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Innerhalb der Lachenmann-Literatur genießen die Schriften des Komponisten einen hohen Stellenwert. Hiekel bezeichnet 2006 das Gros der Texte über den Komponisten als »erweiterte Paraphrase dessen […], was er selbst in seinen Kommentaren ausführte.«24 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich bei diesen Schriften nicht um jene eines Philosophen oder Musikwissenschaftlers handelt, erscheint bemerkenswert, wie sich nicht nur die musikwissenschaftliche Community weitgehend unkritisch an den Begriffen des Autors orientiert. Dies soll das theoretische Gewicht der Schriften Lachenmanns keineswegs in Frage stellen, sehr wohl aber deren Charakter als ›Handlungsanweisungen‹ für Analyse und Rezeption.
Dass sich die Lachenmann-Literatur längst zu einem Diskurs eigenen Rechtes herausgebildet hat, beweist die Dominanz bestimmter »Formeln und Klischees«25, als deren häufigste Hiekel die Idee der »Verweigerung«26 nennt. Solche von Andreas Domann auch als ›Denkfiguren‹27 bezeichneten Topoi begreift Hiekel als »Sprechverfestigungen im Sinne der von Gustave Flaubert reflektierten ›idées reçues‹: tradierte Formeln, die aber viel zu pauschal sind und in ihrer Verselbständigung zu bequem handhabbaren Schubladen überaus heikel.«28 Gerade sie bilden jene Konstanten und Kristallisationen im Sprechen über Lachenmann, die den Diskurs erst zu einem solchen machen und als ›Topoi‹ das Hauptinteresse dieser Arbeit darstellen.
Das Sprechen über Lachenmann wird indessen auch durch den Umstand geprägt, dass der Komponist im Zuge seiner mehr als fünf Jahrzehnte währenden Laufbahn Claus-Steffen Mahnkopf zufolge »vom isolierten Insider über das Enfant terrible und den Agent provocateur zum respektierten Vertreter der musikalischen Avantgarde und danach zum Mythos seiner selbst wurde«29 – ein Vorgang, den Hüppe unter Verwendung eines Begriffs Bourdieus als »Konsekration«30 bezeichnet. Der Komponist erscheint zunehmend als öffentliche Figur, die die Wahrnehmung ihrer Musik – und ›neuer Musik‹ im Allgemeinen – insbesondere in Deutschland über Jahrzehnte nachhaltig beeinflusst: »Kaum ein lebender Komponist«, so Max Nyffeler, »hat den Diskurs der Gegenwartsmusik so sehr geprägt wie Helmut Lachenmann«31, dessen Musik vor 1989 »ein integraler Bestandteil der tiefgreifenden Auseinandersetzungen um das politische und kulturelle Selbstverständnis der alten Bundesrepublik«32 war. Dass die ›Konsekration‹ den Diskurs über einen Komponisten nicht nur in erster Instanz ermöglicht, sondern ihn ab einem gewissen Punkt auch erschweren kann, hat Mahnkopf in Bezug auf Lachenmann thematisiert:
Es gibt Phasen in der Rezeptionsgeschichte von Künstlern, in denen es fast unmöglich scheint, sich über sie sinnvoll zu äußern. Es ist der Moment der Breitenakzeptanz, der Verselbstverständlichung, der Verheiligung. Bis zu diesem Punkt mag einer der Fürsprache, der leidenschaftlichen Aufwertung, ja der übertriebenen Verehrung bedürfen […]; ist die Phase der Konsolidierung vorüber, sind Kritik, Attacke, Urteil wieder möglich. Nicht aber in dem Zeitraum dazwischen. In diesem steckt Lachenmann heute. […] Es finden sich kaum noch welche, die zuzugeben bereit wären, daß ihnen diese Musik nicht gefällt.33
Dass Lachenmann nach Nono »der nächste Kandidat«34 für die »Sakralisierung«35 sei, behindere somit eine kritische Bewertung seiner Musik. Doch ist Mahnkopf nicht der Einzige, der diese Entwicklungen einer kritischen Beobachtung unterzieht. Vielmehr hat das Sprechen über Lachenmann in seiner Gesamtheit bereits vor geraumer Zeit sein reflexives Stadium erreicht und nimmt die Auswirkungen, die Lachenmanns Entwicklung vom Nachwuchskomponisten zur unumstrittenen Berühmtheit auf dieses Sprechen hat, inzwischen ebenso ins Visier wie die Schwierigkeit, sich mit kritischer Distanz einer Zentralfigur des ›neue Musik‹-Betriebs zu nähern, in dem – wie in jedem sozialen Feld – Machtpositionen Respekt einfordern. Dieser selbstkritische Charakter bedingt auch, dass im Folgenden zahlreiche Autor*innen sowohl als Teilnehmer*innen des Diskurses als auch als dessen Kritiker*innen auftreten.
Endnoten
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Jörn Peter Hiekel, »Erfolg als Ermutigung. Helmut Lachenmann und seine Präsenz im heutigen Musikbetrieb«, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 46), Mainz 2006, S. 10-24, hier S. 22.↩︎
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Hiekel, »Lachenmann verstehen«, S. 13.↩︎
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Ebd.↩︎
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Andreas Domann, »›Wo bleibt das Negative?‹. Zur musikalischen Ästhetik Helmut Lachenmanns, Nicolaus A. Hubers und Mathias Spahlingers«, in: Archiv für Musikwissenschaft 62 (2005), Heft 3, S. 177-191, hier S. 182.↩︎
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Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 21.↩︎
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Claus-Steffen Mahnkopf, »Helmut Lachenmann: Concertini«, in: Helmut Lachenmann, hg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte, Bd. 146), München 2009, S. 46-59, hier S. 46.↩︎
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Hüppe, »Rezeption, Bilder und Strukturen«, S. 70.↩︎
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Max Nyffeler, »Sich neu erfinden, indem man sich treu bleibt«, in: NMZ 64 (2015), Heft 11, S. 3.↩︎
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Ebd.↩︎
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Claus-Steffen Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, in: Auf(‑)und zuhören. 14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, hg. von Hans-Peter Jahn, Hofheim 2005, S. 13-25, hier S. 13.↩︎
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Mahnkopf, Kritische Theorie der Musik, S. 100.↩︎
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Ebd.↩︎