3.1 György Lukács



3 Offene und verdeckte Bezüge

Bevor in Kapitel 4 zentrale Konzepte in Lachenmanns Texten unter die Lupe genommen werden, geht dieses Kapitel einigen Querverbindungen nach, die Lachenmanns Aussagen mit den Texten anderer Autoren verbinden. Lachenmanns Denken soll so nicht nur synchron, sondern auch diachron in einem diskursiven Kontext verortet und damit in seiner Entwicklung nachvollziehbar gemacht werden. Ich beschränke mich dabei auf drei Autoren, deren Spuren in Lachenmanns Texten unübersehbar sind.

Bei György Lukács und Theodor W. Adorno handelt es sich um zentrale Vertreter einer kritischen und (zumindest indirekt) am Marxismus ausgerichteten Ästhetik, auf deren Schriften sich Lachenmann mehr oder weniger explizit bezieht und deren Denkfiguren in seinen Texten wiederkehren.1 Während es hier um Bezüge auf der Textebene geht, sehen wir uns in Nonos Fall einem persönlichen Verhältnis gegenüber, das Lachenmann für die historischen Präformierungen des Materials ebenso sensibilisiert wie in politischer Hinsicht entscheidend geprägt hat und das sich weniger intertextuell als vielmehr auf der Grundlage von Lachenmanns Aussagen über Nono erschließt.

3.1 György Lukács

Die Bezugnahme auf den Philosophen György Lukács fällt in Lachenmanns Schriften zunächst uneingeschränkt positiv aus. Rainer Nonnenmann zufolge hatte Nicolaus A. Huber Lachenmann Mitte der 1960er-Jahre auf Lukács aufmerksam gemacht.2 Infolge seiner Lukács-Rezeption zieht Lachenmann immer wieder Kategorien aus dem Theoriegebäude des Philosophen heran, um Grundkonzepte seines eigenen Komponierens zu erläutern. So auch in dem bereits zitierten Mahler-Text, in dem sich Lachenmann kritisch zu nicht näher konkretisierten politischen Pro­grammen äußert:

Nicht zuletzt an ihrer Haltung zur Kunst geben sich mir jene politischen Programme zu erkennen, die von der Änderung der Gesellschaft reden und die unfähig sind, ihre eigenen inneren Bindungen an diese zu durchschauen. Kunst auf dem Weg zu einem Selbstverständnis, wie es der alte Lukács in seiner Ästhetik fordert, eine Gesellschaft aber als gelehrige und konsequente Schülerin ihres eigenen »Scheiterns« und nicht bloß ihr selbstgefällig-kokettes Publikum – sie allein wäre der Ausweg.3

Die Art des Selbstverständnisses, auf das sich Lachenmann beruft, bleibt hier un­geklärt, lässt sich aber durch seine Antwort auf die nächste Frage des Herausgebers Peter Ruzicka etwas näher bestimmen, in der er den Amalgam-Charakter von Mahlers Kompositionen als Beispiel Lukács’scher ›Welthaftigkeit‹4 identifiziert. Darunter versteht der Philosoph die Erschaffung »einer eigenen Welt des Menschen«5 im »homogenen Medium«6 der Kunst, die einen Ausschnitt der objektiven Wirklichkeit mimetisch widerspiegelt und dadurch »zu einer intensiven Totalität der jeweils ausschlaggebenden Bestimmungen«7 transformiert. Für Lachenmann meint der Begriff in Bezug auf Mahler die Koexistenz heterogener Stile in dessen Symphonik,

ein[en] aufschlußreiche[n] Ausschnitt quer durch die Musik aller Gesellschafts­schichten jener Epoche […]: umfassende Widerspiegelung jener Empfindungswelt, wie sie sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert als Zuflucht und Resignation vor einer unbewältigten Wirklichkeit sedimentiert hatte.8

Der hier von Lachenmann ins Spiel gebrachte Begriff der Widerspiegelung spielt in Lukács’ spätem Hauptwerk Die Eigenart des Ästhetischen eine zentrale Rolle. Als ›Mimesis‹ bildet die spezifisch ästhetische Form der Widerspiegelung die Basis von Lukács’ ästhetischem System.9 Freilich ist das Konzept der Widerspiegelung kein Spezifikum von Lukács, auch wenn dieser es wie kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts zur Grundlage seiner Philosophie gemacht hat – vielmehr bildet die Überzeugung, dass Kunst die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilde, ein Kerntheorem marxistischer Ästhetik.10 Allerdings erfährt dieses bei Lukács seine umfassendste Ausformulierung und Begründung. Wie jede Abbildtheorie stößt auch Lukács’ Mimesis-Konzept in Bezug auf die Musik, deren Möglichkeiten direkter Abbildlichkeit im Vergleich zu bildender Kunst oder Literatur stark begrenzt sind, auf ein Hindernis.11 Während traditionelle Abbildtheorien den primären Gegenstand musikalischer Widerspiegelung in der Gefühlswelt verorten, ist diese Sichtweise für den Marxismus-Leninismus tabu, da Lenin Gefühle nicht als Teil der objektiven Wirklichkeit sah.12 Lukács umgeht diese Schwierigkeit, indem er in Bezug auf die Musik das Theorem einer »gedoppelten Mimesis«13 entwirft: Die Musik sei eine mimetische Wider­spiegelung der Empfindungen, die wiederum eine Widerspiegelung der Wirklichkeit darstellen würden.14 Dass sich Lachenmann mit der Lukács’schen Figur einer doppelten Widerspiegelung auseinandergesetzt hat, geht aus den Vortragsskizzen für »Zum Problem des musikalisch Schönen heute« hervor.15

Dabei sind ›Welthaftigkeit‹ und ›Widerspiegelung‹ nicht die einzigen Lukács’schen Termini, auf die sich Lachenmann in seinem Schreiben bezieht. In »Zum Problem des musikalisch Schönen heute« schreibt Lachenmann über das Verhältnis zwischen künstlerischer Subjektivität und gesellschaftlich Geformtem:

Eine umfassende Beschreibung der Wechselwirkung von immanenten Gesetzen des ästhetischen Mediums und objektiver Wirklichkeit (der »Mensch ganz« im homogenen Medium ästhetischer Disziplinen gegenüber dem »ganzen Menschen« im vielseitig gefächerten existentiellen Alltag) habe ich bisher nirgendwo anders als in der Ästhetik von Georg Lukács gefunden. Ich habe den Eindruck, bis heute hat man sich allenthalben auch bei den Künstlern der »Linken« um diese Lektüre gedrückt.16

Die Begriffe ›der ganze Mensch‹ und ›der Mensch ganz‹ finden in der Eigenart des Ästhetischen in Zusammenhang mit dem ›homogenen Medium‹ der Kunst Verwendung. Letzteres meint die ästhetische Reduktion der Vielfalt der Alltags­eindrücke auf jenes durch einen einzigen Sinneskanal (etwa das Hören im Fall der Musik) erfassbare Spektrum, das der jeweiligen Kunstsparte entspricht. Dadurch entsteht im Zuge der ästhetischen Widerspiegelung eine eigene ›Welt‹, die in verdichteter Form das Wesentliche der objektiven Wirklichkeit enthält. Der ›ganze Mensch‹ des Alltags, der die Wirklichkeit in der Fülle der Sinneseindrücke erfasst, wird dabei zum ›Menschen ganz‹, der völlig in der Konzentration des homogenen Mediums aufgeht und gleichzeitig die praktisch-instrumentellen Zielsetzungen des gewöhnlichen Lebens suspendiert. Der ›Mensch ganz‹ entspricht dem Bewusstseins­stand, welcher der Erschaffung und Rezeption von Kunst angemessen ist: Ihm erschließen sich Aspekte der Realität, die dem ›ganzen Menschen‹ verschlossen bleiben.17 Die Gegenüberstellung von ›ganzem Menschen‹ und ›Menschen ganz‹ führt Lachenmann in seinen Texten noch weitere Male ins Treffen.18

Wie ist nun Lachenmanns positive Bezugnahme auf Lukács’ ästhetische Kategorien zu bewerten? Albrecht Wellmer vertritt die These, Lukács sei für Lachenmanns ästhetisches Denken von größerer Bedeutung gewesen als Adorno: Lachenmann habe seine Vorstellung des Wirklichkeitsbezugs von Musik in Anlehnung an Lukács’ Modell einer »verdoppelten«19 Mimesis »an den expressiven und affektiven Aspekten der Musik bzw. des Musikhörens fest[ge]macht.«20 Auch Nonnenmann vertritt die Meinung, Lachenmann habe zentrale Bestandteile seines Musikdenkens der Lukács’schen Ästhetik entlehnt. Er weist darauf hin, dass Lukács in seiner späten Ästhetik neben dem stilgeschichtlichen Realismusbegriff, den er in den 1930er-Jahren vertrat, ein zweites, philosophisch verstandenes Konzept des Realismus entwickelt habe, welches auf das mimetische Prinzip der Künste in seiner Gesamtheit zielt. Im Gegensatz zu einem stilgeschichtlichen Begriffsverständnis steht dieser weite Realismusbegriff für Nonnenmann in keinem Widerspruch zu Lachenmanns avantgardistischer Poetik. Der Musikwissenschaftler sieht hier eine Parallele zu Lachenmanns »an der Wirklichkeit geläuterte[m] Schönheitsbegriff«21, der – über die Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen Apparat – ebenfalls eine Reflexion historischer und gesellschaftlicher Wirklichkeiten beinhalte. Lachenmanns Konzeption des Ästhetischen Apparats wird in Kapitel 4.2 ausführlich diskutiert.

Nonnenmann ist darin zuzustimmen, dass Lukács’ Vorstellung einer Transformation des vereinzelten Individuums zum Gattungswesen ›Mensch‹ mit den Mitteln der Kunst Lachenmanns Überzeugung entspricht, Kunst vermöge das »humane Potential«22 im Menschen anzusprechen. Auch dient diese Fähigkeit von Kunst bei Lachenmann ebenso wie bei Lukács als Korrektiv menschlicher Entfremdung. Allerdings ist der Entfremdungsbegriff kein Spezifikum von Lukács, sondern spielt ebenso bei Adorno eine tragende Rolle, der, wie gezeigt wurde, für Lachenmanns Musikdenken ebenfalls von zentraler Bedeutung ist.23 Ebenso lässt sich der von Nonnenmann bei Lachenmann ausgemachte Gedanke,

dass die Auseinandersetzung mit dem Material dem Komponisten die Möglichkeit gibt, sowohl seine Subjektivität künstlerisch auszudrücken als auch ein ästhetisches Abbild seiner freien und kritischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu schaffen24,

nicht nur auf Lukács, sondern auch auf Adorno zurückführen. Ähnliches gilt für Lachenmanns Überzeugung, die Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen Apparat bringe eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft mit sich: Für Nonnenmann wirkt darin Lukács’ Auffassung von Musik als ›gedoppelter Mimesis‹ weiter, wobei er die bei Lachenmann implizierte Gesellschaftskritik mit Lukács’ Konzept der ästhetischen Mimesis als »Vehikel zur Eroberung der Wirklichkeit«25 in Zusammenhang bringt.26

Auf ähnliche Weise ließe sich die Vorstellung des Ästhetischen Apparats jedoch auch als Weiterführung des Adorno’schen Materialdenkens interpretieren, wonach die Beschäftigung mit dem musikalischen Material immer auch eineAuseinandersetzung mit den darin sedimentierten gesellschaftlichen Inhalten beinhaltet. Nicht zuletzt ist die von Lachenmann geprägte Wendung von Kunst als »Medium der Erhellung«27 vielleicht noch schlüssiger mit Adornos Theorem des Erkenntnischarakters28 von Kunst als mit Lukács’ Konzept von deren kathartischer Wirkung in Verbindung zu bringen.29

Darüber hinaus sieht Nonnenmann die Aufhebung der Trennung zwischen künstlerischer und alltäglicher Praxis in der Musique concrète instrumentale in Lukács’ Verankerung der Kunst im Alltagsleben vorgezeichnet. Allerdings geht Lukács zwar davon aus, dass die ästhetische Mimesis in der Mimesis des Alltags wurzle, betont daneben aber auch die Autonomie der ästhetischen Sphäre,30 die darin begründet sei, dass die Konzentration des homogenen Mediums die Erschaffung einer »spezifische[n] Wirklichkeit«31, »einer eigenen ›Welt‹«32 der Kunstwerke zur Folge habe:

Das homogene Medium muß also, obwohl seine konkrete Beschaffenheit (Hörbarkeit, Sichtbarkeit, Sprache, Gebärde) ein Element des menschlichen Lebens, der menschlichen Praxis bildet, etwas aus dem ununterbrochenen Fluß der Wirklichkeit Herausgehobenes sein.33

Bemerkenswert am Modell der Musique concrète instrumentale ist in der Tat die Inszenierung des Produktionsprozesses der Klänge als prosaischer Arbeitsvorgang, welcher der gewöhnlichen Trennung der ästhetischen von der alltäglichen Sphäre entgegensteht. Lukács’ Betonung des Herausgehobenseins der Kunst aus dem Alltag scheint dieser ästhetischen Konzeption jedoch gerade zu widersprechen.

Zusammenfassend lassen die von Nonnenmann angeführten Punkte tatsächlich einige Parallelen von Lachenmanns Musikdenken zu Lukács’ später Ästhetik erkennen. Es gibt aber auch beträchtliche Unterschiede, wobei neben dem außeralltäglichen Charakter der Kunst noch weitere Punkte zu nennen sind: So grenzt Lukács die Vorstellung eines Abbilds des Innenlebens im Zuge der ›gedoppelten Mimesis‹ dezidiert gegenüber dem subjektiven Ausdrucksprinzip ab, dem sich Lachenmann wiederum verpflichtet sieht.34 Auch steht die Musik keineswegs im Zentrum von Lukács’ Ästhetik, wie dies bei Adorno der Fall ist, sondern bildet vielmehr ein Randgebiet, das Lukács’ allgemeine Mimesistheorie nur auf Umwegen zu um­fassen vermag.35

Trotz der größeren Verfeinerung von Lukács’ Denken in der Eigenart des Ästhetischen gegenüber seiner mittleren, dem literarischen Realismus verpflichteten Phase, und angesichts des Umstands, dass der Realismus nun nicht ausschließlich auf ein historisches Phänomen (den Roman des 19. Jahrhunderts) bezogen, sondern als eines der Grundprinzipien von Kunst in deren mimetischer Widerspiegelung der Wirklichkeit gedacht wird, ist der Eindruck eines ästhetischen Konservatismus auch in der Eigenart des Ästhetischen nicht von der Hand zu weisen: Albrecht Riethmüller verortet die Schrift in der Tradition der großen Systementwürfe des Deutschen Idealismus. Sei jedoch bei Hegel die Gegenstandsferne seiner Ästhetik noch zu entschuldigen gewesen, so sei spätestens im 20. Jahrhundert der Bezug ästhetischer Entwürfe zu konkreten künstlerischen Artefakten unerlässlich geworden. Dass Letztere in Lukács’ später Ästhetik eine untergeordnete Rolle spielen, ist jedoch auch der Tatsache geschuldet, dass der erste Band allgemeinen erkenntnistheoretischen Fragen vorbehalten ist, während der unveröffentlichte zweite und dritte Band jeweils konkrete Kunstwerke bzw. die historische Genese jeder einzelnen Kunstform ins Visier hätten nehmen sollen. So ist die Kunstferne der Eigenart zum Teil ihrem Fragment­charakter geschuldet und die Auswahl der darin angeführten Künstler mag etwas Zufälliges haben. Es ist dennoch bezeichnend, dass den größten Raum unter den erwähnten Komponisten Beethoven und Wagner einnehmen.

Es ist zumindest bemerkenswert, dass ein Komponist wie Lachenmann, welcher der Avantgarde zugerechnet wird und auch in seiner ästhetischen Selbstverortung eine progressive Position einnimmt, als eine von wenigen philosophischen Referenzen einen verbrieften Gegner der als ›formalistisch‹ gebrandmarkten Avantgarde zitiert. Nicht zuletzt wäre anzunehmen, dass der führende marxistisch-leninistische Intellektuelle und Wegbereiter des ›sozialistischen Realismus‹ Lachenmann als entschiedenem Kritiker jedes – gerade auch des realsozialistischen – Totalitarismus ein Dorn im Auge sein müsste.36 So dürfte es sich bei den von Lachenmann im eingangs zitierten Statement kritisierten »politischen Programme[n]« um Manifestationen eben jener dogmatischen Linken handeln, der Lukács aufgrund seiner Verankerung im Marxismus-Leninismus weit näher stand als etwa Adorno.37

Bei den erwähnten Parallelen, die Nonnenmann von Lachenmanns Musik­denken zur ästhetischen Position Lukács’ zieht, fällt auf, dass sich ein Teil davon ebenso gut auf Adorno zurückführen ließe. Nonnenmann widmet sich denn auch der Frage, wie es angesichts der unversöhnlichen Widersprüche zwischen den beiden Autoren möglich sei, dass Lachenmanns ästhetisches Denken sowohl von Lukács als auch von Adorno inspiriert wurde. Er findet eine Antwort in der Feststellung, dass sich die Ästhetiken beider Philosophen in wesentlichen Punkten komplementär verhalten. Offen bleibt allerdings die Frage, warum sich Lachenmann von Adorno, dessen Denkweise in seiner Musikästhetik ein so deutliches Echo findet, mehrfach distanziert, während er gleichzeitig Lukács als Referenzpunkt anführt, auch wenn die Überein­stimmungen zwischen seinem und Lukács’ Denken meiner Ansicht nach weit weniger tiefgreifend sind. Wie ist es also zu erklären, dass Lachenmann diese auf den ersten Blick erstaunliche Position bezieht?

Zu beachten ist hierbei, dass der Diskurs über ›neue Musik‹, an dem Lachenmann teilhat, vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren von der intellektuellen Autorität Adornos beherrscht wurde. Allein in der Sekundärliteratur zu Lachenmann reichen die Bezüge zu Adornos Theoriegebäude von offener Gefolgschaft38 oder der Präsenz des Philosophen in Form von ausgedehnten Zitaten39 über die Tradition dialektischen Denkens40 und die Begriffsprägung eines Kritischen Komponierens41 bis zu Topoi wie dem Materialbegriff42, der Ablehnung der Kulturindustrie43 und der negativen Bewertung des Kollektivs gegenüber dem Individuum44. Nicht zuletzt sind es auf lexikalischer Ebene neben Begriffen wie »depraviert«45, »Nicht-Identität«46 oder »bestimmte Negation«47 die häufig eigenwilligen und blumigen Formulierungen48, die eine sprachliche Nähe zu Adorno erkennen lassen. Dieses erdrückende Gewicht Adornos ist als Teilmoment einer generellen Dominanz der Kritischen Theorie in einem bedeutenden Spektrum der Studierendenbewegung um 1968 zu verstehen. Lachenmann wurde und wird also – mit gutem Grund –49 immer wieder mit Adorno in Verbindung gebracht. Gleichzeitig ist die Vormachtstellung Adornos im ›neue Musik‹-Diskurs längst nicht mehr unumstritten, sondern sieht sich vielmehr mit einer erklecklichen Zahl von Kritiker*innen konfrontiert.50 So liegt es nahe, dass ein Komponist, der der Adorno-Nachfolge zugerechnet wird, mitunter in Argumentations­not gerät. Dies macht Lachenmanns wiederholte kritisch-distanzierte Stellungnahmen gegenüber Adorno verständlich.

Umgekehrt fällt auf, dass Lachenmann Lukács dann als Gewährsperson heran­zieht, wenn er die politische Linke kritisiert (s.o.: »Ich habe den Eindruck, bis heute hat man sich allenthalben auch bei den Künstlern der ›Linken‹ um diese Lektüre gedrückt.«). Indem Lachenmann mit Lukács einen Autor ins Treffen führt, der seine Philosophie innerhalb des Marxismus-Leninismus verortet, kann er geschickt den Vorwurf des Rechtsabweichlertums parieren. Zugleich hat Lachenmann zu Recht darauf hingewiesen, dass Lukács’ späte Ästhetik generell auf ein geringes Echo stieß und ihre Kenntnis selbst unter bekennenden Marxist*innen schwach ausgeprägt ist.51 Im Bemühen um Akzeptanz innerhalb der Linken konnte Lachenmann mit Verweisen auf die Eigenart des Ästhetischen also gleich doppelt punkten, was neben den begrenzten Gemeinsamkeiten zwischen seinem und Lukács’ Musikdenken eine Motivation für diese überraschende Wahlverwandtschaft dargestellt haben mag.

Endnoten


  1. Eberhard Hüppe zufolge verbindet Lachenmanns Musikdenken die dialektisch-gesellschaftskritische Ausrichtung von Lukács und Adorno mit einem zweiten, auf Pierre Schaeffer und Karlheinz Stockhausen aufbauenden Theoriestrang, der von der konkreten Phänomenologie und empirischen Struktur des Klanges ausgeht und eher räumlich als zeitlich (historisch) orientiert ist. Hüppe, »Helmut Lachenmann«, S. 52.↩︎

  2. Nonnenmann, Der Gang durch die Klippen, S. 246.↩︎

  3. Helmut Lachenmann, »Mahler – eine Herausforderung« [1977], in: MaeE3, S. 263-269, hier S. 267.↩︎

  4. Nicht zu verwechseln mit dem Begriff der ›Welthaltigkeit‹, wie ihn z.B. Albrecht Wellmer auf Lachenmann anwendet; siehe Kapitel 4.1.↩︎

  5. György Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, 1. Halbband (= Georg Lukács Werke, Bd. 11), Neuwied am Rhein 1963, S. 477.↩︎

  6. Vgl. ebd., S. 642.↩︎

  7. Ebd., S. 478.↩︎

  8. Lachenmann, »Mahler – eine Herausforderung«, S. 267.↩︎

  9. Albrecht Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität. Zur dialektischen Widerspiegelungstheorie in der Ästhetik. Teilw. zugl.: Freiburg i.Br., Univ., Diss., 1974 (= Archiv für Musikwissenschaft Beihefte, Bd. 15), Wiesbaden 1976, S. 54, 86.↩︎

  10. Ebd., S. 49.↩︎

  11. Albrecht Riethmüller, »Musik an der Grenze der ästhetischen Mimesis bei Lukács«, in: Zur späten Ästhetik von Georg Lukács. Beiträge des Symposiums vom 25. bis 27. März 1987 in Bremen, hg. von Gerhard Pasternack, Frankfurt a.M. 1990, S. 163-173, hier S. 167.↩︎

  12. Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 83.↩︎

  13. György Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, 2. Halbband (= Georg Lukács Werke, Bd. 12), Neuwied am Rhein 1963, S. 363.↩︎

  14. Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 84.↩︎

  15. Im Typoskript heißt es dazu: »Sinnliche Wahrnehmung als Objektivation unseres Innenlebens, unser Innenleben als Abbild, Widerspiegelung, Objektivation der äußren Wirklichkeit. Musik als Abbild der Wirklichkeit, wie sie vom Menschen in seinen [sic!] Inneren, in seinen Empfindungen pp. widergespiegelt wird, insofern doppelte Widerspiegelung.« In der Leerzeile über »Musik als« wurden die Worte »Schönheit als« ergänzt. Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1976).↩︎

  16. Lachenmann, »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, S. 109.↩︎

  17. Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, 2. Halbband, S. 640-670.↩︎

  18. Helmut Lachenmann, »Über das Komponieren« [1986], in: MaeE3, S. 73-82, hier S. 73; Helmut Lachenmann, »Von Nono berührt. Für Carla Henius«, in: MaeE3, S. 295-305, hier S. 303.↩︎

  19. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 139.↩︎

  20. Ebd.↩︎

  21. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 258.↩︎

  22. Lachenmann, »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, S. 106.↩︎

  23. Siehe etwa Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 232017, S. 170; Theodor W. Adorno, »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, in: Dissonanzen; Einleitung in die Musiksoziologie (= GS, Bd. 14), Frankfurt a.M. 32017, S. 14-50, hier S. 49; Adorno, Ästhetische Theorie, S. 30.↩︎

  24. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 255.↩︎

  25. Helmut Lachenmann, »Aufgaben des Fachs Musiktheorie in der Schulmusik-Ausbildung«, in: MaeE3, S. 359-366, hier S. 361; Lachenmann, »Accanto«, S. 168; Helmut Lachenmann, »Vom Greifen und Begreifen – Versuch für Kinder« [1982], in: MaeE3, S. 162-167, hier S. 162.↩︎

  26. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 255-256.↩︎

  27. Lachenmann, »Aufgaben des Fachs Musiktheorie in der Schulmusik-Ausbildung«.↩︎

  28. Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (= GS, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1998, S. 118-119: »Die neue Musik nimmt den Widerspruch, in dem sie zur Realität steht, ins eigene Bewußtsein und in die eigene Gestalt auf. In solchem Verhalten schärft sie sich zur Erkenntnis.«↩︎

  29. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 256-257.↩︎

  30. Vgl. Andreas Hoeschen, »Lukács’ späte Ästhetik und die Selbstspiegelung ihrer Rezeption«, in: Österreichische Literatur wie sie ist? Beiträge zur Literatur des habsburgischen Kulturraumes, hg. von Joanna Jabłkowska u.a., Łódź 1995, S. 70-79, hier S. 74.↩︎

  31. Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, 1. Halbband, S. 641.↩︎

  32. Ebd., S. 642.↩︎

  33. Ebd.↩︎

  34. Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 89.: »Aber es bleibt ein Moment, das Lukács auch mit allen Mitteln der dialektischen Verknüpfung von Subjekt und Objekt nicht restlos umgehen kann: Die Widerspiegelung der subjektiven Innerlichkeit gerät latent zum subjektiven Ausdruck, den Lukács zu meiden trachtete«. Lachenmann, »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, S. 107: »Was die Kunst betrifft: Sie vermittelt solche Hoffnungen nicht in einer metaphysisch orientierten, irrationalen, sondern äußerst diesseitsbezogenen Erfahrung vom Menschen, dem es gelingt, sich auszudrücken, wie Schönberg es in unheimlicher Prägnanz als das Höchste bezeichnet hat, was der Künstler von sich verlangen müsse.«↩︎

  35. Vgl. Riethmüller, »Musik an der Grenze der ästhetischen Mimesis bei Lukács«, S. 169-170.↩︎

  36. In einem Brief an Nono vom 25. September 1961 bemängelt Lachenmann, dass Intolleranza 1960 neben Zeugnissen des Faschismus nicht auch solche des totalitären Kommunismus einschließe. In diesem Brief prangert Lachenmann auch die Erschießung von DDR-Flüchtlingen an, wie er den Bau der Berliner Mauer – im Gegensatz zu Nono – insgesamt als Unrecht begreift. Angela Ida De Benedictis und Ulrich Mosch, Alla ricerca di luce e chiarezza. L’epistolario Helmut Lachenmann-Luigi Nono (1957-1990), Firenze 2012, S. 85.↩︎

  37. Riethmüller, »Musik an der Grenze der ästhetischen Mimesis bei Lukács«, S. 163-168.↩︎

  38. Claus-Steffen Mahnkopf, »Adornos musikalische Moderne«. Für Helmut Weinland, in: NZfM 155 (1994), Heft 6, S. 43-45, passim.↩︎

  39. Helmut Lachenmann, »Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger« [1988], in: MaeE3, S. 191-204, hier S. 191; Peter Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt? Zur Musik von Helmut Lachenmann«, in: Helmut Lachenmann, hg. von Heinz-Klaus Metzger u.a. (= Musik-Konzepte, Bd. 60/61), München 1988, S. 81-108, hier S. 81-82.↩︎

  40. Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, S. 15.↩︎

  41. Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 19.↩︎

  42. Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt?«, S. 83, 95.↩︎

  43. Ebd., S. 95-108; Michael Mäckelmann, »Helmut Lachenmann, oder: ›Das neu zu rechtfertigende Schöne‹. Zum 50. Geburtstag des Komponisten«, in: NZfM 146 (1985), Heft 11, S. 21-25, passim; Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 94; Hans-Peter Jahn, »›Schöne Stellen‹. Verwundungen in Lachenmanns jüngsten Werken«, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 46), Mainz 2006, S. 59-72, hier S. 64.↩︎

  44. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 60.↩︎

  45. Ebd., S. 44-45.↩︎

  46. Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, S. 15.↩︎

  47. Franklin Cox, »Helmut Lachenmann als romantischer Hochmodernist«, in: Auf()und zuhören. 14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, hg. von Hans-Peter Jahn, Hofheim 2005, S. 67-86, hier S. 80; Matthias Schmidt, »Mozart gedenken. Erinnerung und Bild bei Helmut Lachenmann«, in: Dialoge und Resonanzen. Musikgeschichte zwischen den Kulturen – Theo Hirsbrunner zum 80. Geburtstag, hg. von Ivana Rentsch u.a., München 2011, S. 152-172, hier S. 170; Frank Sielecki, Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber, Saarbrücken 1992, S. 63.↩︎

  48. Reinhard Febel, »Zu Ein Kinderspiel und Les Consolations von Helmut Lachenmann«, in: Melos 46 (1984), Heft 2, S. 84-111, passim.↩︎

  49. Vgl. Kapitel 3.1.↩︎

  50. Zur Kritik am Theorem des Materialfortschritts vgl. Kapitel 4.2.↩︎

  51. Vgl. Georg Bollenbeck, »Eine Ästhetik, die mehr Aufheben verdient hat«, in: Zur späten Ästhetik von Georg Lukács. Beiträge des Symposiums vom 25. bis 27. März 1987 in Bremen, hg. von Gerhard Pasternack, Frankfurt a.M. 1990, S. 41-48, hier S. 41-42; Hoeschen, »Lukács’ späte Ästhetik und die Selbstspiegelung ihrer Rezeption«, S. 70-72.↩︎