1828 umfangreiche Zahlenlisten erstellt hatte (ebd., VI; vgl. Heyfelder 1828, 3—14). Heyfelder benannte darüber hinaus unmissverständlich die politisch-ökonomischen Motive für statistische Untersuchungen und Vergleiche der Selbstmordraten:
Die Zunahme des Selbstmords ist die Klage, welche in neuerer Zeit von allen Seiten erhoben wird. Der Staatsmann jammert über so viele der edelsten Kräfte, die dem Vaterlande verloren gehen, mit ihm der Menschenfreund, dass so manches blütenreiche Jünglingsleben die Schranken des menschlichen Geistes verkenne; und der Sclavenhändler, der von Afrika’s Küsten viele Tausend Menschen in entfernte Kolonien zum Verkaufe schleppt, mag seinen Unmuth nicht unterdrücken, dass auch den Schwarzen die Mittel bekannt seyen, dem Daseyn ein Ziel zu setzen. Die Sterbelisten aller Länder und aller Nationen rechtfertigen diese Klage, und bestätigen, dass mit jedem Jahre die Zahl der Selbstmorde steigt, zu welcher jedes Alter und jedes Geschlecht seinen Tribut zollt. (Ebd., 3)
Die stetige Zunahme der Suizidzahlen wurde freilich nicht auf die Erfolge der Presse und Massenmedien oder die Verfeinerungen statistischer Erhebungen zurückgeführt, sondern auf die Wirkungen der Nachahmung. In diesem Sinne bemerkte Diez:
Der Trieb der Nachahmung ist der menschlichen Organisation auf’s Innigste einverleibt, und ein mächtiger Hebel, dessen sich die Natur zu vielen ihrer wichtigsten Absichten bedient. Die ganze erste Erziehung des Menschen ist auf die Nachahmung gegründet, durch sie lernt das Kind die Sprache, durch sie das Gehen und alle die kleinen Fertigkeiten deren es zu seiner Existenz bedarf, alle seine Spiele beruhen auf Nachahmung. […] Selbst manche Krankheiten, besonders Epilepsie und hysterische Convulsionen werden oft durch blosen Anblick mitgetheilt. (Diez 1838, 242—43)
Diez resümierte, auch und gerade der Suizid könne auf die Effekte solcher »Nachahmungstriebe« zurückgeführt werden.
Die Beispiele, dass in einem Orte, wo lange Zeit kein Selbstmord vorgefallen war, schnell nacheinander mehrere sich ereigneten, sind gar nicht selten. […] Auch die Selbstmord-Epidemien scheinen sich, wenigstens zum Theil, auf Nachahmung zu gründen. Es ist diess um so wahrscheinlicher, als sie fast immer nur beim weiblichen Geschlechte beobachtet worden sind, bei welchem die Gewalt des Nachahmungstriebes immer noch grösser, als beim männlichen Geschlechte ist. Ebenso muss auch die Wirkung von Werthers Leiden, wenn ihnen überhaupt irgend eine zuzuschreiben ist, auf Rechnung des Nachahmungstriebes gesetzt werden. (Ebd., 243—44)
Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rückten kollektive Praktiken der Wiederholung und Nachahmung — jenseits ehemals religiöser oder ritueller Bedeutungen — ins Zentrum einer neuen Wissenschaft: der Soziologie. Es war der französische Jurist, Kriminologe und langjährige Richter Gabriel de Tarde — nach der Jahrhundertwende Professor am College de France —, der diese neue Wissenschaft mit Hilfe von zwei zentralen Begriffen begründete: Erfindung und Innovation auf der einen Seite, Nachahmung und Imitation auf der anderen Seite. 1890 erschien Tardes Untersuchung über Les lois de l’imitation, die Gesetze der Nachahmung. Eine Gesellschaft, so argumentierte er, werde nicht durch Vererbungsprozesse, sondern durch komplexe, vielfältige »Nachahmungsketten« konstituiert, die von innen nach außen wirken, von der Idee, einer Überzeugung, einem Begehren, zur geteilten Realität (Tarde 2003, 92). In Les lois de l’imitation wird die Frage des Suizids nicht erwähnt; umso ausführlicher hatte sich Tarde bereits in La criminalité comparée (1886) mit diesem Thema befasst — und danach in La philosophie pénale, einem Werk, das ebenfalls 1890 publiziert wurde. In diesem kriminologisch-rechtstheoretischen Traktat verglich Tarde den Suizid mit Zeugungen und Geburten, Duellen und Kriegen als Effekten universaler Nachahmung:
Alle wichtigen Handlungen des sozialen Lebens werden von Vorbildern dominiert. Man pflanzt sich fort oder nicht, aufgrund von Nachahmung; die Statistiken der Geburtenrate haben es uns gezeigt. Man tötet oder tötet nicht, aufgrund von Nachahmung; würden wir die Idee eines Duells oder einer Kriegserklärung erfassen, wenn wir nicht heute wüssten, dass diese Dinge schon immer in dem Land getan wurden, das wir bewohnen? Man tötet sich selbst oder man tötet sich nicht selbst, aufgrund von Nachahmung; es ist eine anerkannte Tatsache, dass der Suizid in höchstem Grade ein Phänomen der Nachahmung ist […]. Wie sollten wir nach allem daran zweifeln, dass einer stiehlt oder nicht stiehlt, mordet oder nicht mordet, aufgrund von Nachahmung? (Tarde 1912, 322; übers. von T. M.)
Die Originalität dieser Theorie der sozialen Nachahmung bestand in der Darstellung des Wechselspiels zwischen Invention und Imitation; darüber hinaus wollte Tarde demonstrieren, dass sogar die Strategien der Distinktion zumeist auf Nachahmungen zurückgeführt werden können. Daher behauptete er, dass Ähnlichkeiten in einer Gesellschaft durch Nachahmung oder »Gegen-Nachahmung« (contre-imitation) hervorgebracht werden.
Denn Menschen ahmen sich in hohem Maße durch Entgegensetzung nach [contre-imiter], vor allem dann, wenn sie weder die Bescheidenheit haben, schlicht und einfach zu imitieren, noch die Kraft zu erfinden. Durch diese Gegen-Nachahmung, das heißt, durch das Tun oder Sagen des Gegenteils dessen, was sie sehen, wie durch das Tun und Sagen genau dessen, was um sie herum gesagt oder getan wird, gleichen sich die Menschen einander immer stärker an. Nach der Übereinstimmung in den Gepflogenheiten bei Beerdigungen, Hochzeiten, Zeremonien, Besuchen und Höflichkeitsbezeugungen gibt es nichts, was eine stärkere Nachahmung wäre, als seine eigene Neigung, diesem Strom zu folgen, zu bekämpfen und gegen ihn anzuschwimmen. Schon im Mittelalter ist die schwarze Messe aus einer Gegen-Nachahmung der katholischen Messe entstanden. […] Wenn ein Dogma oder ein politisches Programm verkündet ist, teilen sich die Menschen in zwei ungleiche Kategorien: in jene, die sich dafür begeistern, und in jene, die entschieden dagegen sind. (Tarde 2003, 13—14)
So ließe sich die Ansteckungskraft von Parteien und Revolutionen, aber auch von »Selbstmordepidemien« erklären. Suizid als contre-imitation? Erstaunlich bleibt freilich, dass die Theorien Tardes keinen Begriff der Alphabetisierung und der Medien, vom Werther bis zur Presse und zum frühen Kino, entwickelten. Auch die Statistik, die ja ebenfalls im 18. Jahrhundert aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt wurde und in weiterer Folge zur elementaren Regierungstechnik der Moderne avancierte, wird zwar häufig angewendet, aber ihrerseits nicht als mögliche Quelle von Nachahmungseffekten oder deren Wahrnehmung betrachtet. Ist Nachahmung nicht geradezu ein notwendiges Ergebnis medialer Synchronisationsprozesse? Medien verstärken zumindest jenen Nachahmungssog (wenn sie ihn schon nicht erzeugen), den auch Émile Durkheim, sieben Jahre nach Tarde, in seiner Untersuchung des Suizids kritisch kommentierte. Durkheim verwendete zwar den Begriff der »Selbstmordepidemie« und betonte, es sei »nicht zweifelhaft«, dass »die Idee des Selbstmords sich durch Ansteckung überträgt« (Durkheim 1983, 134); doch wollte er zeigen, dass die Wirkmechanismen sozialer Nachahmung von der Statistik nicht eindeutig bestätigt werden können, und dass »mit sehr seltenen Ausnahmen die Nachahmung nicht die erste Ursache für den Selbstmord ist« (ebd., 147). Wie Tarde erinnerte Durkheim an die kollektiven Suizide im Krieg, etwa nach der Eroberung einer Stadt; aber Durkheim warnte vor einer Überschätzung des Einflusses der Medien und der Presse:
Einige Autoren, die der Nachahmung Kräfte zuschreiben, die sie nicht hat, haben verlangt, daß Meldungen über Selbstmorde und Verbrechen nicht mehr in den Zeitungen erscheinen dürften. Es ist durchaus möglich, daß ein solches Verbot in dem einen oder anderen Fall verhindernd wirken könnte, aber es ist sehr zweifelhaft, ob die entsprechende soziale Rate dabei beeinflußt werden würde. Die Stärke der kollektiven Anfälligkeit würde sich nicht ändern, denn der moralische Zustand der Gruppen würde sich dadurch nicht ändern. Bei einer Gegenüberstellung der problematischen und sehr geringen Vorteile, die eine solche Maßnahme möglicherweise haben könnte, mit den schweren Nachteilen einer Unterdrückung jeder Publizität über Gerichtsangelegenheiten, sieht man ohne weiteres, warum der Gesetzgeber zögert, dem Rat solcher Fachleute zu folgen.
Und Durkheim zog die Schlussfolgerung: »Was wirklich der Entwicklung des Selbstmordes oder des Mordes Vorschub leistet, ist nicht, daß man davon spricht, sondern wie man davon spricht« (ebd. 148).
Endnoten
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Vorliegender Beitragstext stammt aus dem Kapitel »Werther-Effekte« in: Thomas Macho. 2017. Das Leben nehmen: Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp, und wurde für den Vortrag bzw. für diese Publikation geringfügig angepasst. Mit freundlicher Genehmigung von Suhrkamp. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin AG. Dieser Beitrag ist von der CC-BY-NC-ND Lizenz ausgenommen.↩︎
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Delumeau zitiert den Bericht nach: Michel Devèze. 1971. L’Espagne de Philippe IV (1621–1665), Bd. 2. Paris: S.E.D.E.S., 318.↩︎
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Flaschka zitiert: Johann August Ernesti. »Pro Memoria des Dekans der Theologischen Fakultät an die Kurfürstliche Bücherkommission und Zensurbehörde. Leipzig am 28. Januar 1775«.↩︎
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Willemsen zitiert die Abschiedsbriefe nach: Walter Morgenthaler (unter Mitarbeit von Marianne Steinberg). 1945. Letzte Aufzeichnungen von Selbstmördern (Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, Nr. 1), 16 und 60. Bern: Hans Huber. Walter Morgenthaler war ein Schweizer Psychiater und Verfasser der ersten Krankengeschichte seines begabtesten Patienten, des Malers Adolf Wölfli.↩︎
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