7.2 Das kulturelle Feld



Von den als labil und unstrukturiert gedachten Szenen,23 die über keine verbindlichen Regeln oder Handlungsnormen verfügen, unterscheidet sich Pierre Bourdieus Konzept des kulturellen Feldes in mehrfacher Hinsicht. Gemäß den Konnotationen des Feldbegriffs, der aus der Physik in die Sozialwissenschaften übernommen wurde, schwingt bei seiner Verwendung der Gedanke an Kräfteverhältnisse mit, die auf einen örtlich bestimmbaren Bereich wirken und auf die darin befindlichen Akteur*innen, Objekte und Ereignisse Einfluss nehmen. Sie selbst bleiben dabei jedoch unsichtbar und erschließen sich nur aufgrund der von ihnen generierten Effekte.24 Bourdieu beschreibt das kulturelle Feld als Konfiguration von Stellungen25 (›positions‹) und Stellungnahmen (›prises-de-position‹), wobei mit Ersteren die Standorte der Akteur*innen gemeint sind, während in Letzteren (bei denen es sich um Artefakte bzw. ›Werke‹, aber auch um Texte oder Diskursbeiträge handeln kann) deren kulturelles Handeln zum Ausdruck kommt. Stellungen und Stellungnahmen sind für Bourdieu nur gemeinsam zu untersuchen – eine Überzeugung, die werkimmanenten Ansätzen eine Absage erteilt.26

Die Positionen der Akteur*innen sind durch deren jeweiliges Kapital bestimmt, dessen Verteilung die Struktur des Feldes determiniert. Der Kapitalbegriff ist bei Bourdieu – anders als bei Marx – nicht auf ökonomische Mittel im engeren Sinn beschränkt, sondern meint schlicht diejenigen Merkmale und Fähigkeiten, die innerhalb des jeweiligen Feldes Erfolg verheißen.27 Felder sind Bourdieu zufolge gemäß der Logik des Kampfes strukturiert, in welchem die Akteur*innen nach der bestmöglichen Position streben.28 Beim Feldbegriff handelt es sich also um eine Interpretation der kulturellen Produktion in Begriffen der Auseinandersetzung zwischen Individuen und Gruppen, die um Anerkennung und die legitime Definition des Feldes selbst rivalisieren.29

Wiewohl sich Bourdieu vehement gegen eine Auffassung des kulturellen Feldes als autonomer Entität verwehrt, besitzt jedes Feld – so auch das der Kultur bzw. der Kunst – eine Teilautonomie und funktioniert nach seiner je spezifischen Logik.30 Zur Beschreibung sozialer Felder bedient sich Bourdieu der Analogie des Spieles, in dem die Akteur*innen, soll das Spiel funktionieren, die Regeln einhalten und vom Wert des jeweiligen Einsatzes überzeugt sein müssen. Diese Überzeugung – den Glauben an die feldeigenen Regeln – bezeichnet Bourdieu als ›Illusio‹.31

Neben der Beschreibung kultureller Vergemeinschaftungen in Begriffen von Feld und Szene haben sich in der Kunstsoziologie des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts interaktionistische Ansätze, die sich auf Howard S. Beckers Theorie der Kunstwelten32 (›art worlds‹) beziehen, als einflussreich erwiesen. Becker begreift Kunst als kollaborative Handlung, wobei im Zentrum nicht das Werk oder der*die Künstler*in als einsame*r Schaffende*r steht, sondern das arbeitsteilig organisierte Ereignis (›event‹), an dessen Zustandekommen eine Vielzahl von Personen – Produzierende wie Rezipierende – gleichermaßen beteiligt sind. Im Bereich der Musiksoziologie wurde dieser Ansatz etwa von Tia DeNora weiterentwickelt.33 Weiters sind netzwerktheoretische und systemtheoretische Zugänge zu nennen, wobei Letztere mit Bezug zur E-Musik zwar in musikphilosophischen Arbeiten, aber kaum im Bereich der Musiksoziologie zur Anwendung gelangen.34 Im Gegensatz zu interaktionistischen oder ethnografischen Zugängen, die sich auf die möglichst ›dichte Beschreibung‹35 von Einzel­phänomenen beschränken und auf eine Darstellung des sozialen Raumes in seiner Gesamtheit verzichten, ist das soziale Feld bei Bourdieu von objektiven Relationen determiniert.36 Anders als etwa in Beckers ›Kunstwelten‹-Theorie liegt der Fokus also nicht ausschließlich auf den Akteur*innen und deren Interaktionen. Hinter diesen Relationen sieht Bourdieu ein zugrunde liegendes Prinzip am Werk, das durch die Verteilung von Macht und Kapital bestimmt ist.37 Bourdieu bedient sich somit einer von Hakan Gürses »das Unsichtbare«38 genannten diskursiven Figur, die suggeriert, dass die sichtbaren Phänomene durch eine zugrunde liegende, der Wahrnehmung nicht unmittelbar zugängliche Tiefenstruktur determiniert werden. Dennoch verfügt auch Bourdieu über keinen geschlossenen Gesellschaftsbegriff. Zwischen akteursbasierten Ansätzen und makrosoziologischen Systementwürfen nimmt Bourdieus Konzept der sozialen Felder eine Mittelposition ein.39

Endnoten


  1. Hitzler, Bucher, Niederbacher, Leben in Szenen, S. 23-24.↩︎

  2. Boike Rehbein und Gernot Saalmann, »Feld (champs)«, in: Bourdieu-Handbuch, hg. von Gerhard Fröhlich u.a., Stuttgart 2009, S. 99-103.↩︎

  3. Zur deutschen Übersetzung der Begriffe vgl. Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 62.↩︎

  4. Pierre Bourdieu, »The Field of Cultural Production, or: The Economic World Revised«, in: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, hg. von Randal Johnson, Cambridge 1993, S. 29-73, hier S. 30. Der Aufsatz erschien im Original auf Englisch und wird daher auch auf Englisch zitiert.↩︎

  5. Boike Rehbein und Gernot Saalmann, »Kapital (capital)«, in: Bourdieu-Handbuch, hg. von Gerhard Fröhlich u.a., Stuttgart 2009, S. 134-140, hier S. 134-135.↩︎

  6. Rehbein, Saalmann, »Feld (champs)«, S. 101; Vgl. Bourdieu, »The Field of Cultural Production, or: The Economic World Revised«, S. 30.↩︎

  7. Ebd., S. 33, 42.↩︎

  8. Ebd., S. 33; vgl. Rehbein, Saalmann, »Feld (champs)«, S. 100.↩︎

  9. Ebd., S. 100.↩︎

  10. Howard S. Becker, Kunstwelten, Hamburg 2017.↩︎

  11. DeNora, Music in Everyday Life, S. 39.↩︎

  12. Vgl. etwa Harry Lehmann, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016.↩︎

  13. Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 6.↩︎

  14. Bourdieu, »The Field of Cultural Production, or: The Economic World Revised«, S. 29; vgl. Pierre Bourdieu, Loïc J. D. Wacquant und Hella Beister, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 2006, S. 127.↩︎

  15. Bourdieu, »The Field of Cultural Production, or: The Economic World Revised«, S. 34-35.↩︎

  16. Hakan Gürses, Funktionen der Kultur. Zur Kritik des Kulturbegriffs, https://www.hakanguerses.at/online-texte/ (Zugriff am 24. Oktober 2020), S. 15-17.↩︎

  17. Rehbein, Saalmann, »Feld (champs)«, S. 100.↩︎