2.2 Der Status von Komponist*innenkommentaren


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Dražić, Lena. 2024. Die Politik des Kritischen Komponierens. Diskursive Verflechtungen um Helmut Lachenmann. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467015. Cite


Während ein Teil der schriftlichen Äußerungen von Komponist*innen eigenständige theoretische Entwürfe enthält, handelt es sich bei anderen um Nebenerzeugnisse der kompositorischen Praxis. In jedem Fall sind die Autor*innen nicht nur Schreibende, sondern auch (und oft primär) Komponist*innen und ihr Schreiben somit nicht unabhängig von dieser Praxis zu denken. So dient das Sprechen und Schreiben von Komponist*innen selbstverständlich auch der Wahrnehmbarkeit der eigenen Kunst: In der Ökonomie der Aufmerksamkeit ist das Œuvre einer Komponist*in nichts ohne den begleitenden Diskurs, und je distinkter ihre Stimme auch in sprachlicher Hinsicht, desto größer die Chance auf eine Position im begrenzten Feld der ›neuen Musik‹ (oder gar im schmal dimensionierten Kanon der Avantgarde). Die Erwartung, dass das Theoriegebäude der Komponist*in mit ihrem Komponieren ein homogenes Ganzes ergebe, ist also grundsätzlich zu hinterfragen. Dies hieße nämlich, der Rhetorik der Komponist*innen auf den Leim zu gehen, denen erstens daran gelegen sein muss, ihre Musik ›gut zu verkaufen‹, und die zweitens den Eindruck zu erwecken suchen, ihre Werke und die dazu angestellten Überlegungen würden nahtlos ineinandergreifen, als wäre das eine die Manifestation des anderen.

Welchen Status besitzen demnach Komponist*innenkommentare? Wolfgang Gratzer bezeichnet sie als »Versuch, musikalische Bedeutungen – also mit Musik verknüpfte Vorstellungen – auf dem Weg sprachlicher Fixierung durchzusetzen oder zumindest zu stimulieren.«7 Der Text dient somit der Absicht, die Rezeption zu lenken – und die Rezeptionsgeschichte der Musik Lachenmanns ist denn auch undenkbar ohne den Erfolg dieses Unternehmens, auf den in diesem Umfang wenige andere Komponist*innen ›neuer Musik‹ verweisen können. In dieser lenkenden Wirkung liegt indessen, so Dorothea Ruthemeier, auch eine Gefahr, denn die Eigenkommentare von Komponist*innen könnten – mit einem Begriff Reinhard Oehlschlägels – auch eine »Schutzfunktion«8 erfüllen und in diesem Sinn »gerade Wesentliches verdecken.«9 Dennoch verweist Ruthemeier die Vorstellung einer voraussetzungslosen Analyse ins Reich des Illusionären, da jeder Deutung ein wenigstens rudimentäres Theoriesubstrat zugrunde liege.10

Werk und Erklärung, Komponist*innenkommentar und Autor*innenintention verlangen nach sorgfältiger Unterscheidung. Dass diese im Kontext der ›neuen Musik‹ als nahezu unmöglich erscheinen kann, zeigt die Einschätzung Rudolf Stephans, der Analysen, die vom autoritativ vorgegebenen Pfad des Werkkommentars abweichen, einen schweren Stand innerhalb der Disziplin bescheinigt:

Alles, was jenseits dieser sich entwickelnden Traditionen steht, hat es schwer, sich zu behaupten, ist wohl auch in der Regel zur Unfruchtbarkeit selbst dann verdammt, wenn es das Recht auf seiner Seite hat, d.h. etwa sich einer klareren Terminologie befleißigt, das Geschriebene korrekter wiedergibt usf.11

Dennoch gilt es sich bewusst zu machen, dass es sich bei Werk und Werkkommentar nicht nur um zwei verschiedene Medien (musikalisch versus sprachlich), sondern auch um zwei expressive Modi (kreativ versus reflexiv) und zwei Formen der Wirkungsabsicht (ästhetische Wahrnehmung provozierend oder diese Wahrnehmung lenkend) handelt.12 Gleichzeitig ist gerade die Rezeption Lachenmanns maßgeblich durch die Kommentare des Komponisten geprägt, was auch deren prominenten Stellenwert in den folgenden Ausführungen begründet.

Endnoten


  1. Wolfgang Gratzer, »Für wen komponieren Sie eigentlich? Eigene Musik zur Sprache gebracht«, in: Berührungen. Über das (Nicht)Verstehen von Neuer Musik, hg. von Jörn Peter Hiekel, Mainz 2012, S. 65-77, hier S. 65.↩︎

  2. Reinhard Oehlschlägel, Mit Haut und Haaren. Gespräche mit Mathias Spahlinger. Texte und Dokumente zur neuen Musik, Saarbrücken 2006, S. 99; vgl. Dorothea Ruthemeier, Antagonismus oder Konkurrenz? Zu zentralen Werkgruppen der 1980er Jahre von Wolfgang Rihm und Mathias Spahlinger (= Forum Musikwissenschaft, Bd. 8), Schliengen 2012, S. 105.↩︎

  3. Ruthemeier, Antagonismus oder Konkurrenz?, S. 105.↩︎

  4. Ebd.↩︎

  5. Stephan, »Über Schwierigkeiten der Bewertung und der Analyse neuester Musik«, S. 354.↩︎

  6. Wolfgang Gratzer weist in Bezug auf die Musik nochmals auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Werkkommentar und Autor*innenintention hin: So kann das Verfassen des Textes durchaus mit einer eigenen Intention verbunden sein, die etwa auf die Bewerbung der Komposition, die Überzeugung des Publikums oder die Durchsetzung eigener Interpretationsansätze gerichtet ist. Gratzer, Komponistenkommentare, S. 70.↩︎