2.3 Intentio Auctoris


How to cite

How to cite

Dražić, Lena. 2024. Die Politik des Kritischen Komponierens. Diskursive Verflechtungen um Helmut Lachenmann. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467015. Cite


An der Frage, welche Bedeutung den Erläuterungen der Urheber*in für die Analyse und Deutung des Werkes zukomme, scheiden sich die Geister. Bereits in den 1940er-Jahren degradierte der New Criticism die zuvor hochgehaltene Autor*innenintention im Zeichen der Werkimmanenz zur nebensächlichen und zudem unzugänglichen Privatmeinung: »[…] the design or intention of the author is neither available nor desirable as a standard for judging the success of a work of literary art.«13 Mit dem Aufkommen der Rezeptionsästhetik und dem innerhalb des Poststrukturalismus proklamierten ›Tod des Autors‹ wurde die Intention der Autor*innen im Rahmen der Interpretation literarischer Texte ab den 1960er-Jahren endgültig ad acta gelegt.14

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Musikwelt den Äußerungen der Urheber*innen durchwegs einen hohen Stellenwert beimisst – was unter anderem der Sprachferne insbesondere ›neuer‹ Musik geschuldet sein dürfte. Wie Eberhard Hüppe feststellt, geben die Selbstkommentare von Komponist*innen in der Regel den konzeptuellen Rahmen vor, in dem sich die einsetzende Forschung entfaltet.15 Der positive Bezug der Musikforschung zur Autor*innenintention wird allerdings auch einer kritischen Reflexion unterzogen. So bemerkt etwa Brian Ferneyhough, die Kommentare der Komponist*innen seien keine »guarantors of primacy with respect to interpretation«16 – die Stimme der Komponist*in erscheint hier lediglich als eine unter vielen. In Bezug auf Mathias Spahlinger thematisiert Nonnenmann die Differenz zwischen Autorintention und Werk: »Die Titel, Motti und Kommentare verraten […] mehr über die Intentionen des Komponisten als über dessen Musik.«17 Sein Einwand, »[s]o hat man nach der Lektüre aller Titel und Texte zu guter Letzt zwar vieles verstanden, doch ohne die Musik selbst zu verstehen, die unabhängig von den ihr angehefteten Worten stumm bleibt«, verweist auf ein Grundproblem des Kritischen Komponierens sowie jeder wortlosen Kunst, die mit einem Wahrheitsanspruch verbunden ist. Da dieser streng genommen durch die Musik selbst nicht eingelöst werden kann, muss diese Funktion der Kommentar übernehmen – und beraubt die Musik somit ihrer viel beschworenen Autonomie. Frank Hentschel kritisiert die Tendenz innerhalb der Musikwissenschaft, Komponist*innen­kommentaren den Rang diskursiver Autorität zu verleihen:

Man muss die Theorien von Repräsentanten Neuer Musik ernst nehmen – gleich, ob es sich um Komponisten, künstlerische Leiter oder Journalisten usw. handelt. Sie ernst zu nehmen, heißt, danach zu fragen, inwiefern zutrifft, also wahr oder wenigstens wahrscheinlich ist, was sie schreiben. Musikwissenschaftliche Arbeiten bemühen sich hingegen in aller Regel lediglich darum, die Positionen und Überzeugungen der untersuchten Komponisten wiederzugeben oder gar »stark zu machen« […].18

Auf Lachenmann umgelegt würde dies implizieren, dessen poetische Entwürfe und Absichtsbekundungen, wie sie in seinen Schriften zum Ausdruck kommen, am musikalischen Phänomen hörend zu ›überprüfen‹. Wie eine Auseinandersetzung mit der Lachenmann-Literatur zeigt, verläuft der Weg hingegen häufig umgekehrt: Der eigene oder fremde Höreindruck hat sich an die Aussagen des Komponisten, denen autoritative Gültigkeit zugesprochen wird, anzupassen.

In Hentschels Sicht unterscheidet sich das Verhältnis der Musikhistoriografie zu ihrem Gegenstand auf signifikante Weise von jenem der allgemeinen Geschichtsschreibung: Gehöre zu deren Selbstverständnis eine kritische Distanz gegenüber dem Forschungsobjekt, so sei dies in der Musikgeschichtsschreibung nicht zwingend der Fall.19 Ähnlich argumentiert auch Hüppe, »dass sich zwischen den Netzwerken der Forschung und denen der Künstler Schnittmengen gebildet und eine soziale Dynamik in Gang gesetzt haben, die das musikalische Feld strukturieren.«20 Dass die »Forschung über aktuelle Musik […] mit Präferenzen«21 verbunden sei, sieht er dabei als unausweichlich: »Über Gegenwartsmusik zu forschen heißt, involviert zu sein«.22 Derartige Aussagen, die häufig mit der Forderung nach einer historischen Kontextualisierung ästhetischer Normen einhergehen, sind dabei auch als Anzeichen eines Paradigmenwechsels innerhalb der Musikwissenschaft zu verstehen, der in der Folge des New Historicism seit den 1980er-Jahren vermehrt Raum für disziplinare Selbstkritik bot.23

Endnoten


  1. William Kurtz Wimsatt und Monroe Beardsley, »The Intentional Fallacy«, in: The Sewanee Review 54 (1946), Heft 3, S. 468-488, hier S. 468.↩︎

  2. Vgl. etwa Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002, S. 104-110; Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hg. von Dorothee Kimmich, Stuttgart 2004, S. 232-247; Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik: Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, Teil 2, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt a.M. 1972, S. 345-375.↩︎

  3. Eberhard Hüppe, »Rezeption, Bilder und Strukturen«, in: Helmut Lachenmann. Musik mit Bildern?, hg. von Matteo Nanni u.a., München 2012, S. 71-96.↩︎

  4. Brian Ferneyhough, »Third String Quartet/Zum Dritten Streichquartett«, in: Nähe und Distanz. Nachgedachte Musik der Gegenwart Bd.1, hg. von Wolfgang Gratzer, Hofheim 1997, S. 140-141, hier S. 140.↩︎

  5. Nonnenmann, »Was ist Musik?«, S. 109.↩︎

  6. Frank Hentschel, Neue Musik in soziologischer Perspektive. Fragen, Methoden, Probleme, https://osf.io/27fw5/ (Zugriff am 6. November 2020), S. 14.↩︎

  7. Frank Hentschel, »Über Wertung, Kanon und Musikwissenschaft«, in: Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, hg. von Klaus Pietschmann u.a., München 2013, S. 72-85, hier S. 82.↩︎

  8. Hüppe, »Rezeption, Bilder und Strukturen«, S. 70.↩︎

  9. Ebd., S. 72.↩︎

  10. Ebd.↩︎

  11. Vgl. Karin Losleben, »Musik und Männlichkeiten – ein Forschungsüberblick«, in: Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Marion Gerards u.a., München 2013, S. 53-69, hier S. 54.↩︎