Über die Rolle der Musik bei Suizidhandlungen

Harm Willms


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Willms, Harm. 2025. »Über die Rolle der Musik bei Suizidhandlungen«. In Musik und Suizidalität. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Julia Heimerdinger, Hannah Riedl und Thomas Stegemann. Wien und Bielefeld: mdwPress.

Abstract

Abstract

In dem Artikel, der eine unveröffentlichte Untersuchung des Autors aus der Mitte der 1970er-Jahre noch einmal aufgreift, werden kurze Fallvignetten von fünf Patient:innen vorgestellt und besprochen, die einen Suizidversuch unter Einfluss von Musik unternommen hatten. Bei den Suizidversuchen handelte es sich überwiegend um Reaktionen auf Trennungserlebnisse, bei denen die Sehnsucht nach Wiedervereinigung das Hirnkonzept der Selbstauflösung aktiviert. Die Rolle der Musik dabei wird diskutiert vor dem Hintergrund der Entstehung des musikalischen Erlebens und Verhaltens aus den akustischen Äußerungen der angeborenen Basisemotionen Freude, Trauer, Wut und Angst (Ekman 1992).


Einleitung

Im Jahre 1774 erschien das Buch Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe und wurde ein ungeheurer Erfolg.1 Den Inhalt kann ich voraussetzen: Ein junger Mann erlebt eine unglückliche Liebe und erschießt sich. Nicht nur literarisch schlug das Buch ein. Eine große Anzahl von jungen Menschen zog sich eine gelbe Weste an, einige brachten sich angeblich um (»Werther-Effekt«2). Hanjo Kesting bemerkt in einem Essay über das Buch, dass Werthers Verliebtheit eine »Verkleidung seiner Todessehnsucht« ist (Kesting 2016). Hinzuzufügen ist, dass das Liebesverlangen wohl stets zur Selbstauflösung, also Selbstvernichtung, tendiert, so wie die Vereinigung von Ei und Samenzelle diese beiden individuellen Einheiten auflöst und etwas Neues entsteht. Laut Semir Zeki (2010), Neurobiologe an der Universität London, ist das ein angeborenes Hirnkonzept.

»Unbewusst — höchste Lust!« singt Isolde. Diese Tendenz des Liebesverlangens zur Selbstauflösung der Individuen hat musikalisch vielleicht niemand so darstellen können wie Richard Wagner. Vielleicht ist die Rezeption seiner Musik deshalb so gespalten. In der Regel kommt es natürlich nicht zur Selbstauflösung. Es gibt Schutzmechanismen, die dies verhindern und allenfalls ein ›Als-ob-Erlebnis‹ zulassen. Aber manchmal werden diese Schutzmechanismen aufgelöst bzw. entfallen, z. B. wenn eine ›Wiedervereinigung‹ im Leben nicht mehr möglich erscheint wie nach einer Trennung.

Im Jahre 1933 komponierte Rezső Seress der Legende nach an einem Sonntag, nachdem seine Verlobte ihn verlassen hatte, das unter dem Titel »Gloomy Sunday« 🔊 bekannte Lied »Szomorú vasárnap« (»Trauriger Sonntag«). Danach verzeichnete man eine Welle von Suiziden, die infolge des Anhörens des Lieds begangen worden seien. Man nannte es das »ungarische Selbstmordlied«.3 Dieses Phänomen bewegte mich Mitte der 1970er-Jahre, der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Musik Suizide auslösen kann.4 Ich war seinerzeit psychiatrischer Konsiliarius eines großen Allgemeinkrankenhauses in Berlin-Spandau5 und hatte auch Patient:innen nach Suizidversuchen zu begutachten. Diese habe ich befragt, ob Musik beim Suizidversuch eine Rolle gespielt habe.

Ich werde im Folgenden fünf unterschiedlich umfangreiche Fallvignetten referieren und anschließend die Rolle der Musik beim Suizidversuch diskutieren.

Fallvignetten

(1) P. K., 28 Jahre alt, Binnenschiffer von Beruf, hat seit einem Jahr seine erste Freundin, von der er sehr abhängig ist. Als er von ihr verlassen wird, ist er enttäuscht und niedergeschlagen. Er geht am Folgetag noch zur Arbeit. Am Abend gegen 17 Uhr löst er 40 Tabletten Dolestan in Wasser auf. Dann regelt er seine Angelegenheiten (Versicherung usw.). Gegen 19 Uhr zündet er Kerzen an, macht es ganz feierlich, legt Chopins Klaviersonate Nr. 2 mit dem »Trauermarsch« auf und hört sie in Ruhe an. Er hatte sich längst vorgenommen, sich zu suizidieren. Jetzt erlebt er noch das Gefühl der Großartigkeit in Harmonie mit dieser Musik. Nach dem Trauermarsch legt er Beethovens Egmont-Ouvertüre auf, legt sich ins Bett und schluckt die Tabletten.

(2) R. F., 24 Jahre alt, Konditor, ist homosexuell, was er seiner Familie gegenüber verheimlicht. Seit längerem hat er einen Freund, einen älteren Mann, mit dem er zusammengelebt hat und den er als eine Idealfigur verehrt. Als der Freund ihn verlässt, reagiert er depressiv und mit großer Enttäuschung. Am Abend trinkt er 1,5 l Sekt und hört sich Schnulzen an, z. B. Demis Roussos’ »Goodbye, My Love, Goodbye«. Dann nimmt er 20 Tabletten Halbmond ein.

(3) I. G., 32 Jahre alt, Hausfrau, ist verheiratet mit einem Mann, den sie verehrt. Er sei so, wie sie gerne sein würde: ruhig, fest und sicher. Auslöser für den Suizid sei »eine kleine Kabbelei« gewesen. Sie gebe sich selbst die Schuld. Nach dem Streit habe sie eine Platte aufgelegt, die seit Tagen dort gelegen hatte (nicht gezielt ausgewählt!). Es handelte sich um »Über den Wolken« von Reinhard Mey. Die Musik habe sie noch trauriger gemacht. Nach der Musik habe sie gedacht, jetzt sei es das Beste zu sterben. Der Ehemann war zu der Zeit mit dem Sohn außer Haus. Sie fährt auf ein Rieselfeld6 in der Nähe ihrer Wohnung und nimmt 40 Tabletten Dolestan.

(4) H. G., 33 Jahre alt, Maschinenschlosser, hat eine längere, auch psychiatrische Vorgeschichte. Im Lichte heutigen Wissens ist ein Krankheitsgeschehen feststellbar, das damals noch nicht zum etablierten Diagnostikrepertoire der Psychiatrie gehörte. Ich muss daher ein wenig ausholen.

Im Jahr 1971 war der Patient ein Dreivierteljahr in einem Arbeitslager in der DDR wegen angeblicher Beihilfe zur Vorbereitung von »Republikflucht«. Dort sei er zweimal zu 21 Tagen Dunkelhaft verurteilt gewesen; einmal wegen einer patzigen Antwort. Während der zweiten Dunkelhaft sei er von einem kleinen Leutnant, der ihn immer hämisch angegrinst habe und wohl immer habe quälen wollen, nachts aufgesucht worden. Der Leutnant habe ihn mit einer Stahlrute ins Gesicht geschlagen, worauf er ihn an der Brust gepackt und mit dem Kopf an die Wand geschlagen habe. Er wollte den Quäler eigentlich umbringen. Aus Versehen sei der Alarm losgegangen, darauf sei eine Mannschaft von Soldaten gekommen und habe ihn so zusammengeschlagen, dass er mehrere Tage bewusstlos gewesen sei.

Seitdem er — freigekauft — im Westen war, sei er depressiv und lebe zurückgezogen. Er träume viel von den Ereignissen im Arbeitslager. Wenn es irgendwo Streit gebe, ziehe er sich lieber zurück, weil er Angst habe, anderen etwas antun zu können. Musik beruhige ihn dann, auch Alkohol und Tabletten. Aus heutiger Sicht dürfen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen, die damals als psychiatrische Diagnose noch nicht gängig war.

Zum Suizidversuch, dem dritten in seiner Anamnese, kam es folgendermaßen: Eines Abends habe eine Bekannte angerufen, die ihn um Hilfe bat. Sie wollte sich von ihrem arabischen Freund trennen. In der Wohnung der Bekannten angekommen, habe er dort den Sohn der Bekannten angetroffen, der weinte und blutete, weil der Freund der Mutter ihn geschlagen habe. Das habe ihn gleich in eine eigenartige Stimmung gebracht. Er sei dann in das Lokal gegangen, wo die Bekannte mit ihrem Freund saß, um sich auszusprechen. Der Freund sei ein kleiner Mann gewesen mit einem unmenschlichen Lächeln. Dieser habe ihn »so komisch angegrinst« und den Eindruck gemacht, als wolle er ihn anspringen. Er habe große Angst bekommen und gezittert, was wir als Flashback — eine Traumaerinnerung — deuten können. Der Freund der Freundin erinnerte ihn an den »kleinen Leutnant« aus dem Lager. Dann sei es über ihn gekommen, er habe den Mann gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen — er habe auch geblutet. Ich erzähle dies so ausführlich, um den Ausnahmezustand der Retraumatisierung deutlich zu machen.

Zuhause habe er furchtbare Angst gehabt, einen Mord begangen zu haben. Als er in die Wohnung kam, habe er als erstes eine Schallplatte aufgelegt, die gerade auf dem Schallplattenspieler lag (Carmina Burana), und habe alle Lampen in der Wohnung angemacht. Die Musik habe ihn erst beruhigt, es sei ihm auf einmal ganz leicht geworden, er habe aufgeatmet. Dann habe er das Blut an seinen Händen gesehen (offensichtlich ein Trigger des Traumaerlebens) und sein Zustand und das Musikerleben hätten sich völlig verändert. Die Musik habe jetzt bedrängend und zunehmend lauter gewirkt: »als wenn sie mich verfolgt«. Dann habe er unter anderem 50 Tabletten Valium genommen.

Bei den bisherigen Beispielen handelte es sich um Suizidversuche. Ob man sie anders bewerten muss als vollendete Suizide, mag ich nicht beurteilen. Vielleicht muss man es berücksichtigen. Zuletzt möchte ich ein Beispiel eines vollendeten Suizids unter wahrscheinlicher Musikeinwirkung andeuten.

(5) Eine Patientin, 18 Jahre alt, hatte seit ca. 4 Jahren eine Freundin (16 Jahre alt), mit der sie gerade in eine gemeinsame Wohnung gezogen war. Zur Wohnungseinweihung haben sie ein wenig getrunken (zusammen eine halbe Flasche Rum) und Musik gehört, Blues und andere langsame Musik, »die uns erinnert hat an frühere Zeiten, als wir uns kennengelernt haben«. Nach einer kleinen Kabbelei sei die Freundin zur Toilette gegangen. Sie habe dann einen Schrei und einen Aufschlag unten auf der Straße gehört. Sie nimmt an, dass die Freundin aus dem Fenster gesprungen ist.

Exkurs

Um die Bedeutung der Musik bei diesen relativ unterschiedlich erscheinenden Beispielen beurteilen zu können, möchte ich einen kurzen Exkurs zum Thema »Musik und Gefühle« einschieben. Gefühle sind psychische Repräsentanzen, zusammengesetzt aus den Wahrnehmungen bestimmter Körperveränderungen und Vorstellungen, die das Verhalten des Menschen regulieren, seine zwischenmenschlichen Beziehungen, seine Selbstwahrnehmung, seine Reaktion auf die Umwelt, seine sozialen Interaktionen.

Paul Ekman (1992) beschreibt fünf Basisemotionen, deren mimische und akustische Äußerungen das erste Kommunikationssystem des Menschen darstellen — bevor er die semiotischen Ebenen Bild und Symbol (Sprache) entwickelt. Die Basisemotionen lauten: Freude, Trauer, Wut/Ärger, Angst und Ekel. Nicht eindeutig sind Neugier und Überraschung. Es handelt sich um Affekte, die unterschiedliche Namen oder Ausprägungen haben können. Ekman spricht von »family«, einer Gefühlsfamilie. Zur »family« Freude gehören z. B. auch Glück, Vergnügen, Fröhlichsein oder Freundlichkeit. Alle Affekte zeichnen sich durch ein eindeutiges neurobiologisches Korrelat und charakteristische Mimik sowie durch einen bezeichnenden akustischen Ausdruck aus. Sie sind von Geburt an vorhanden, müssen nicht erst gelernt werden und sind kulturunabhängig. Dies weist auf eine besondere entwicklungspsychologische und biologische Bedeutung hin. Affekte treten auch gemischt auf, wie z. B. Trauer mit Wut oder Wut mit Angst usw. Bekannte Affektzusammensetzungen sind z. B. Sehnsucht (sehr komplex: Trauer, Freude, Angst) oder ehrfürchtiges Staunen (Verwunderung und Angst). Später entwickelt das Kind weitere Affekte, die für das Zusammenleben von entscheidender Bedeutung sind, aber nicht vom ersten Tag zur Verfügung stehen; sehr prominente Beispiele sind Scham und Schuld.

Zur Frage, welche Gefühle mit Musik zu tun haben, habe ich mehrere Befragungen bei Musiker:innen und Teilnehmer:innen von Improvisationsgruppen durchgeführt (Willms 2004). Das Ergebnis ist — wenn auch zunächst überraschend — völlig plausibel. Nichts mit Musik zu tun haben Gefühle, die nicht von Geburt an vorhanden sind, wie Scham oder Schuld. Es bleiben die Basisemotionen. Aber auch diese sind nicht alle musikalisch ausdrückbar. Ekel zum Beispiel, ein Gefühl, das allgemein Abwehr signalisiert, ist kein musikalisch ausdrückbares Gefühl. Obgleich es durchaus Versuche gegeben hat, z. B. von Johann Sebastian Bach in der Kantate Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust (BWV 170). Die letzte Arie beginnt mit dem Text »Mir ekelt mehr zu leben« und Bach komponierte das »Mir ekelt« mit einem Tritonussprung (d—gis). Aber man empfindet keinen Ekel dabei. Dies ist wohl eher auf der symbolischen Ebene zu verstehen. Die mit Musik erzeugbaren Gefühle beschränken sich also auf die vier verbleibenden Basisemotionen Freude, Trauer, Wut, Angst und ihre Mischungen.

Dies ist ein bedeutender Befund. Die genannten Emotionen sind hoch ansteckend und erzeugen mit Hilfe ihres Ausdrucks Nähe und Distanz, Bindung und Trennung, sowie die Bewusstwerdung des eigenständigen Selbst in einer Beziehung mit einem Gegenüber. Vor allem beeinflussen bzw. manipulieren sie das Verhalten des Gegenübers. Für den Säugling ersetzen diese Gefühlsäußerungen gewissermaßen die Nabelschnur. Als emotionale Botschaft (nicht Sprache) heißt Freude (freundlich, fröhlich) so viel wie »Ich will nahe sein«; auch Trauer sucht die Nähe des verlorengegangenen Objekts. Das extreme Ziel wäre die Verschmelzung — also die Selbstauflösung. Wut und Angst bedeuten Trennung vom Gegenüber. Freude und Trauer tendieren dagegen zur Verschmelzung und zur Selbstauflösung. Eine solche Betrachtung von Suizid ist möglicherweise wichtig.

Gut untersucht sind die Affekte anhand der Mimik. Aber es gibt ebenso einen akustischen Ausdruck: Das Jauchzen, die Trauerklage, das Wutgeschrei und das Angstgewimmer haben Aufforderungscharakter an das Gegenüber und das eigene Verhalten. Für uns ist dieser Befund besonders wichtig, denn wir können davon ausgehen, dass aus diesen Äußerungen die Musik entstanden ist. Sie sind das biologische Grundmaterial.

Interessant wäre, in diesem Zusammenhang darüber nachzudenken, wie die Musik Bestandteil der menschlichen Kultur wurde. Meine Lieblingshypothese ist dabei, dass die Menschen, als sie begannen, ihre Toten zu bestatten, laut Klage erhoben. In manchen Kulturen gibt es heute noch »Klageweiber«, in anderen haben sich aus der Totenklage die Klagegesänge entwickelt: ein Abschied mit dem Gefühl der Verbundenheit. Andere bevorzugen die Hypothese, dass Schlaflieder die erste Musik waren. Es ist jedenfalls vorstellbar, dass die erste Musik etwas zu tun hatte mit Verschmelzung, mit dem Zusammensein mit einem Gegenüber, mit dem Wiedererlangen eines Gegenübers. Dies ist selbstverständlich Spekulation. Aber wir können davon ausgehen, dass sich die Musik aus den akustischen Äußerungen dieser Gefühle entwickelt hat. Und der Ausdruck von Gefühlen erzeugt auch Gefühle.

Mit Musik tauchen wir immer wieder in Prozesse von Bindung und Trennung ein und damit in die großen Themen »Liebe und Tod«: der Wunsch nach Nähe bis zur Verschmelzung mit dem Ziel der Liebeseinheit und Selbstauflösung und der Tod als die endgültige Trennung und auch der Wunsch, diese rückgängig zu machen. Dabei ist bemerkenswert, dass die vier für das musikalische Erleben bestimmenden Basisemotionen — Freude, Trauer, Wut und Angst — die Gefühle der kindlichen Entwicklungsphase sind, die Margaret Mahler die »symbiotische« nannte (Mahler et al. 1980). Symbiotisch kann aber das Nebeneinander von Abgrenzung und Verschmelzung bedeuten, wie wir z. B. bei Jugendlichen einen einheitlichen Musikgeschmack in einer Gruppe beobachten können, mit dem die Gruppe sich gleichzeitig von anderen abgrenzt.

Diskussion

Wie helfen uns diese Überlegungen beim Versuch, die Rolle der Musik beim Suizidversuch zu verstehen? Zunächst ist festzuhalten, dass in fast allen vorgestellten Fällen Trennung und Verlust (bzw. die Angst davor) Anlass für den Suizidversuch waren — mit Trauer und Wiedervereinigungswunsch. Die Musik, die eine Rolle bei der Ausführung des Suizidversuchs spielte, war in allen Fällen Musik, wie sie millionenfach gehört wird, ohne dass es üblicherweise zum Suizid(versuch) kommt. Sie wurde teilweise gezielt und teilweise eher zufällig gewählt. Es handelt sich um Musik mit einem starken Gefühlsanteil von Trauer, Sehnsucht und Melancholie, in einigen Fällen stark überlagert von dem, was Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud (1927) das »ozeanische Gefühl« genannt hat (z. B. bei Reinhard Meys Lied »Über den Wolken«) — wohl eine Intensivierung der mit Nähe und Verschmelzung korrelierenden Affekte.

Im ersten Fallbeispiel inszeniert der Patient seinen Suizid wie großes Theater. Sein Todeswunsch ist eindeutig. Die Musik (Chopin und Beethoven) ist nicht Auslöser, sondern gehört zum Ritual und erleichtert ihm den Suizid, wie ein Schlaflied das Einschlafen erleichtert. Im zweiten Fallbeispiel ist der Todeswunsch auch primär im Sinne einer Wiedervereinigung mit dem Geliebten, an deren Ende eine Selbstauflösung stehen würde. Diese Sehnsucht wird mit Hilfe von Musik so gesteigert, dass schließlich die ›Sicherheitsmechanismen‹ versagen und der Patient die Tabletten nimmt. Beim dritten Fallbeispiel wird der Suizidgedanke tatsächlich erst nach dem Hören der Musik bewusst. Aber ich gehe davon aus, dass er vorher schon vorhanden war und die Musik den unbewusst gefassten Todeswunsch nur zu Tage gefördert, bewusst gemacht hat. Auffällig ist der starke Gefühlsanteil »ozeanisches Gefühl«, Verschmelzung in der Musik, und der Ort, der gewählt wird, um die Tabletten einzunehmen — die Rieselfelder.

Das vierte — meiner Meinung nach interessanteste — Fallbeispiel weicht etwas ab. Der Patient macht sich Vorwürfe, jemanden umgebracht zu haben, nachdem er offensichtlich einen Flashback erlebt hat, eine Wiedererinnerung an das pathogene Erlebnis während der Haftzeit vier Jahre zuvor. Die Musik beruhigt ihn zunächst. Dann passiert etwas Auffälliges. Er sieht das Blut an seinen Händen und sein Zustand verändert sich plötzlich. Im Nachhinein muss man einen durch eine Teilerinnerung als Trigger ausgelösten dissoziativen Zustand diagnostizieren. Schock nennt man das umgangssprachlich. In diesem Moment ändert sich die Wahrnehmung der Carmina Burana, von denen der Patient im Anamnesegespräch sagte, sie seien Musik, die ihm an sich sonst ein inneres Gleichgewicht vermittele, Harmonie und Stimmungsaufhellung und das Gefühl der Sicherheit. Sie wirken jetzt bedrängend.

Ich habe den Patienten sein Erleben der Musik aus der Erinnerung in einem mit Hans-Peter Reinecke entwickelten Polaritätenprofil7 (siehe Abb. 1) beurteilen lassen — vor und nach dem Schock (siehe Abb. 2 und 3). Was vom Patienten H. G. (4. Fallbeispiel) normalerweise »behaglich, eher8 glatt, sehr gefühlvoll, voll und eher friedlich« eingeordnet wurde, wird im dissoziativen Zustand »drängend, rau, eher kühl, sehr leer und aggressiv« — also eher feindlich als beruhigend. Der Zustand, auch im Zusammenhang mit der Musik, wird so unerträglich, dass schließlich in suizidaler Absicht die Tabletten genommen werden.

Eine wichtige Erkenntnis aus dieser Beobachtung scheint zu sein, dass der Zustand des Empfängers, des Hörers darüber mitentscheidet, welche Anteile des Gefühlsgemischs der Musik das Erleben bestimmen. Musik, die normalerweise der Entspannung dient, wird anders erlebt — hier im Zustand der Dissoziation nämlich überwältigend. Wir können das vielleicht am besten verstehen, wenn wir bedenken, was normalerweise beim dissoziativen Zustand hilft, nämlich die Aufmerksamkeitsfokussierung. Ein Musikstück wirkt in dieser Situation überfordernd. In der Praxis habe ich Patient:innen, wenn sie in einen dissoziativen Zustand gerieten, z. B. aufgefordert, alle Gegenstände im Raum aufzuzählen, die grün sind oder ähnliches. Musikalisch entspricht der Aufmerksamkeitsfixierung vielleicht das »Om« der tibetanischen Mönche. Ähnliches kennen wir vom Musikerleben in der Depression. Musik ist offenbar kein Medikament mit konstanter Wirkung.

Dokumentationsvorlage mit 17 verschiedenen, das Erleben abstufend beschreibenden Adjektivreihen (z. B. von sehr fließend bis sehr stockend).
Abbildung 1: Polaritätenprofil zur Beurteilung des subjektiven Musikerlebens, Vorlage. 1975. Quelle: Privatbesitz Harm Willms.

Ausgefüllte Dokumentationsvorlage mit 17 verschiedenen, das Erleben abstufend beschreibenden Adjektivreihen (z. B. von sehr fließend bis sehr stockend).
Abbildung 2: Polaritätenprofil zur Beurteilung des subjektiven Musikerlebens, 4. Fallbeispiel, Carmina Burana, Musikerleben im Alltag (»So wie Musik immer wirkte«). 1975. Quelle: Privatbesitz Harm Willms.

Ausgefüllte Dokumentationsvorlage mit 17 verschiedenen, das Erleben abstufend beschreibenden Adjektivreihen (z. B. von sehr fließend bis sehr stockend).
Abbildung 3: Polaritätenprofil zur Beurteilung des subjektiven Musikerlebens, 4. Fallbeispiel, Carmina Burana, Musikerleben vor der suizidalen Handlung (»Wie Musik kurz vor Suicid wirkte«). 1975. Quelle: Privatbesitz Harm Willms.

Im fünften, etwas unklar gebliebenen Fallbeispiel des vollendeten Suizids mag die Musik Erinnerungen an »bessere Zeiten« geweckt und so den Konflikt verstärkt haben, aber Sicheres können wir dazu nicht sagen. In einer zusammenfassenden Übersicht der ersten drei Beispiele kann man festhalten, dass typischerweise der Suizidimpuls am Anfang steht. Die Musik, die ihn im Sinne einer Verschmelzung mit dem verlorenen Objekt unterstützt, wird teils gezielt, teils angepasst an die jeweilige Stimmung ausgesucht. Es ist die Musik, die die Menschen gewohnt sind zu hören, um zu genießen oder zu entspannen — von romantischer Konzertmusik bis zur Schnulze —, je nach musikalischer Sozialisation.

Eine alles erklärende Theorie ist dies nicht, aber auf eines verweisen doch alle Beispiele: Wie entscheidend für die Wahrnehmung der Musik der Zustand und die Bereitschaft der Empfänger:innen sind, und, nicht zuletzt, dass man nicht von einer konstanten Wirkung der Musik, auch nicht beim Suizid, ausgehen sollte.

Endnoten


  1. Harm Willms ist am 7. Februar 2023 verstorben. Der vorliegende Beitrag wurde anhand seines den Herausgeber:innen von ihm zur Verfügung gestellten Manuskripts und des aufgezeichneten Vortrags fertiggestellt. Die Fußnoten wurden im Zuge der Redaktion eingefügt. Die Herausgeber:innen danken Frau Prof. Dr. Weertje Willms herzlich für ihre Unterstützung bei der Einrichtung des Beitrags.↩︎

  2. Der Begriff wurde 1974 von dem US-amerikanischen Soziologen David P. Phillips eingeführt. Zum »Werther-Effekt« siehe auch die Beiträge von Thomas Macho, Benedikt Till und Thomas Niederkrotenthaler, Paul Plener sowie Markus Storf et al. im vorliegenden Band.↩︎

  3. Zu »Szomorú vasárnap« und zur Legendenbildung um dieses Lied siehe den Beitrag von Julia Heimerdinger im vorliegenden Band.↩︎

  4. Auf das Lied und dessen besondere Geschichte war Harm Willms laut eigenem Bericht von seiner Kollegin Karin Reissenberger, heute Schumacher, aufmerksam gemacht worden.↩︎

  5. Es handelt sich um die 1961 eröffnete – heute in dieser Form nicht mehr existierende – Landesnervenklinik in Berlin-Spandau.↩︎

  6. Rieselfelder waren am Stadtrand liegende Landflächen zur Abwasserreinigung.↩︎

  7. Ein Polaritätenprofil (auch: »Polaritätsprofil« oder »semantisches Differential«) »besteht aus mehreren, in der Regel adjektivischen Gegensatzpaaren, die durch eine mehrstufige Skala miteinander verbunden sind. Die Versuchsperson entscheidet für jedes Begriffspaar, inwieweit ihr Eindruck von einem Stimulus auf der Skala wiedergegeben werden kann. Die Auswertung erfolgt mittels korrelationsstatistischer und faktorenanalytischer Verfahrensweisen. Diese von Charles E. Osgood und Mitarbeitern (1957) entwickelte Methode ist in Deutschland durch Peter R. Hofstätter (1955) bekannt geworden und von Hans-Peter Reinecke (u. a. 1967 zur Erforschung musikbezogener Stereotypen) in die Musikwissenschaft eingeführt worden.« Helmut Rösing. (1997) 2016. »Musikpsychologie«. In MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken. New York, Kassel, Stuttgart: Bärenreiter. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/499676. Zugriff am 20. September 2023.
    Harm Willms arbeitete seit 1964 mit dem Musikwissenschaftler Hans-Peter Reinecke (1926–2003) zusammen, u. a. gründeten sie 1969 den Musiktherapeutischen Arbeitskreis Berlin und gaben 1973–1974 gemeinsam die Zeitschrift Musiktherapie: Zeitschrift für die musiktherapeutische Forschung und Praxis heraus (Dülberg 2023, 148–52). Auch für die hier vorgestellte Untersuchung kooperierte Willms am Staatlichen Institut für Musikforschung (SIMPK Berlin) mit Reinecke, dessen Direktor dieser seit 1967 war. Siehe auch: Dorothea Dülberg. 2023. »›Dem Zeitgeist entsprach die freie Entfaltung‹. Nachruf auf Prof. Dr. med. Harm Willms (1937–2023).« Musiktherapeutische Umschau 44, Nr. 2: 148–54.↩︎

  8. Im Polaritätenprofil: »wenig«.↩︎

Literaturverzeichnis

Ekman, Paul. 1992. »An Argument for Basic Emotions«. Cognition & Emotion 6, Nr. 3—4: 169—200.

Freud, Sigmund. (1930) 1952. »Das Unbehagen in der Kultur«. In Gesammelte Werke, Bd. 14, 419—506. London: Imago.

Kesting, Hanjo. 2016. »Goethe: ›Die Leiden des jungen Werther‹«. Zugriff am 11. August 2023. https://www.ndr.de/kultur/buch/Goethe-Die-Leiden-des-jungen-Werther,weltliteratur150.html.

Mahler, Margaret, Fred Pine und Anni Bergmann. 1980. Die psychische Geburt des Menschen: Symbiose und Individuation. Frankfurt am Main: Fischer.

Phillips, David P. »The Influence of Suggestion on Suicide: Substantive and Theoretical Implications of the Werther Effect«. American Sociological Review 39, Nr. 3: 340—54.

Picht, Johannes. 2015. »Sprache, Musik und das Unbewusste«. Psyche 69, Nr. 12: 1115—38.

Rösing, Helmut. (1997) 2016. »Musikpsychologie«. In MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken. New York, Kassel, Stuttgart: Bärenreiter. Zugriff am 20. September 2023. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/499676.

Willms, Harm. 2004. »Ist Musik die Sprache der Gefühle?«. Musik‑, Tanz- und Kunsttherapie: Zeitschrift für künstlerische Therapien im Bildungs‑, Sozial- und Gesundheitswesen 15, Nr. 3: 113—19.

Zeki, Semir. 2010. Glanz und Elend des Gehirns: Neurobiologie im Spiegel von Kunst, Musik und Literatur. München: Reinhardt.