1.1 Helmut Lachenmann und das Kritische Komponieren



1 Einleitung

1.1 Helmut Lachenmann und das Kritische Komponieren

 

Die Frage, inwiefern ein Komponist durch sein Schaffen affirmativ oder kritisch oder gar verändernd auf das Bewußtsein seiner Zeitgenossen wirken kann, ist demnach nicht eine Frage nach den Parolen […], sie ist vielmehr eine Frage seiner Kompositionstechnik.1

[Musik] wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag […].2

Es dauerte Jahre, bis diese Phrase von kritischen Journalisten und Wissenschaftlern hinterfragt wurde, inwiefern denn über kulturellen Protest überhaupt materielle, politische Veränderungen möglich wären.3

Es ist noch nicht allzu lange her, dass sich die Kunstmusik neben Erwerbsarbeit, Politik, Privatleben und Religion als autonome Sphäre herauskristallisierte, die ihren einstigen Funktionen im Rahmen von politischer Repräsentation und geistlicher Andacht enthoben und mit dem Anspruch verknüpft wurde, einzig den ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen. Gleichzeitig wird sie gerade seit jenem Moment zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters mit besonderen moralischen und politischen Ansprüchen befrachtet, die weit über jene hinausgehen, die sie in ihrer alten Rolle als Handwerk zur Belustigung der Mächtigen je zu erfüllen hatte.4 Friedrich Schiller erhoffte sich eine »Veredlung des Charakters«5 durch eine schöne Kunst, die der Wirklichkeit in der »Richtung zum Guten« vorangehe. Eine »Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise«6, die der (als männlich gedachte) Künstler im Menschen auslöse, sollte »sein Jahrhundert […] reinigen«7 und somit einer harmonischen Gesellschaft als Assoziation von Freien und Gleichen den Boden bereiten.

Die infolge des Scheiterns der Französischen Revolution genährte Hoffnung, dass, wenn nicht die Politik, so die Kunst zu einer besseren Gesellschaft führen werde, verstärkte sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der ästhetischen Avantgarden, die (wenn auch nicht in ihrer puristischen und formalistischen Spielart)8 die Mauern zwischen Kunst und Leben niederreißen und die Menschen wachrütteln wollten für das Unrecht eines aus der Balance geratenen Europa.9 Parallel dazu entwickelte sich im Zuge der Russischen Revolution eine Kunst, die unmittelbar in den Dienst gesellschaftlicher Veränderung gestellt wurde.10

Von Bedeutung insbesondere für die Kunstmusik des deutschsprachigen Raumes ist der Einfluss der Kritischen Theorie – hier vor allem jener Theodor W. Adornos –, der die ›neue Musik‹ als Instrument der Vernunft galt, das durch die mimetische Darstellung sedimentierter gesellschaftlicher Inhalte die Wahrheit über die Gesellschaft auszusagen und die Rezipient*innen damit zu kritischem Denken anzuregen vermöge.11 Auch wenn Adorno diesen Anspruch primär in der Musik der Wiener Schule verwirklicht sah und den Aufstieg der seriell dominierten Nachkriegs-Avantgarde mit Skepsis verfolgte,12 wurde der Philosoph im Umfeld der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik zum wesentlichen Impulsgeber in Bezug auf musikästhetische Fragen.13 Diese Autoritätsposition in ästhetischen Belangen steht im Kontrast zu Adornos angespanntem Verhältnis zur studentischen Neuen Linken, die – stärker an Marcuse orientiert – Adorno im Laufe der 1960er-Jahre zunehmend mit offenem Dissens begegnete.14

Kritisches Komponieren als Kompositionsrichtung

Während im 20. Jahrhundert Komponist*innen wie Hanns Eisler oder Hans Werner Henze auf eine interventionistische Musik setzten, die unmittelbar politische Inhalte zur Darstellung brachte oder gar zu politischer Aktion aufrief, beharrte Adorno auf dem Autonomieanspruch der bürgerlichen Tradition. Durch die »Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete«15 könne Musik den Hörenden die Verwerfungen des Spätkapitalismus bewusst machen und eine kognitive Umorientierung provozieren. In der westdeutschen ›neue Musik‹-Landschaft der späten 1960er-Jahre formulierten Komponisten wie Helmut Lachenmann, Mathias Spahlinger oder Nicolaus A. Huber – angeregt durch Adorno – den Anspruch, durch die kritische Auseinandersetzung mit kompositorischen Normen bei den Rezipient*innen ein ebenso kritisches Hören in Gang zu setzen. Nicolaus A. Huber definierte 1972 in seinem gleichnamigen Aufsatz Kritisches Komponieren als Kompositionspraxis, die ihren Status in der Gesellschaft ebenso reflektiere wie die gesellschaftliche Situation in ihrer Gesamtheit: »Kritisches Komponieren behandelt Probleme, die den Menschen betreffen, aber sich in Musik widerspiegeln – unter deren Bedingungen, versteht sich.«16

Mit dem Festhalten am Autonomieanspruch wird ein wesentlicher Unterschied zu einer explizit auf Gesellschaftsveränderung zielenden ›engagierten‹ Musik berührt. In Bezug auf Lachenmann hält Rainer Nonnenmann fest, dass dieser die Vorstellung, »nur eine bewusst hinter den fortgeschrittensten Stand der Reflexion des Materials zurückgehende oder dezidiert engagierte Musik könne die verlorene Kommunikation mit dem Publikum wieder herstellen und gesellschaftlich wirksam werden«17, in seinen Schriften scharf zurückwies. Der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Musik konstituiert sich also über deren mimetische Qualität. Mit der Aufklärungsfunktion und dem zentralen Fokus auf der Wahrnehmung nennt Huber weitere Punkte, die im Umfeld des Kritischen Komponierens konstitutive Bedeutung erlangen. Lachenmann und Spahlinger verwenden den Begriff selbst nicht, Lachenmann distanziert sich 1999 in einem Gespräch mit Jörn Peter Hiekel sogar ausdrücklich davon.18 Dennoch äußert er sich an zahlreichen Stellen im Sinne einer Kompositionspraxis, die durch das Brechen konventioneller Wahrnehmungskategorien – und somit auf dem Umweg über das Bewusstsein der Hörenden – indirekt auch auf die Gesellschaft einwirken will.

Neben Nicolaus A. Huber verwenden auch Autoren wie Claus-Steffen Mahnkopf oder Rainer Nonnenmann den Ausdruck ›Kritisches Komponieren‹ in ähnlicher Bedeutung. Mahnkopf machte das Phänomen 2004 zum Thema eines Symposions, im Zuge dessen er Luigi Nono und Klaus Huber auf der einen sowie Mathias Spahlinger auf der anderen Seite als generationale Grenzpfeiler des Kritischen Komponierens definierte.19 Nonnenmann zufolge ist das Kritische Komponieren im Adorno’schen Sinn »bestimmte Negation«20 und besitzt trotz seines Autonomie­anspruchs einen funktionalen Charakter: Es »dient stets als Mittel zum Zweck, bestimmte inner- und außermusikalische Ziele zu erreichen.«21 Dabei sei das Kritische Komponieren »zugleich Kritik des Komponierens und der Rahmenbedingungen der Musik und des Musikhörens.«22 Das ›Kritische‹ des Kritischen Komponierens hat somit ein dreifaches Telos: Es richtet sich auf die Behandlung des musikalischen Materials ebenso wie auf die soziokulturellen Bedingungen der Musikproduktion und jene der Rezeption. Mit der »Brechung gängiger Wahrnehmungsmechanismen«23 formuliert Nonnenmann einen Anspruch, der in Zusammenhang mit dem Kritischen Komponieren eine wesentliche Rolle spielt.

Der Diskurs des Kritischen Komponierens: Merkmale und Grenzen

Von der ästhetisch gestaltenden Praktik des Kritischen Komponierens, die sich in Form musikalischer Werke manifestiert, sind jene sprachlichen Äußerungen zu unterscheiden, mit denen die Urheber ihr Komponieren häufig begleiten und die dieses – so kann argumentiert werden – erst zu einem ›kritischen‹ machen. Spielen erklärende, legitimierende und die Rezeption lenkende Äußerungen für die ›neue Musik‹ insgesamt eine nicht zu überschätzende Rolle,24 so ist diese Bedeutung beim Kritischen Komponieren in besonderer Weise gegeben: Es liegt auf der Hand, dass eine künstlerische Praktik, die trotz des weitgehenden Verzichts auf außermusikalische Mittel mit dem Anspruch einhergeht, eine Aussage über die Gesellschaft zu treffen, auf einen begleitenden Diskurs angewiesen ist, um überhaupt in einem kritischen Bezug zur Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Zu den Sprechakten der Komponist*innen gesellt sich ein Konglomerat aus wissenschaftlichen Abhandlungen, Kritiken, journalistischen Würdigungen, philosophischen Auseinandersetzungen und Werbetexten, die bestimmten kompositorischen Praktiken das Potenzial zuschreiben, aufgrund ihrer immanenten Beschaffenheit aufklärend auf die Rezipient*innen zu wirken, und diese Praktiken somit in einer gesellschaftskritischen Ästhetik verorten.

Diskurse werden hier mit Reiner Keller als »abgrenzbare, situierte, bedeutungskonstituierende Ereignisse bzw. Praktiken des Sprach- und Zeichengebrauchs durch gesellschaftliche Akteure«25 verstanden. Der Diskurs des Kritischen Komponierens ist demnach als die Summe der Aussagen zu verstehen, die sich durch eine Reihe von gemeinsamen Inhalten und Standpunkten konstituieren. Als zentrale Denkfigur erscheint die Vorstellung, dass die strukturelle Beschaffenheit der Musik als Widerspiegelung gesellschaftlicher Strukturen anzusehen und daher unabhängig von einer möglichen Verknüpfung mit außermusikalischen Inhalten inhärent gesellschaftlich sei. Die gesellschaftlichen »Vorwegbestimmungen«26 des musikalischen Materials, mit dem die Komponist*in operiert, erfordern einen negativen Umgang mit diesen Mitteln, um die schlechte Übereinstimmung zwischen traditionellem Ausdrucksrepertoire und gesellschaftlicher Norm zu brechen. Damit geht eine Kritik an den Mechanismen des Kulturbetriebs – einschließlich des bürgerlichen Konzertwesens – einher, der für ein Abstumpfen des Wahrnehmungs­apparats und das Einverständnis der Subjekte in ihre eigene Unterdrückung verantwortlich sei. Um diesen falschen Konsens zu stören, zielt das Kritische Komponieren auf eine Disruption von Hörgewohnheiten, die eine Schärfung der Wahrnehmung und in weiterer Folge eine Anregung des kritischen Denkvermögens nach sich ziehen soll. In der Tradition Adornos wird der Musik somit eine Erkenntnis- und Aufklärungsfunktion zugeschrieben, die als Schritt hin zu einer gesellschaftlichen Veränderung verstanden wird. Gemeinsam ist den Proponent*innen des Kritischen Komponierens eine kritische Sicht auf die westliche Gesellschaft der Gegenwart und die politische Vision von Emanzipation und Autonomie.

Auf sprachlicher Ebene kennzeichnet den Diskurs eine Nähe zum Begriffsinventar der Kritischen Theorie, die das linksintellektuelle Feld im Westdeutschland der 1960er- und 1970er-Jahre dominierte – Nonnenmann verweist auf die Leitfunktion des Kritikbegriffs in den ästhetischen Debatten der Zeit.27 In politischer Hinsicht sympathisierten die Diskurs­teilnehmer*innen mit der antiautoritären Entfremdungskritik der Protestbewegung um 1968. Gleichzeitig distanzierten sich die Verfechter*innen eines Kritischen Komponierens jedoch von einer ausdrücklich politisch engagierten Musik, die das Ziel, breite Massen anzusprechen, mit einer Vereinfachung der musikalischen Sprache und der Integration von außermusikalischen Inhalten verband.28

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nicht die Musik, auf die sich die Diskursteilnehmer*innen in ihren Aussagen über das Kritische Komponieren beziehen, sondern die Aussagen, die das Kritische Komponieren als ästhetische Strömung konstituieren. Anstatt zu fragen, ob die Kompositionen, die dem Kritischen Komponieren zugeordnet werden, tatsächlich die damit verknüpften Ansprüche erfüllen (ein zweifellos lohnendes Unterfangen, dem an anderer Stelle nachzugehen wäre), steht das diskursive Geschehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Dass dessen Teilnehmer*innen häufig demselben Personenkreis angehören, der auch für das kompositorische Phänomen verantwortlich zeichnet, erhöht die Komplexität des Untersuchungsfelds, steht einer analytischen Trennung in Kompositionspraktik und begleitenden Diskurs aber nicht entgegen.

Ungeachtet seiner konstitutiven Gemeinsamkeiten ist der Diskurs des Kritischen Komponierens nicht als monolithischer Block zu betrachten. Anders als Lachenmann verortet sich etwa Nicolaus A. Huber dezidiert in einer durch Eisler geprägten Tradition ›engagierter‹ Musik und divergiert in seinem Beharren auf einer dienenden Funktion von Musik vom Autonomie- und Werkverständnis der bürgerlichen Tradition.29 Spahlinger wiederum wendet sich, obwohl er wie Lachenmann die musikimmanente Ebene als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung bestimmt,30 wie Huber gegen das traditionelle Werk, das er als Ausdruck von Machtinteressen versteht.31 Dezidierter noch als die erwähnten Autoren verfolgt Mahnkopf den Anspruch, Adornos Kritische Theorie auf die Musik zu übertragen, während er an der Musik Lachenmanns, Spahlingers und Hubers sowie deren theoretischem Überbau eine Überbetonung des negatorischen Impetus kritisiert.32 Trotz dieser Unterschiede ist es im Sinn einer Diskursanalyse legitim, die übergreifenden, das Denkgebäude einer Autor*in transzendierenden Argumentationslinien und Narrative in den Blick zu nehmen.

Auch wenn ähnliche Gedanken an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten artikuliert wurden, handelt es sich bei der hier gemeinten Menge an Aussagen um ein spezifisch westdeutsches Phänomen, das in den späten 1960er-Jahren seinen Ausgang nahm. Im Hinblick auf die Kompositionspraktik des Kritischen Komponierens hat Nonnenmann die Frage aufgeworfen, ob diese eine abgeschlossene Zeitspanne umfasse oder ob es sich vielmehr um eine Kompositionshaltung von überzeitlicher Gültigkeit handle und die damit verbundenen Ansprüche auch im Komponieren der jüngsten Vergangenheit und der unmittelbaren Gegenwart noch lebendig seien. Für die frühen 1990er-Jahre konstatiert Nonnenmann in Zusammenhang mit dem Ende des realen Sozialismus eine Krise des Kritischen Komponierens, die dazu geführt habe, dass im Sprechen darüber der Rekurs auf gesellschaftskritische Begründungen in den Hintergrund getreten sei. Dennoch schlägt Nonnenmann ein überzeitliches Verständnis von Kritischem Komponieren vor, da die ›bestimmte Negation‹ des jeweils herrschenden Materialstands angesichts postmoderner Heterogenität und Ubiquität der Mittel zwar erschwert, aber nicht verunmöglicht werde.

Im Unterschied zu Nonnenmann wird hier nicht beabsichtigt, normative Kriterien zu entwickeln, an denen ein bereits bestehendes Kritisches Komponieren zu messen oder zukünftige Phänomene dieser Art auszurichten wären. Vielmehr sollen jene Sprechhandlungen untersucht werden, die bestimmten musikalischen Phänomenen eine solche kritische Intervention in der Gesellschaft zuschreiben. Der Diskurs nimmt dabei insofern eine historische Gestalt an, als sich von einer Phase ab ca. 1970 bis in die 1980er-Jahre, in welcher der Kunstmusik mit großer Bestimmtheit eine Bedeutung innerhalb gesellschaftlicher Transformationen zugeschrieben wurde, eine darauf folgende Zeitspanne abhebt, die zwischen Mitte der 1980er-Jahre und den frühen 1990er-Jahren einsetzte. Sie substituierte die radikalen politischen Forderungen durch einen stärkeren Fokus auf innerästhetische Belange, ohne den kritischen Anspruch aus den Augen zu verlieren, und hält bis heute an – sind in den Äußerungen der Fürsprecher*innen eines Kritischen Komponierens doch nach wie vor Standpunkte anzutreffen, die im Aufbrechen musikalischer Konventionen ein Potenzial für menschliche Transformation und Aufklärung sehen.

Im Zentrum dieser Arbeit stehen die Texte Helmut Lachenmanns, da dessen Komponieren wie das kaum eines anderen Komponisten von einer ebenso profunden wie extensiven verbalen Reflexion begleitet wurde und wird.33 Ihre Einbettung in den Diskurs des Kritischen Komponierens bleibt dabei von wesentlicher Bedeutung, da sie den von Lachenmann verwendeten Denkfiguren Tiefenschärfe verleiht – lässt doch erst die vielfache Wiederholung ähnlicher sprachlicher Muster die für den Diskurs konstitutiven Aussagen hervortreten. Lachenmanns Texte interessieren hier also weniger als individuelle Äußerungen einer Persönlichkeit mit bestimmten biografischen und psychologischen Merkmalen denn als Fallbeispiel für eine Form des Sprechens über ›neue Musik‹, die im deutsch­sprachigen Diskurs der Nachkriegszeit eine hegemoniale Stellung einnahm und das Denken über ›neue Musik‹ bis heute nicht unwesentlich prägt.

Trotz dieser Einordnung ist die Individualität von Lachenmanns Texten von unhintergehbarer Bedeutung. Für Reinhold Brinkmann zählen die Selbstkommentare einer Autor*in

zum Begründungszusammenhang des Schaffens von Kunst. […] Ästhetische Grundsatzerklärungen und die Darstellung kompositorischer Prinzipien, oft beides verbunden mit außerästhetischem Räsonnement, gesellschaftskritisch, religiös, dienen den Autoren dabei vorzüglich zur Lenkung ihrer Rezeption und damit ihrer künstlerischen und geschichtlichen Legitimation.34

Zuallererst ist Lachenmann demnach Komponist – eine Identität, die jede seiner Äußerungen unausweichlich prägt, wie auch Ulrich Mosch bemerkt: »Erste Aufgabe des Komponisten bleibt eben das Komponieren, ist nicht die systematische Re­flexion.«35

Auch wenn seine Schriften durch den Diskurszusammenhang mit unter­schiedlichen Textsorten korrespondieren und sich im Einzelnen kaum von kunst­wissenschaftlichen oder philosophischen Betrachtungen unterscheiden mögen, handelt es sich doch weder um kunstwissenschaftliche Abhandlungen noch um philosophische Traktate. Wir haben es vielmehr mit den Texten eines Künstlers zu tun, gewissermaßen mit Nebenerzeugnissen der kompositorischen Praxis, die – was Subjektivität, Parteilichkeit und die Lizenz zur Pointierung betrifft – anderen Gesetzen unterliegen als die Schriften von Theoretiker*innen. Von diesen unterscheiden sich Lachenmanns Texte auch hinsichtlich ihrer Intentionalität: Sie sind nicht als für sich stehende Zeugnisse einer fachlichen Expertise zu verstehen, sondern als Sprachrohr eines Praktikers, der je nach Situation für seine ästhetische Position zu werben oder gegnerischen Stimmen auf der kompositorischen Bühne Kontra zu geben sucht. Als Komponist*innen­kommentare36 schreiben sie sich zudem in die Rezeption der Musik Lachenmanns ein, die sie mit Bedeutungen und Assoziationen anreichern und auf nicht zu unterschätzende Weise lenken.

Die Politik des Kritischen Komponierens

Die Verfechter*innen des Kritischen Komponierens grenzen sich somit gegenüber dem Ansinnen ab, Musik dezidiert in den Dienst einer politischen Wirkung zu stellen. Diese Skepsis sowohl gegenüber dem Begriff des Politischen wie auch gegenüber jenem der Wirkung bedeutet indessen nicht, dass dem Kritischen Komponieren nicht dennoch das Streben nach einer politischen Wirkung zugesprochen werden kann. Dieses Buch geht von einem weiten Politikbegriff aus, wie er etwa in der feministischen Theoriebildung, aber auch durch Ansätze im Umfeld von Poststrukturalismus und Marxismus stark gemacht wurde.37 Ein solches Politikverständnis reduziert das Politische nicht auf die Bereiche von Staat und Regierung, sondern versteht es als Ausübung, Verteilung und Ausverhandeln von Macht.38 Diese wird wiederum als die Fähigkeit definiert, durch die eigenen Handlungen die Handlungsmöglichkeiten anderer Menschen zu beeinflussen.39 Im Sinne eines solchen weiten Politikbegriffs lässt sich die von den Fürsprecher*innen des Kritischen Komponierens angestrebte Transformation des Wahrnehmens und Denkens sowie der Wunsch, dass diese die Grundlage auch für ein verändertes Handeln bilden möge, sehr wohl als Streben nach einer politischen Wirkung verstehen.

Meines Erachtens eignet sich der Politikbegriff als analytische Kategorie zur Erhellung nicht nur dieser, sondern auch anderer Ebenen des Diskurses um das Kritische Komponieren. So wäre zum einen die Art und Weise zu untersuchen, wie sich die Diskursteilnehmer*innen in Bezug auf explizit politische Fragen positionieren: Sowohl Lachenmann als auch Spahlinger und Huber tätigen namentlich in den 1970er-Jahren Aussagen, die – bei aller Distanz gegenüber interventionistischen Kunstströmungen – direkt an den Diskurs im Umfeld der Neuen Linken und der Studierendenbewegung anschließen und durchaus als explizite Verweise auf tagespolitische Fragen oder als Vision einer gerechteren Gesellschaft zu verstehen sind. Weiters eignet sich die Kategorie des Politischen zur Untersuchung der an die Praktik des Kritischen Komponierens geknüpften gesellschaftlichen Wirkungsabsicht, die ungeachtet der oben erwähnten Distanzierungsversuche zu konstatieren ist. Schließlich umfasst sie implizite gesellschaftstheoretische Annahmen der Akteur*innen, die insofern als ideologisch zu verstehen sind, als sie unhinterfragt vorausgesetzt und im Diskurs selbst nicht thematisiert werden, diesem aber im Sinne von Tiefenstrukturen zugrunde liegen und möglicherweise zu seinen expliziten Absichten im Widerspruch stehen. Ziel dieser Arbeit ist die Darstellung aller drei politischen Aspekte des Kritischen Komponierens.

Endnoten