4.1 Sprachfähigkeit und Transzendenz



4 Zentrale Konzepte in Lachenmanns Texten

4.1 Sprachfähigkeit und Transzendenz

Sowohl Lukács als auch Adorno – also jene Theoretiker, die in Lachenmanns Schreiben den deutlichsten Widerhall finden – gründet seine Ästhetik auf dem Gedanken der Mimesis, wobei die damit verbundenen Konzepte bei den beiden Philosophen beträchtlich divergieren. So begreift Lukács die Mimesis als genuin künstlerische Form der Widerspiegelung, die die Dinge in ihrer Objektivität, aber auch in ihrer spezifischen Bedeutung für den Menschen zur Darstellung bringt.1 Dagegen zielt Adornos Verwendung des Begriffs auf eine Hingabe an den Gegenstand, ein Sich-Anschmiegen an das Andere in seiner Inkommensurabilität.2 Auch wenn Lachenmann den Begriff der Mimesis gar nicht und jenen der Widerspiegelung nur vereinzelt gebraucht, bildet die Bezugnahme auf eine außermusikalische Wirklichkeit eine der Grundkonstanten seiner Ästhetik.

Der Verweis auf Außermusikalisches wird in der Lachenmann-Literatur unter verschiedenen Begriffen gefasst. So versteht Albrecht Wellmer unter ›Welthaltigkeit‹3 die »Öffnung des Kunstwerks zur Welt«4, die er in Lachenmanns Denken im Begriff der ›Aura‹ impliziert sieht.5 Ähnlich ortet Max Nyffeler in Lachenmanns Komponieren eine »Sprachfähigkeit«6 der Musik, ja gar den Verweis auf ein religiös zu deutendes ›Anderes‹, das er mit dem Terminus der ›Transzendenz‹ zu fassen sucht.7

Lachenmann selbst verwendet gelegentlich den Begriff ›transzendental‹, um Momente seiner Musik zu bezeichnen, die den technischen und materialbezogenen Aspekt überschreiten.8 Auch Nonnenmann spricht in Bezug auf Lachenmann von einer »Musik mit Bildern«9, die »Verweisungscharakter«10 besitze und »transzendente Bedeutungen und Gehalte«11 zum Ausdruck bringe. Die Vorstellung eines Wirklichkeitsbezugs der Musik stellt – deren Autonomieanspruch zum Trotz – ein Fundament der Lachenmann’schen Ästhetik dar. So geht es bei der Formel von

Schönheit als ›Verweigerung von Gewohnheit‹ […] nicht um das Hören einer Musik, die den traurigen Weltlauf durch Kratzgeräusche beklagt, […] sondern um Musik, bei welcher unsere Wahrnehmung sensibel und aufmerksam wird im Grunde auf sich selbst, auf die eigene Strukturhaftigkeit, und die darüber hinaus versucht, den wahrnehmenden Geist sensibel zu machen für jene Strukturen der Wirklichkeit, auf die ein solches Komponieren reagiert12.

Lachenmanns Verweise auf den Wirklichkeitsbezug der Musik sind dabei stets dialektisch und denkbar weit von jeder naiven Hermeneutik entfernt, was sich auch daran zeigt, dass der Bezug auf die Vorstellung von Musik als Sprache negativ ausfällt. So schreibt Lachenmann 1986 in »Über das Komponieren«, »[d]er Sprachcharakter von Musik [sei] seit der Brechung der Tonalität endgültig entleert«13. Für Albrecht Wellmer besitzt Lachenmanns Musik dennoch »Sprachähnlichkeit«14, insofern sie auf Außermusikalisches verweist; grundsätzlich sei aufgrund der latenten Intermedialität aller Künste jede, selbst die ›absolute‹ Musik als sprachähnlich zu begreifen.15 Dem steht allerdings die Begriffsverwendung Lachenmanns entgegen: Als musikalische Sprache benennt er jenen Komplex an tradierten musikalischen Normen, die von der Mehrheit der Hörer*innen intuitiv verstanden werden. Dass der Begriff keine klare Trennschärfe gegenüber Lachenmanns Verwendung der Termini ›Tonalität‹ und Ästhetischer Apparat besitzt, sei hier nur nebenbei bemerkt. Der auf Musik bezogene Sprachbegriff ist somit in Lachenmanns Verwendung dem Tonalitätsbegriff unmittelbar verwandt.

Die Konventionen musikalischer Sprache gilt es für Lachenmann im Kompo­sitions­vorgang zu brechen, wie er in seiner ausführlichen Werkeinführung zum Orchesterstück Accanto schildert. Nach Kompositionen wie Klangschatten, Fassade oder Schwankungen am Rand, in denen traditionelle Klangschönheit nur gleichsam ex negativo, durch die Verweigerung der »gewohnte[n] Klangpraxis«16 und die Destruktion der Aura der Orchesterinstrumente erfahrbar werden soll, bezieht Lachenmann in Accanto erstmals wiedererkennbare Elemente der Tradition faktisch in die Komposition mit ein: Das Stück wird von einer großteils stumm ablaufenden Aufnahme von Mozarts Klarinettenkonzert begleitet, die lediglich »von Fall zu Fall in bestimmten Rhythmen eingeblendet«17 und so zur dialektischen Kontrastfolie einer Kompositionspraxis wird, die durch einen »[z]erstörerischen Umgang mit dem, was man liebt«, gekennzeichnet ist. Die Dialektik von Beschwörung und Verweigerung von unecht, da zum Fetisch gewordener Schönheit beschreibt Lachenmann unter Bezugnahme auf den Sprachbegriff. Der menschlichen Sehnsucht nach intakter Schönheit könne ein Komponist der Gegenwart

nicht anders gerecht werden, als daß er sich mit jenem doppelten Problem auseinandersetzt, von dem unsere Gesellschaft gelähmt scheint: dem Problem der Sprachlosigkeit in bezug auf unsere realen Ängste und Bedrohungen und dem der falschen Sprachfertigkeit, wie sie uns im Wust der Medien und der kulturellen Betriebsamkeit vorgegaukelt wird.18

In der »falschen Sprachfertigkeit« in Verbindung mit dem »Wust der Medien und der kulturellen Betriebsamkeit« klingt wiederum Adornos These an, wonach es Aufgabe der Kulturindustrie sei, die Menschen im Spätkapitalismus über ihre reale Unterdrückung hinwegzutäuschen.19 Für Lachenmann lässt der Missbrauch von Werken der Tradition diese als feindliche Wesen erscheinen

dort, wo sie in Anspruch genommen werden als Requisiten jenes falsch sprachfertigen Kulturbetriebs, der dazu dient, den Menschen von seinen Widersprüchen, von seinen Ängsten abzulenken, abzulenken von jenem eigenen Abgrund, den er doch fühlt.20

Zwar ist die Sehnsucht nach Schönheit Teil der »humanen Bestimmung«21, gegenwärtiges Komponieren kann sie aber weder erfüllen noch sie schlicht ignorieren:

Komponieren, um jener Sehnsucht nach einer intakten Sprache gerecht zu werden, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, muß diese bewußt machen, das heißt, muß sich jener falschen Sprachfertigkeit unmittelbar widersetzen. Und so bedeutet für mich Komponieren, den Mitteln der vertrauten Musiksprache nicht ausweichen, sondern damit sprachlos umgehen, diese Mittel aus ihrem gewohnten Sprachzusammenhang lösen und durch erneutes Einanderzuordnen ihrer Elemente Verbindungen, Zusammenhänge stiften, von denen diese Elemente neu beleuchtet und expressiv geprägt werden. Das bedeutet zerstörerisch empfundenen Umgang mit den vertrauten Sprachmitteln und versteht sich selbst doch zugleich als schöpferisch gestalteter Umgang.22

Lachenmann plädiert also für eine Kompositionspraxis, welche die Elemente der tradierten Musiksprache aus dem Zusammenhang löst und neu zusammensetzt. Einer denkbaren Lesart, wonach das Ziel darin bestünde, die überkommene Musiksprache durch eine neue zu ersetzen, widerspricht jedoch Lachenmanns Empfehlung, mit den traditionellen Mitteln »sprachlos umzugehen«. Der Begriff der Sprachlosigkeit kehrt am Ende des Textes wieder, der den Schluss von Accanto zum Gegenstand hat:

Spätestens hier hat die Musik zu jenem sprachlosen Abtastcharakter zurückgefunden, der ihrem eigenen Selbstverständnis von sprachlosem Ausdruck entspricht, einem Selbstverständnis, aus dem sie sich sozusagen hat hochschrecken lassen durch die Erinnerung an das, was sie verloren weiß und doch auf ihre Weise immer suchen wird: einen Schönheitsbegriff, in dem unsere Widersprüche, unsere Angst erkannt und bewältigt sind, weil der Ausdruck den Blick auf die reale Entfremdung nicht meidet, sondern wachsam aushält und sich durch solche Widerspiegelung der allgemeinen Lähmung und Sprachlosigkeit widersetzt.23

Das Wiederherstellen einer ungebrochenen Musiksprache kann also nicht das Ziel des Komponierens sein. Dem Wunsch danach kann nur dialektisch begegnet, die intakte Sprache nicht restituiert, sondern nur als gebrochene bewahrt werden.

Wenn das Verhältnis von Musik zur außermusikalischen Wirklichkeit auch nicht wie jenes zwischen Sprache und bezeichneten Gegenständen zu denken ist, so bildet das Vorhandensein einer solchen Beziehung dennoch eine Grundlage der Lachenmann’schen Ästhetik. Eher als in der Begrifflichkeit von Mimesis und Widerspiegelung fasst Lachenmann das Verhältnis von Musik zur außermusikalischen Wirklichkeit jedoch mit Bezug auf das musikalische Material, wobei seine Begriffsverwendung hier deutlich an Adorno angelehnt ist. Das nächste Kapitel soll veranschaulichen, wie der Materialbegriff Lachenmann dazu dient, die musikalischen Mittel als immer schon historisch und gesellschaftlich geformt zu verstehen – eine Präformierung, die nicht verleugnet, sondern in der kompositorischen Arbeit reflektiert und gebrochen, zugleich aber auch im Hegel’schen Sinn ›aufgehoben‹ werden soll. Dem Materialbegriff verwandt, ihn im Bedeutungsumfang jedoch überschreitend ist der von Lachenmann geprägte Begriff des Ästhetischen Apparats – über die im strengen Sinn musikalischen Mittel hinaus umfasst er sämtliche kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Verfestigungen, mit denen es Musikschaffende zu tun bekommen. Dabei zeigt sich, dass die reflektierende Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen Apparat im Kompositionsprozess immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft impliziert.

Endnoten


  1. Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 54, 63, 86; Gerhard Pasternack, Georg Lukács. Späte Ästhetik und Literaturtheorie (= Hochschulschriften Literaturwissenschaft, Bd. 68), Frankfurt a.M. 21986, S. 38.↩︎

  2. Vgl. auch Matteo Nanni, Auschwitz – Adorno und Nono. Philosophische und musikanalytische Untersuchungen (= Litterae, Bd. 117), Freiburg i.Br. 2004.↩︎

  3. Nicht zu verwechseln mit der Lukács’schen ›Welthaftigkeit‹, die Lukács in Die Eigenart des Ästhetischen für die Kunst reklamiert. Albrecht Wellmer, »Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik oder: Musik als existenzielle Erfahrung«, in: Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich (= Edition Neue Zeitschrift für Musik), Mainz 2006, S. 131-151, hier S. 131, passim. Vgl. Kapitel 4.1.↩︎

  4. Ebd., S. 145.↩︎

  5. Ebd., S. 137-138, 284.↩︎

  6. Max Nyffeler, »Himmel und Höhle. Transzendenz der Musik Helmut Lachenmanns«, in: Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich (= Edition Neue Zeitschrift für Musik), Mainz 2006, S. 79-89, hier S. 82.↩︎

  7. Ebd., S. 79-89.↩︎

  8. Lachenmann, MaeE3, S. 227.↩︎

  9. Rainer Nonnenmann, »›Musik mit Bildern‹. Die Entwicklung von Helmut Lachenmanns Klangkomponieren zwischen Konkretion und Transzendenz«, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hg. von Jörn Peter Hiekel u.a., Saarbrücken 2005, S. 17-43, hier S. 19, passim.↩︎

  10. Ebd., S. 19.↩︎

  11. Ebd.↩︎

  12. Lachenmann, »Hören ist wehrlos – ohne Hören«, S. 135.↩︎

  13. Lachenmann, »Über das Komponieren«, S. 78.↩︎

  14. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 284.↩︎

  15. Wellmer, »Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik oder: Musik als existenzielle Erfahrung«, S. 146.↩︎

  16. Helmut Lachenmann, »Klangschatten – mein Saitenspiel (1972)«, in: MaeE3, S. 387.↩︎

  17. Helmut Lachenmann, »Accanto. Musik für einen Soloklarinettisten mit Orchester (1975/76)«, in: MaeE3, S. 390.↩︎

  18. Lachenmann, »Accanto«, S. 168.↩︎

  19. Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 128, passim; vgl. Kapitel 3.1.↩︎

  20. Lachenmann, »Accanto«, S. 168.↩︎

  21. Ebd., S. 168.↩︎

  22. Ebd., S. 168-169.↩︎

  23. Ebd., S. 176.↩︎