5.5 Universalismus


Unterkapitel

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5.5 Universalismus
  Eurozentrismus


In »Zur Analyse Neuer Musik« übt Lachenmann harsche Kritik an den aktuellen Erscheinungsformen zeitgenössischer Kunstmusik: Durch ihre Anbiederung an ein breiteres Publikum habe sie zwar breite Akzeptanz erlangt, dafür aber ihren Wahrheitsgehalt eingebüßt. Durch Konzessionen an die Bequemlichkeit sei die ›neue Musik‹ scheinhaft geworden, sie bediene eine gesellschaftliche Sehnsucht nach Geborgenheit und trage damit zur Unwissenheit und infolgedessen zur Ruhigstellung des Publikums bei. Dem setzt Lachenmann die Vorstellung einer Musik im Dienst der Aufklärung entgegen. Ganz im Geist Adornos definiert er ›neue Musik‹ als »Niederschlag gesellschaftlichen Bewußtseins«279, dessen Aufgabe es sei, seine eigenen Existenzbedingungen zu reflektieren. Zum Abschluss richtet der Komponist einen Appell an die Musikerzieher*innen, im Sinn der von ihm verfochtenen Ästhetik »aufklärend [zu] wirken«280, und entwirft im Schlusssatz ein utopisches Bild:

Der Konzertsaal, oder was immer ihn in Zukunft ersetzen wird, nicht mehr als Ort der gesellschaftlichen Beweihräucherung oder Ausräucherung, sondern als Ort der Diskussion, der aufgeklärten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst und ihren Tabus, ist gewiß eine Utopie, aber immerhin ein Leitbild für den Musikerzieher […].281

Neben dem Topos der Kulturkritik, der in der Negativ-Folie der ›Beweihräucherung und Ausräucherung‹ zum Ausdruck kommt und mit Adornos Kulturindustrie-Hypothese in engem Zusammenhang steht, kommt in der Schilderung des Konzertsaals als eines Ortes der Begegnung der Gesellschaft mit sich selbst die Vorstellung zum Ausdruck, das Publikum des traditionellen Konzertwesens repräsentiere die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. In dieser Schilderung findet das Konzept der griechischen Agora seinen Widerhall, des Marktplatzes als eines Ortes der diskursiven Austragung öffentlicher Fragen in der griechischen Polis.282 So, wie im 19. Jahrhundert im Zeichen einer allgemeinen ›Verbürgerlichung‹ und in der Utopie von einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹ der Freien und Gleichen die Grenzen zwischen dem eigenen sozialen Umfeld und der Gesamtgesellschaft leicht verwischen konnten, so vermag auch Lachenmann über den Umstand hinwegzusehen, dass der Konzertsaal im 19. wie im 20. Jahrhundert die Domäne einer Minderheit blieb, wobei das Hegemoniestreben des historischen Bürgertums im späten 20. Jahrhundert eine Aktualisierung erfährt.

Die Gleichsetzung des ›bürgerlichen‹ Konzertsaals mit der Gesellschaft – beziehungsweise dem Musikleben – schlechthin findet sich auch in der Literatur über Lachenmann:

Zu einer Zeit, da die Studenten ihre Hörsäle und Seminare an den Universitäten gegen öffentliche Straßen und Plätze vertauschen, verlässt Lachenmann die Enge des Kammermusiksaals und die Abgeschlossenheit des vom sonstigen Musikleben isolierten Kompositionsstudios und wagt sich mit einem philharmonischen Klang­apparat in den großen Konzertsaal, um hier im Brennpunkt des öffentlichen Musik­lebens die direkte Konfrontation mit den ästhetischen Tabus, Erwartungen und Normen der Gesellschaft zu suchen.283

Lachenmanns kompositorische Praxis wird hier von Nonnenmann zu den Protesten der Studierenden um 1968 analog gesetzt. Der Autor arbeitet mit einem topologischen Parallelismus: Wie die Studierenden die geschlossenen Räume der Universitäten gegen die Weite öffentlicher Straßen und Plätze eintauschen, tauscht Lachenmann die als beengend und hermetisch geschilderten Räumlichkeiten, die mit einer quasi privaten, im kleinen Rahmen gepflegten Musikpraxis verbunden werden, gegen die Öffentlichkeit des Konzertsaals. Der in der europäischen, bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts wurzelnde Konzertsaal steht hier für die Kultur schlechthin.

Ähnlich argumentiert Iyad Mohammads Text »What has Lachenmann done with my Mozart?!« in Bezug auf Lachenmanns Musik für einen Soloklarinettisten mit Orchester Accanto:

Destroying the concerto, a work that without doubt is loved by him no less than by any of us, is a way for the composer to be reminded, to remind us and to re-explore the true meaning and value that the work has for all of us as a living work of art, as part of our common cultural tradition.284

Mohammad setzt die kanonische Bedeutung des Mozart’schen Klarinetten­konzerts, dessen Aufnahme während der Aufführung von Accanto zumeist stumm im Hintergrund mitläuft, als gegeben voraus. Diese Bedeutung hat das Werk dem Autor zufolge für ein nicht näher bestimmtes Kollektiv, das offenbar ihn selbst und die Lesenden umfasst (›us‹) und auf das insgesamt dreimal Bezug genommen wird (»loved by him no less than by any of us«, »the true meaning and value that the work has for all of us«, »as part of our common cultural tradition«). Auch wenn Mohammad, der selbst Komponist ist, aus Jordanien, also einem nicht-westlichen Land stammt, ist seine Identifikation mit dem Kanon europäischer Kunstmusik so stark, dass er die Möglichkeit, der Text könnte von Personen gelesen werden, für die die Komposition keine Relevanz besitzt, nicht in Betracht zieht.

Diese Aussagen schreiben sich in das Narrativ des Universalismus ein, wie er in der jüngeren Vergangenheit insbesondere seitens der Postcolonial Studies einer Kritik unterzogen wurde. Durch Erweiterung seiner ursprünglich theologischen Bedeutung bezeichnet der Terminus in der Moralphilosophie seit dem 20. Jahrhundert »diejenigen Positionen […], deren Argumente sich nicht in ihrer Gültigkeit auf bestimmte Personen, Traditionen oder Kulturen beschränken und die in diesem Sinne auf allgemeingültigen Grundlagen stehen.«285 In Anlehnung an die kritische Bedeutungsnuance der Postcolonial Studies verstehe ich unter Univer­salismus das Absolutsetzen der europäischen Musikkultur bürgerlicher Prägung, die somit als überzeitlich und überregional erscheint. Dieser Universalismus ist der Kultur bürgerlicher Prägung nicht äußerlich, er gehört vielmehr zu ihren konstitutiven Merkmalen. Insofern er ein Partikularinteresse als Allgemeininteresse deklariert, ist er als ideologisch zu verstehen.

Ein zentrales Element des universalistischen Musikdiskurses bildet die Annahme, westliche Kunstmusik sei ›für alle da‹. So heißt es in einem Statement Lachenmanns anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums der Donaueschinger Musiktage: »Hier ist es für jeden, der Musik liebt, möglich, zugleich technisch fasziniert und emotional tief berührt zu werden«286. Es ist das Verdienst der soziologischen Forschung zu sozialer Ungleichheit, auf die vielfältigen Barrieren hingewiesen zu haben, die den Genuss von Hochkultur erschweren – seien sie finanzieller, zeitlicher, geografischer, informations- und bildungstechnischer oder im weitesten Sinn kultu­reller Natur –, und dabei insbesondere deren symbolische Dimension in den Blick genommen zu haben.287 Wenn, wie dies in dem Text geschieht, westliche ›neue Musik‹ als Neu-(Er‑)Findung der Musik schlechthin gedeutet wird, entfällt die Notwendigkeit einer kulturellen oder sozialen Verortung, die die Vorstellung von ›neuer Musik‹ als ›Kultur für alle‹ konterkarieren würde. Allerdings ist Lachenmanns Aussage auch damit zu erklären, dass das Weiterbestehen der Donaueschinger Musiktage durch eine angekündigte Subventionskürzung im Jahr 1996 akut bedroht war. Die Betonung der internationalen Relevanz des Festivals, das gewissermaßen zum inoffiziellen globalen Zentrum der ›neuen Musik‹ erklärt wird, dient in diesem Zusammenhang also auch dem praktischen Zweck, sich für das Bestehen des Festivals stark zu machen.

Der europäischen Musikgeschichte eingeschrieben ist die Konstruktion des (männlichen) Künstler-Genies, das in einem heroischen Kampf gegen inner- wie außermusikalische Widrigkeiten innovative Musik von universeller Gültigkeit schafft. Dieser Topos wurde in erster Linie anhand der Figur Ludwig van Beethovens entwickelt.288 Dass auch zeitgenössischen Komponisten (und Komponistinnen?) anzu­raten sei, sich nach dem Beethoven’schen Modell zu richten, kann ebenfalls dem universalistischen Narrativ zugerechnet werden. So heißt es in Lachenmanns Aufsatz »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«:

Werktitel wie Die Kunst der Fuge […] im Schaffen Bachs ebenso wie die Emanzipation der Sinfonie […] des per Fußtritt an die frische Luft beförderten Mozart, von den kompositorischen Eigenmächtigkeiten eines Beethoven und von all denen zu schweigen, die bis heute nach seinem Beispiel ihrem Auftrag als autonome Künstler treu blieben, bedeuteten immer zugleich Absagen an die Verwalt- und Verwertbarkeit durch eine auf angenehme Unterhaltung, billige Repräsentation oder kollektive Manipulation und demagogische Gleichschaltung bzw. auf kommerziellen Nutzen gerichtete Gesellschaft.289

Das Vorbild Beethoven bettet Lachenmann in eine Erzählung avancierter Musik, die mit Autonomie und Originalität einhergeht. Dieses Narrativ wurde im Übrigen nicht unwesentlich von Adorno geprägt, der auch Lachenmanns pessimistische Sicht auf die spätmoderne Gesellschaft teilt, die von den Verblendungsmechanismen der Kulturindustrie geprägt sei.290 Mithin handelt es sich bei der Feststellung ästhetischer Allgemeingültigkeit um einen Topos, der dem Narrativ der Aufklärung zuzurechnen ist, dessen Grundprinzip universeller moralischer, ästhetischer und erkenntnis­theoretischer Normen durch die kulturwissenschaftliche Annahme der Kontingenz in Frage gestellt wird.291 Festzuhalten bleibt, dass das universalistische Narrativ die Grenzen zwischen Textgattungen überschreitet, indem es sowohl in der Essayistik des schaffenden Künstlers Helmut Lachenmann als auch in den Analysen von Musikwissenschaftler*innen zu finden ist.

Eurozentrismus

Nach der Jahrtausendwende kommt in Lachenmanns Texten vermehrt die Frage der Begegnung geografisch unterschiedlich verorteter Kulturen zur Sprache – dies geschieht zu einem Zeitpunkt, als das Thema auch im Alltagsdiskurs an Bedeutung gewinnt. Am ausführlichsten wird der Gegenstand in dem 2006 erschienenen Essay »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«292 behandelt. Aus dem Text spricht eine reflektierte Haltung bezüglich kultureller Transferprozesse im Musikbereich. So macht der Autor mehrfach Vorbehalte geltend, was die Aneignung außereuropäischer Musikformen durch westliche Komponist*innen betrifft:

Und trotzdem misstraue ich dem Begriff des Interkulturellen in der Kunst […]. Im Bereich der Musik handelt es sich insofern weniger um eine Begegnung als um eine Einbahnstraße?? East meets west? – Eher doch: West eats meat! Frischfleisch für eine ausgelaugte Kultur!293

Problematisiert wird auch die Überflutung der Welt mit westlicher Musikkultur, »womit sie unseren Globus zugleich beglückt und vergiftet und andere Kulturen verdrängt, sie bestenfalls ins Museale abdrängt, wenn nicht gar quasi in aller Unschuld zerstört bzw. zum Aussterben bringt«294.

Zugleich dient der Verweis auf ›große‹ Namen der europäischen Musik­geschichte aber auch dazu, die Praxis kultureller Aneignung zu legitimieren. So heißt es etwa: »[H]ier bin ich zusammen mit vielen komponierenden Zeitgenossen in solidester historischer Gesellschaft«, worauf eine Aufzählung ›bedeutender‹ Werke folgt, die auf Anleihen bei außereuropäischen Musikkulturen basieren. In einem anderen Text aus demselben Jahr spricht Lachenmann von »aufgeklärte[r] Zu­wendung«295, die Komponist*innen seit dem 19. Jahrhundert fremden Kulturen entgegengebracht hätten. Der Umstand, dass »[b]edeutende Werke […] so ent­standen«296 sind, scheint die Praxis der kulturellen Aneignung retrospektiv hinreichend zu legitimieren.

Das Hauptanliegen von »›East meets West?‹« besteht in der Abgrenzung des europäischen Kunstbegriffs gegenüber einem Kunstbegriff, der sich auf außer­europäische Musikkulturen anwenden lässt: Ziel ist es demnach, sich

über die Substanz dessen zu verständigen […], was die Bestimmungen von ›Kunst‹ objektiv kennzeichnet – jenes Begriffs, den wir im Rahmen einer aus der jüdisch-christlich-griechischen Tradition der Alten Welt hervorgegangenen Kultur in unserer Zivilisation vorgefunden und dem im neuzeitlich-bürgerlichen Rahmen die Kunstschaffenden sich verschrieben haben.297

Dieser Kunstbegriff soll nun nicht nur von den Angeboten der Populärkultur unterschieden werden, sondern auch von »jenem Kunstbegriff, wie wir ihn außerhalb unserer ästhetischen Praxis auf die Schönheiten und Kostbarkeiten in außereuropäischen Kulturen anwenden.«298 Lachenmann stellt also zwei Kunstbegriffe einander gegenüber, die sich in einem dichotomischen Verhältnis zueinander befinden, wobei auf Differenzen zwischen unterschiedlichen Kulturen außerhalb Europas nur marginal eingegangen wird.299 Zwar haben für Lachenmann beide Konzepte von Kunst ihren Ausgangspunkt im Ritual, das in ursprünglichen Kulturen der gemeinschaftlichen Beschwörung übermenschlicher Gewalten gedient habe.300 Indessen habe sich die Kunst europäischer Prägung im Verlauf ihrer geschichtlichen Entfaltung von diesem magischen Urgrund gelöst, wobei das Ich »seine eigenen Erkenntnistriebkräfte – sozusagen eigenmächtig – entdeckte und mobilisierte.«301 Im Zuge dessen habe der europäische Mensch nicht nur die Naturgesetze, sondern auch sein Gewissen und seine Verantwortung entdeckt:

In den Apfel der Erkenntnis musste jedenfalls immer wieder hineingebissen werden: und so entdeckte die aus ihrer Unmündigkeit ausbrechende Seele ihre eigenen, autarken Erkenntniskräfte, und der in diesem Sinne aufgeweckte Mensch entdeckte so nicht zuletzt sein ästhetisches Sensorium, und nicht zuletzt die Kunst: als stolzes Handwerk, ebenso wie als autonomes Geisteswerk, entdeckte seine Freiheit, seine menschliche Würde, auch seine Phantasie, seine Geistfähigkeit, entdeckte seine Entdeckungsfähigkeit, seine Vernunft – entdeckte allerdings auch seine Unvernunft, seine Unfreiheit, seine Triebhaftigkeit, seine Menschlichkeit und seine Un-menschlichkeit, seine Abgründigkeit, vulgo: seine »Struktur«.302

Diese Schilderung deckt sich mit dem Narrativ der Aufklärung, deren Schattenseiten wie Kolonialismus und Rassismus freilich unerwähnt bleiben. Konstitutiver Bestandteil des geschilderten Prozesses ist die Fähigkeit zur permanenten Grenzüberschreitung, die ebenfalls als europäisches Spezifikum erscheint: »Die Geschichte der euro­päischen Kunst ist nicht zuletzt die Geschichte der ständigen Horizont­über­schreitungen im Zuge bzw. im Wettlauf mit der fortschreitenden Entdeckung des menschlichen Wissens von sich selbst«303.

Während die europäische Kultur im Verlauf dieser andauernden Überschreitung ihre archaischen Wurzeln hinter sich gelassen habe, ist von »weiterhin eher statisch verharrenden außereuropäischen Kulturen«304 die Rede. Diese würden im Bereich des Magischen verhaftet bleiben und seien daher mit früheren Formen der europäischen Musik vergleichbar. So ließe »die einstimmige Musik des frühen Mittelalters sich durchaus vergleichen mit all jenen Formen musikalischer Rituale, wie sie in anderen, außerchristlichen Kulturen praktiziert wurden«305. Die Analogsetzung außer­europäischer kultureller Praktiken mit früheren Stadien der eigenen Kultur, durch die der Blick über die Grenzen Europas als Blick in die eigene Vergangenheit anmutet, ist ein zentraler Topos des Eurozentrismus, der auch in der deutschen Musik­geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zum Tragen kam.306 Der Eurozentrismus kann als spezifische Spielart des Universalismus verstanden werden. Kultur­kritiker*innen wie Edward Said definieren ihn als Einstellung, die Europa bzw. den ›Westen‹ als Zentrum der Wahrnehmung setzt, während der ›Rest‹ der Welt als peripher erscheint.307 Von den Postcolonial Studies wird das Hochhalten vermeintlich europäischer Werte und Institutionen wie Christentum, Fortschritt oder Modernität als eurozentrisch verstanden.308

Im Diskurs des Kritischen Komponierens äußert sich Eurozentrismus eben­so wie Universalismus als Verallgemeinerung der ›bürgerlichen‹ Kultur, deren Gültig­keitsanspruch sich in diesem Fall jedoch nicht auf alle sozialen Klassen innerhalb Europas, sondern auf alle Gegenden der Welt erstreckt. So hebt Lachenmann an der europäischen Kultur positiv hervor, diese würde nicht im magischen Stadium verharren, sondern dieses durch ›Brechung‹ sublimieren:

Brechung bedeutet Eingriff in seine standardisierten, expressive Geborgenheit versprechenden und in diesem Sinne abrufbaren Funktionen […] und erinnert, gemahnt so an das, was wir als darin waltenden Willen spüren und »Geist« nennen.309

Der erwähnte ›Geist‹ kommt – wie die zitierte ›Geistfähigkeit‹ – ebenfalls nur im europäischen Zusammenhang zur Sprache. 2014 bekräftigt Lachenmann: »Dieser entwickelte Reichtum, das ist Nachricht vom Geist. Von der frühen Mehrstimmigkeit bis zu John Cage: einen solchen Öffnungsprozess findet man in keiner anderen Kultur.«310 Brechung durch Zuwendung des Geistes – so Lachenmann in »Kunst in (Un)Sicherheit bringen« – gälte es nicht zuletzt auch an der Beschäftigung mit den ›magischen‹ Elementen außereuropäischer Musik zu erproben:

Ihre magische Energie muß nicht einfach benutzt, sondern vom schaffenden Geist geistvoll verwandelt werden, und das heißt allerdings auch: Sie muß per Eingriff in ihre vorgegebene Struktur gebrochen werden.311

Die Unterscheidung eines europäischen von einem außereuropäischen Kunstbegriff in Form einer polaren Gegenüberstellung kann zunächst als wertneutral erscheinen, wird doch beiden Konzepten Legitimität zugesprochen. Diese Gleichwertigkeit wird jedoch relativiert durch die ehrfürchtige Beschreibung der europäischen Tradition, die mit Werten wie Verantwortung, Geist, Mut, Freiheit und Sensibilisierung der Sinne in Zusammenhang gebracht wird, wohingegen die problematische Kehrseite des europäischen Überschreitungs- und Expansionsdenkens unterbelichtet bleibt. Der emphatisch verstandene europäische Kunstbegriff erscheint in Lachenmanns Schriften generell als zentrale Kategorie und normativer Richtwert, an dem sich die ›neue Musik‹ zu orientieren habe. Da in »›East meets West?‹« unter der Bezeichnung ›Kunst‹ häufig auch dann die europäische Kunsttradition verstanden wird, wenn dies nicht eigens spezifiziert wird, bleibt überdies unklar, ob für Lachenmann ›Kunst‹ überhaupt eine geeignete Bezeichnung für außereuropäische Traditionen darstellt. Doch selbst, wenn nicht-westlichen Phänomenen ein Kunstcharakter konzediert werden sollte, kann aufgrund des Übergewichts, das der positiven Kategorisierung der europäischen Kunsttradition zukommt, schwerlich von einer Gleichwertigkeit gesprochen werden.

Endnoten


  1. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 33.↩︎

  2. Ebd., S. 34.↩︎

  3. Ebd.↩︎

  4. Thomas Gil, »Die lokalen Kontexte der universalistischen Vernunft«, in: Aufklärung zwischen Nationalkultur und Universalismus, hg. von Brunhilde Wehinger (= Aufklärung und Moderne, Bd. 10), Laatzen 2007, S. 17-26, hier S. 19-20.↩︎

  5. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 53.↩︎

  6. Iyad Mohammad, »What Has Lachenmann Done with my Mozart?! A Note on Whatever Is Recorded on the Tape in Accanto«, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hg. von Dan Albertson (= Contemporary Music Review, Bd. 23/3-4), Abingdon 2004, S. 145-147, hier S. 146.↩︎

  7. O. V., »Universalismus« [2001], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11, hg. von Joachim Ritter, Basel, Stuttgart, Sp. 204-207, hier Sp. 206.↩︎

  8. Lachenmann, Die Musik ist tot … aber die Kreativität lebt, S. 61↩︎

  9. Aufbauend auf Bourdieus Studie Die feinen Unterschiede vgl.: Jürgen Gerhards, »Die kulturell dominierende Klasse in Europa. Eine vergleichende Analyse der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union im Anschluss an die Theorie von Pierre Bourdieu«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 60 (2008), Heft 4, S. 723-748; Ineke Nagel, »Cultural Participation Between the Ages of 14 and 24. Intergenerational Transmission or Cultural Mobility?«, in: European Sociological Review 26 (2010), Heft 5, S. 541-556.↩︎

  10. Rainer Cadenbach, Katalog zur Ausstellung »Mythos Beethoven« des Vereins Beethoven-Haus Bonn, Laaber 1986, S. 99-103; Nanny Drechsler, »Prometheische Phantasien – (m)ein Versuch über Beethoven«, in: Maßstab Beethoven? Komponistinnen im Schatten des Geniekults, hg. von Bettina Brand u.a., München 2001, S. 9-23, hier S. 9; Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, S. 309-310.↩︎

  11. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«, S. 92-93.↩︎

  12. Zu Adornos Bild Beethovens als Ahnherren der musikalischen Moderne vgl. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 59; Theodor W. Adorno, »Zum Verständnis Schönbergs«, in: Musikalische Schriften V (= GS, Bd. 18), Frankfurt a.M. 1984, S. 428-445, hier S. 435.↩︎

  13. Andreas Reckwitz, »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm«, in: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 22008, S. 15-45, hier S. 15-17.↩︎

  14. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«.↩︎

  15. Ebd., S. 86.↩︎

  16. Ebd., S. 94.↩︎

  17. Lachenmann, Kunst in (Un)Sicherheit bringen, S. 3.↩︎

  18. Ebd.↩︎

  19. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«, S. 88.↩︎

  20. Ebd., S. 88.↩︎

  21. So ist die Rede von der Pauschalisierung, die mit dem Begriff des ›Außereuropäischen‹ einhergeht, wie auch von der »für außen stehende Beobachter oft kaum durchschaubaren Differenzierungspraxis« etwa der indischen Musik (Lachenmann, Kunst in (Un)Sicherheit bringen, S. 89), dennoch überwiegt die vereinheitlichende Gegenüberstellung von europäischer vs. außereuropäischer Kunst.↩︎

  22. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«, S. 89.↩︎

  23. Ebd., S. 91.↩︎

  24. Ebd., S. 92.↩︎

  25. Ebd.↩︎

  26. Ebd., S. 87-88.↩︎

  27. Ebd., S. 91.↩︎

  28. Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, S. 217: »Fremde Kulturen (›Völker‹) wurden damals als gleichzeitig existierende Vorstufen der einen Idee von Kultur (Zivilisation) betrachtet.«↩︎

  29. Stuart Hall, »The West and the Rest. Discourse and Power«, in: Modernity. An Introduction to Modern Societies, hg. von Stuart Hall, Malden, Mass. 2011, S. 184-227.↩︎

  30. Pramod K. Nayar, »Eurocentrism«, in: The Postcolonial Studies Dictionary, hg. von Pramod K. Nayar, Chichester 2015, S. 73-74.↩︎

  31. Lachenmann, »›East meets West? West eats meat‹ … oder das Crescendo des Bolero«, S. 96.↩︎

  32. Struck-Schloen, »›Ernst machen: das kann ja heiter werden!‹«, S. 22.↩︎

  33. Lachenmann, Kunst in (Un)Sicherheit bringen, S. 3.↩︎