5 Kritisches Komponieren als bürgerliche Kultur



Teil II: Ideologie

5 Kritisches Komponieren als bürgerliche Kultur

Und das »sagt« uns eigentlich die Musik: Es gibt einen Geist.1

Die Distanzierung des Großbürgertums von allen unter ihm stehenden Gesellschaftsklassen hatte nicht nur zu seiner Abwendung vom Volkstümlichen in der Kunst geführt, sondern auch […] seine Umgangsformen und seinen gesamten Lebensstil entscheidend beeinflußt.2

Ziel des vorangegangenen Kapitels war es, die Kategorien herauszuarbeiten, die für das diskursive Konstrukt des ›Kritischen Komponierens‹ – wie es sich in den Schriften Helmut Lachenmanns darstellt – eine wesentliche Rolle spielen. Begriffe wie ›musikalisches Material‹, ›Aura‹ oder Ästhetischer Apparat prägen die Vorstellung davon, wie ›neue Musik‹ aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit zur Trägerin gesellschaftlicher Wahrheit wird, die die Rezipient*innen durch ebendiese Beschaffenheit zu geschärfter Wahrnehmung und kritischem Denken anzuregen vermag. Methodisch handelte es sich dabei um ein schlichtes Nachzeichnen von Argumentationen, um die für den Diskurs charakteristischen, explizit verhandelten Konzepte verständlich zu machen.

Der Ansatz der Diskursanalyse, zumal der Critical Discourse Analysis, vermag durch ein besonderes Augenmerk auf die Sprache indessen auch jene Aspekte des Gesagten oder Geschriebenen zu beleuchten, die sich der Intention der Autor*innen entziehen. Der Critical Discourse Analysis geht es dabei insbesondere um ideologische Momente, also um Konstruktionen der Realität, die der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen dienen. Ein Ausdruck, der begriffsgeschichtlich eng mit dem Begriff der Ideologie verknüpft ist, ist das Adjektiv ›bürgerlich‹ – aus marxistischen Zusammenhängen etwa in der Zusammensetzung ›bürgerliche Ideologie‹ vertraut. Außerhalb marxistischer Theoriebildung und eines häufig polemischen Alltagsgebrauchs beschränkt sich der Begriff des Bürgertums bzw. des Bürgerlichen indessen auf ein historisches Phänomen, als dessen Blütezeit das 19. Jahrhundert gilt.3 Der Begriff umfasste damals sowohl das alte Stadtbürgertum als auch neue Gesellschaftsschichten, die durch Besitz (Wirtschaftsbürgertum) oder bestimmte Formen von Wissen (Bildungsbürgertum) gekennzeichnet waren und aus diesen Merkmalen einen gesellschaftlichen Führungsanspruch ableiteten, wobei insbe­sondere in Deutschland der Bildungsanspruch für das Bürgertum in seiner Gesamtheit kennzeichnend war.4 In Ermangelung einer eindeutig bestimmbaren sozial­strukturellen Identität im Sinne einer Klasse oder eines Geburtsstands bietet sich für Jürgen Kocka »die Definition des Bürgertums (19. Jahrhundert) durch gemeinsame und gleichzeitig spezifische Deutungsmuster und Wertungen, Mentalität und ›Kultur‹ an.«5 Thomas Nipperdey geht noch weiter, wenn er dem historischen Bürgertum nicht nur eine Kultur zuordnet, sondern es in seiner Gesamtheit als Kultur begreift – als »ein Insgesamt von Tugenden und Verhaltensweisen, von Normen und Formen, das auch weit über die ›höhere‹ Kultur, über die sogenannte Bildung und ihre Inhalte in die elementaren Bereiche des Lebens greift.«6

Diese verbindenden »Einstellungen und Lebensweisen«7, die den Gegenstand eines öffentlichen Diskurses bildeten, umfassten die Affirmation des Individuums und individueller Leistung ebenso wie eine liberale und reformorientierte Gesinnung, aufklärerische Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Vernunft sowie eine (zumindest demonstrativ vorhandene) Affinität zu den Künsten.8 Letztere stiegen dabei in den Rang einer Ersatzreligion auf, die dem Individuum jene geistige und moralische Orientierung versprach, welche die Kirche nicht mehr bereitstellen konnte.9

Es ist kennzeichnend für das Phänomen der Bürgerlichkeit, dass die vom Bürgertum vertretenen Werte über die Kreise von »Besitz und Bildung«10 hinaus zunehmend Verbindlichkeit erlangten. Die Schlüsselposition, die das Bürgertum im Bildungssystem, in der Presse, der Kirche und anderen Institutionen innehatte, führte zu einer kulturellen Hegemonie, die das bürgerliche Modell auch für andere Gesellschaftsschichten attraktiv erscheinen ließ.11 Gleichzeitig wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte vermehrt Stimmen laut, welche die Kluft zwischen egalitärem Anspruch und einer Wirklichkeit anprangerten, in der sich der Gegensatz zwischen einer wohlhabenden Bourgeoisie und einer ausgebeuteten Arbeiter*innenklasse zusehends verschärfte.12 Während dem Bürgertum also einerseits von Vertreter*innen der ständischen Ordnung seine progressive Gesinnung zum Vorwurf gemacht wurde, mehrte sich Kritik aus dem linken Spektrum, die ihm eine »anti-egalitäre, exklusive und vor allem anti-proletarische Dimension«13 attestierte. Eine weitere Schattenseite der aufgeklärten Grundhaltung, die sich in der Abwertung außereuropäischer Kulturen manifestierte, haben erst die Postcolonial Studies in ein breiteres Bewusstsein gerückt.14

Durch die gesellschaftlichen Umwälzungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde die durch geteilte Werte zusammengehaltene Formation des Bürgertums zunehmend brüchig.15 Für Phänomene der Zeitgeschichte oder gar der Gegenwart findet der Begriff in einem geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontext daher kaum noch Verwendung. In Bezug auf die umgangssprachlich als ›bürgerlich‹ bzw. mit dem ebenso umstrittenen Begriff der ›Hochkultur‹ bezeichneten Aufführungs- und Rezeptionspraktiken von Kunstmusik wurde von soziologischer Seite eingewendet, dass erstens die traditionell als ›bürgerlich‹ bezeichneten – nämlich durch überdurchschnittlich hohes Einkommen und ebensolche Bildung geprägten – Gesellschaftsschichten keine einheitlichen Praxen kultureller Teilhabe mehr ausbilden würden, dass die Kunstmusik innerhalb dieser Schichten folglich keine kanonische Bedeutung im Sinne eines ›legitimen‹ Bildungsguts mehr genieße, und dass sich zweitens die Rezipient*innen von Kunstmusik nicht exklusiv aus diesen Schichten rekrutieren würden, wohingegen andere Variablen wie etwas das Alter von entscheidender Bedeutung seien.16

Dennoch möchte ich mich zur Beschreibung bestimmter Aspekte des untersuchten Diskurses des Begriffs der ›bürgerlichen Kultur‹ bedienen. Ich beziehe mich dabei auf Erscheinungen insbesondere im Kontext des traditionellen Konzertwesens, die als Erbe und Weiterführung der oben geschilderten Tradition zu verstehen sind. Ein Oszillieren zwischen Fortschrittsgeist und Konservatismus ist auch im Diskurs des Kritischen Komponierens zu bemerken. Die einstige Erlösungsfunktion der Künste, zumal der Musik, findet im Hochhalten eines emphatischen Kunstanspruchs ihre Resonanz, wie auch der typisch bürgerliche Bildungsanspruch in der Affirmation eines Kanons musikalischer Werke weiterlebt. Der Bezug zur Aufklärung manifestiert sich in Leitbegriffen wie ›Geist‹, ›Vernunft‹ oder ›Humanität‹, während Gleichheitsstreben und Abgrenzung gegenüber den sogenannten Massen Hand in Hand gehen. Nicht zuletzt findet sich auch in dem beobachteten Diskurs der Anspruch auf kulturelle Meinungsführerschaft, obgleich dieser in der gesellschaftlichen Realität kaum mehr eine Entsprechung findet. Das Absolutsetzen einer bestimmten Kultur sorgt für Reibungen, wenn es zum Kontakt mit anderen Kulturen kommt – Reibungen, die in schablonenhaften Schilderungen außereuropäischer künstlerischer Praktiken ihren Niederschlag finden.

Über diese Parallelen hinaus verortet sich Lachenmann in seinen Texten wiederholt selbst in einer bürgerlichen Tradition, wenn er etwa schreibt: »Ich war damals wie heute der Auffassung, daß Kunst zur Bewußtseinsbildung nicht anders beitragen kann, als indem sie als Kunst sich auf die bürgerliche (sprich: revolutionäre) Tradition beruft«17. Gleichzeitig firmiert – in Übereinstimmung mit der Kritik der Neuen Linken – das ›Bürgerliche‹ bei Lachenmann aber auch als Chiffre für überholte und verkrustete Strukturen, die es zu brechen gilt – so etwa in »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«. Diese Kritik tritt in den Skizzen zum Vortragstext besonders deutlich zutage:

Der bürgerliche Schönheitsbegriff – er ist derjenige, der uns imallgemeinen [sic!] zuerst über den Weg läuft – ist ein verwittertes, korrumpiertes Zerrbild eines Schönheits­begriffs, den es freizulegen und für unsere Zeit neu theorretisch [sic!] zu formulieren gilt.18

Die Ambivalenz zwischen diesen beiden Konnotationen von Bürgerlichkeit – als zu brechende Konvention oder als neu zu belebende Tradition – zieht sich als roter Faden durch Lachenmanns Texte. In der vorliegenden Arbeit wird Bürgerlichkeit als analytische Kategorie herangezogen, um nicht nur historische, sondern mit Einschränkungen auch gegenwärtige Phänomene zu erfassen, sofern diese als Weiterführung der bürgerlichen Tradition zu begreifen sind.

Endnoten


  1. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Hannah Birkenkötter, in: Birkenkötter, Das Postmoderne in der Musik Helmut Lachenmanns am Beispiel der »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, S. 67.↩︎

  2. Leo Balet und Eberhard Rebling, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Herausgegeben und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt a.M. 1972, S. 28.↩︎

  3. Jürgen Kocka, »Einleitung«, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1987, S. 7-20, hier S. 7, 9.↩︎

  4. Jürgen Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1987, S. 21-63, hier S. 23-27, 35.↩︎

  5. Kocka, »Einleitung«, S. 18; Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, S. 43.↩︎

  6. Thomas Nipperdey, »Kommentar: ›Bürgerlich‹ als Kultur«, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1987, S. 143-148, hier S. 143-144.↩︎

  7. Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, S. 44.↩︎

  8. Ebd., S. 25, 43; Nipperdey, »Kommentar: ›Bürgerlich‹ als Kultur«, S. 147.↩︎

  9. Franz Becker, »Bürgertum und Kultur im 19. Jahrhundert. Die Inszenierung von Bürgerlichkeit«, in: Zwischen Tempel und Verein. Musik und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Zürcher Festspiel-Symposium 2012, hg. von Laurenz Lütteken (= Zürcher Festspiel-Symposien, Bd. 4), Kassel 2013, S. 14-34, hier S. 14-15.↩︎

  10. Thomas Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 186f.↩︎

  11. Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, S. 44-45; Nipperdey, »Kommentar: ›Bürgerlich‹ als Kultur«, S. 145-146.↩︎

  12. Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, S. 30-31.↩︎

  13. Ebd., S. 33.↩︎

  14. Vgl. Emmanuel Chukwudi Eze, »The Color of Reason. The Idea of ›Race‹ in Kant’s Anthropology«, in: Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, hg. von Emmanuel Chukwudi Eze, Cambridge, Mass. 1997, S. 104-140; vgl. auch Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 217: »Die Gewalt, mit der fremde Kulturen interpretiert und zivilisationshistorisch abqualifiziert wurden, muss als Ausdruck des europäischen, kolonialistischen Superioritätsdenkens interpretiert werden«.↩︎

  15. Kocka, »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«. S. 45.↩︎

  16. Zur Übersicht siehe Michael Huber, Musikhören im Zeitalter Web 2.0. Theoretische Grundlagen und empirische Befunde, Wiesbaden 2018, S. 25-26.↩︎

  17. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 345.↩︎

  18. Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1976).↩︎