2.7 Verschiebungen in den jüngeren Texten



Nach Erscheinen von Musik als existentielle Erfahrung im Jahr 1996 vergingen zehn Jahre, bevor Lachenmann unter dem Titel »Kunst in (Un)Sicherheit bringen«69 wieder einen Aufsatz publizierte, der über anlassbezogene Texte wie Festreden, Statements, Interviews oder Werkeinführungen hinausging. Seither hat Lachenmann neben den bereits erwähnten Gelegenheitsprodukten (zu denen er nun als etablierte Größe im Kunstmusik-Bereich selbstredend auch häufiger aufgefordert wird) eine Handvoll Aufsätze veröffentlicht, in denen er seine ästhetische Haltung ausführlicher darlegt.

Gegenüber den früheren Texten sind in dieser die letzten zwei Jahrzehnte umfassenden Phase von Lachenmanns Schreibtätigkeit einige Verschiebungen zu bemerken. So tritt verstärkt jener Humanismus hervor, auf den in Kapitel 5.2 aus­führlich eingegangen wird. Hier liegt jedoch auch eine Konstante begründet: Immer noch weist Lachenmann – wie Adorno – der Kunst eine aufklärerische Rolle zu, wobei er sich ab den 1990er-Jahren vom marxistischen ›Ballast‹ befreit und lediglich die in der bürgerlichen Tradition wurzelnde Vorstellung von Kunst als Verwirklichung ethischer Grundwerte bewahrt. Ebenso ist ein verstärktes Interesse an einer Definition des europäischen Kunstbegriffs zu beobachten, den er gegenüber populären und außereuropäischen Kulturprodukten abzugrenzen sucht. Bereits in Lachenmanns früheren Texten enthaltene kulturkritische Tendenzen steigern sich in den Texten der 2000er- und 2010er-Jahre teilweise bis zum Kulturpessimismus.70 Auch weiten sich in dieser Zeitspanne die philosophischen Referenzen in Richtung der asiatischen Philosophie in Gestalt der japanischen Kyōto-Schule.

Eine weitere, wesentliche Verschiebung der letzten beiden Jahrzehnte ließe sich als generelle Wendung von einer ›negativ‹ akzentuierten Ästhetik der Verweigerung traditioneller perzeptiver Kategorien hin zu ästhetischen Mitteln beschreiben, die im Jargon der Kritischen Theorie abschätzig als ›affirmativ‹ apostrophiert wurden. So berichtet Lachenmann 2003:

Im Konzerthaus gab es eine Aufführung meines Stücks Fassade und anschließend wurde Beethoven gespielt. Michael Gielen gab eine Aufführung für das Publikum, die darauf hinauslief: Wenn ihr Beethoven genießen wollt, dann sollt ihr vorher unter Lachenmann leiden. Das ist für mich fast rührend, das ist nämlich Adorno. Adorno als ungemein hellsichtiges Produkt des 19. Jahrhunderts, der den Wertverlust im 20. Jahrhundert genau diagnostiziert und das resultierende Leiden ästhetisch verklärt. Aber wir müssen aus dieser leidenden und das Leiden schon wieder zelebrierenden Situation rausfinden.71

Angesichts der Parallelen, die Lachenmanns Schreiben zur Musikphilosophie Adornos aufweist, ist diese Äußerung zumindest bemerkenswert. Neben der Lizenz zur Weiterentwicklung seiner Positionen, die Lachenmann selbstverständlich zugestanden werden muss, spricht daraus auch die Weigerung, sich auf bestimmte Standpunkte festlegen zu lassen, und damit der Wunsch, sich aus dem (von ihm selbst mit geschaffenen) Korsett zu befreien:

In der Sicht Adornos ist Schönbergs Musik eine Musik, die am Verlust jener Schönheit leidet, die Gustav Mahler noch einmal als letzter beschworen hat, um sich davon zu verabschieden. Aber Schönbergs Musik ist auf neue Weise auch heitere Musik. Das sind nicht mehr herbe Dissonanzen, sondern das sind Klänge, die den Blick freilegen auf ganz andere Parameter. Wo das ermöglicht oder auch erzwungen wird, da ist der Stachel wirksam. Der andere, der adornitische Stachel, ist für mich historisch.72

Am Beispiel von Adornos Schönberg-Interpretation stellt sich Lachenmann hier gegen eine Auffassung der musikalischen Moderne als Negativitätsästhetik, die den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung orchestriert und dem aus dem Sessel hochfahrenden Bürger die Schlechtigkeit der Welt vor Augen bzw. Ohren führt. Freilich spricht Lachenmann, indem er Schönberg und Adorno ins Treffen führt, primär von der ästhetischen Einordnung seiner eigenen Musik. Er sagt sich damit von einer Tradition – nämlich der Tradition des Traditionsbruchs – los, der er selbst (und nicht ganz unbegründet) zugerechnet wird, und reklamiert für sich ebenso wie für Schönberg eine Art unbeschwerter Schönheit und Leichtigkeit zweiter Potenz: »Ich sage gern – ein bisschen provozierend –, meine Musik sei heiter. Ich hasse die ästhetischen Philosophien, denen zufolge Musik gegen den schlechten Weltlauf mit Kratzgeräuschen hinter dem Steg protestieren müsse.«73

Eine geradlinige Entwicklung vom Vertreter einer kritischen Ästhetik zum neo-romantischen »Schöntöner«74 konterkariert Lachenmann freilich bis zuletzt, wenn er seine Musik etwa mit einem »kalte[n] Wasserguss«75 vergleicht, der das Publikum aus der »warmen Badewanne«76 des Konzertsaals auf den harten Boden der Realität zurückhole. Dergleichen Widersprüchlichkeiten in Lachenmanns Schreiben und Sprechen bedürfen indessen nicht zwingend einer Auflösung, sondern können im heterogenen Denken eines Künstlers ohne Weiteres nebeneinander bestehen.

Endnoten


  1. In: Positionen 67 (2006), S. 2-4.↩︎

  2. Vgl. Kapitel 5.3.↩︎

  3. Demmler, »Wo bleibt das Negative? Die neue Musik zwischen Verweigerung und Wohlgefallen«, S. 24.↩︎

  4. Ebd., S. 24.↩︎

  5. Lachenmann, »Paradiese auf Zeit«, S. 209.↩︎

  6. Vgl. Lachenmann, »Die Schönheit und die Schöntöner«.↩︎

  7. Zit. n.: o. V., »Eine kalte Dusche im Konzertsaal. Lachenmanns ›My Melodies‹«, in: BR-Klassik (7. Juni 2018), https://www.br-klassik.de/video/pausenbeitrag-musica-viva-lachenmann-100.html (Zugriff am 23. Oktober 2020).↩︎

  8. Ebd.↩︎