FWF-Forschungsprojekt
Heinrich Schenker, Tagebücher 1918–1925: kommentierte
Edition
Laufzeit: November 2007 – Oktober 2010
Projektleitung: Univ.Prof. Dr. Martin Eybl
Projektmitarbeiter: Dr. Marko Deisinger
EXPOSÉ
In den vergangenen rund 70 Jahren seit dem Tod des österreichischen
Musiktheoretikers Heinrich Schenker (1868–1935) fanden dessen Schriften
im anglo-amerikanischen Raum insgesamt größere Resonanz als
in Kontinentaleuropa. Während Schenker selbst Emigration oder Deportation
erspart blieben, emigrierten viele seiner jüdischen Schüler
auf der Flucht vor den Nazis in die USA und lösten dort als Lehrer
und Autoren eine intensive Auseinandersetzung mit Schenkers komplexer
Theorie aus. Nur wenige Schüler konnten in Europa bleiben. Schenkers
vielfach sehr polemischer Tonfall und seine dezidiert antimoderne Haltung
spielten in Amerika mangels der Kenntnisse der originalen Schriften kaum
eine Rolle; im deutschsprachigen Raum dagegen begründeten sie eine
Skepsis gegenüber Schenker, die eine Beschäftigung mit dessen
analytischer Methode in vielen Fällen erschwerte. Erst in den letzten
10 bis 20 Jahren wird in Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien,
Spanien, Polen und Tschechien ein zunehmendes Interesse an Schenkers Musiktheorie
erkennbar, das sich wohl einer intensiveren Rezeption der amerikanischen
music theory verdankt.
Aufgrund ihrer widersprüchlichen Momente erweist sich Schenkers Biographie
als sehr lohnendes Forschungsthema. In künstlerischer Hinsicht entschieden
konservativ, pflegte er doch Kontakte zu prononcierten Vertretern der
Wiener Moderne; er arbeitete mit Hermann Bahr zusammen, unterstützte
öffentlich Gustav Mahler und ließ von Arnold Schönberg
eines seiner Klavierwerke für Orchester einrichten. Er war ein jüdischer
Deutschnationaler und ein assimilierter Jude, ohne je ernsthaft eine Konversion
ins Auge zu fassen. Dazu kommt, dass Schenker ein breites Tätigkeitsfeld
entfaltete; er war Komponist, Dirigent, Pianist, Musiktheoretiker, Klavier-
und Theorielehrer, Zeitungskritiker und Herausgeber. Daraus ergab sich
ein großes Netz an beruflichen Beziehungen; mit allein rund 400
Personen hat Schenker korrespondiert.
Schenkers Tagebücher umfassen auf ca. 4000 Manuskriptseiten die Jahre
1896 bis 1935 und bilden derart eine sehr umfang- wie aufschlussreiche
Quelle. Sie befinden sich heute in der Oswald Jonas Memorial Collection,
University of California, Riverside, Special Collection Library. Die Tagebücher
geben Einblick in Schenkers Privatleben, seine intellektuelle Entwicklung,
die Kontakte zu Verlegern, finanzielle Angelegenheiten, Beziehungen zu
Wiener Institutionen, persönliche Treffen, Konzert- und Theaterbesuche,
seine Ansichten über bildende Kunst, Literatur und Ästhetik
und seine politischen Anschauungen. Die gesamte Korrespondenz ist, oft
mit inhaltlicher Zusammenfassung, in diesen Aufzeichnungen dokumentiert.
Hellmut Federhofer wertete für seine grundlegende Biographie Schenkers
(1985) die Tagebücher und Briefe erstmals aus. Sein Buch lieferte
beinahe alle biographischen Informationen über Schenker, die in der
Forschungsliteratur seither kursieren. Eigenständige Studien aufgrund
der Tagebücher oder aufgrund anderer biographischer Quellen wurden
danach erst ansatzweise unternommen (siehe etwa Drabkin 1984/85, Fink
2003, Rothfarb 2005, Bent 2005, Hailey 2006, Siegel 2006). Trotz der unbestreitbaren
Meriten, die Federhofers Schrift als Pioniertat auszeichnen, konnte der
Autor von den Jahren 1918 bis 1925 wegen des überblicksartigen Charakters
seines Buches natürlich nur ein kursorisches Bild zeichnen. Durch
eine detaillierte Aufarbeitung und Auswertung der Tagebücher dieser
Jahre werden diese Ansätze weitergeführt und entscheidend vertieft.
Dabei werden die bisher zugänglichen und im Schenker Correspondence
Project veröffentlichten Briefe eine wichtige Ergänzung darstellen,
wie umgekehrt die Tagebücher Detailinformationen zu den Briefen bieten
werden. Die Unterrichtsbücher, die im selben Projekt online veröffentlicht
werden, bilden auf ähnliche Weise eine komplementäre Quelle
zu den Tagebüchern.
Aus mehreren Gründen erscheint der Zeitraum zwischen 1918 und 1925
besonders ergiebig.
(1) In diese Zeit fällt die einschneidendste Veränderung in
der Entwicklung von Schenkers Musiktheorie; er etabliert die beiden für
seine reife Theorie zentralen Begriffe Urlinie und Ursatz. Und der Begriff
der Urlinie selbst wird um 1925 noch einmal neu gefasst (Urlinie I und
Urlinie II, siehe Eybl 1995).
(2) 1920 erscheint mit der Erläuterungsausgabe zu Beethovens Klaviersonate
op. 101 die letzte dieser Serie; 1922 erscheint der zweite Halbband Kontrapunkt.
Zugleich entdeckt Schenker mit der Zeitschrift Der Tonwille (1921–1924)
ein neues Medium für sich, das ihm nun die Publikation von Analysen
einzelner Werke erlaubt. Nach dem Vorbild der Fackel von Karl Kraus schreibt
Schenker alle Texte selbst. 1925 setzt er mit einem weiteren Periodikum
seine Publikationstätigkeit fort (Das Meisterwerk in der Musik. Ein
Jahrbuch).
(3) Im Zusammenhang mit dem Tonwillen gerät Schenker in eine heftige
und tiefgreifende Krise mit seinem langjährigen Verlagspartner Universal
Edition (siehe Bent/Drabkin 2005). Schenker denkt sogar daran, seinen
Verleger zu klagen.
(4) Schenker zeigt nach dem Ersten Weltkrieg eine starke Bereitschaft
zur öffentlichen weltanschaulichen Positionierung. Der mit politischen
Invektiven gegen die Westmächte gespickte Aufsatz „Von der
Sendung des deutschen Genies“ eröffnet 1921 programmatisch
die Serie der Tonwille-Hefte.
(5) Die politische Neuorientierung Österreichs nach dem Zusammenbruch
der Habsburger Monarchie und die umstrittenen Friedensverträge von
Versailles und St. Germain schaffen eine prekäre politische Krisensituation.
Schenkers Tagebücher versprechen exemplarisch Einblicke in die Bewältigungsstrategien
dieser Krisenerfahrung durch einen jüdischen Intellektuellen.
Heinrich Schenker präsentiert sich in seinen Tagebüchern in
vierfacher Funktion: als Musiktheoretiker, als Beobachter des kulturellen
und politischen Lebens, als Akteur im kulturellen Leben Wiens sowie als
deutschsprachiger Jude. Alle vier Aspekte werden im laufenden Projekt
durch neue Kenntnisse bereichert. Es verschafft derart
- Einsicht in Schenkers private Lebensumstände in einer wirtschaftlich
schwierigen Phase;
- detaillierte Einblicke in die Entwicklung von Schenkers Theorie;
- neue und nähere Informationen zu seinen Schülern;
- Daten zu den Hintergründen und zur Entwicklung seiner ästhetischen
und politischen Ansichten;
- Informationen, die Unklarheiten in Schenkers Korrespondenz und
bei seinen Unterrichtsbüchern ausräumen können;
- Detailinformationen zum Wiener Musikleben;
- Einblick in das kulturelle Netzwerk, dessen integrativer Teil Schenker
war, sowie Aufschluss darüber, inwieweit dieses Netzwerk jüdisch
geprägt war.
Großangelegte Editionsprojekte von Tagebüchern vergleichbarer
Persönlichkeiten derselben Zeit (Arthur Schnitzler 1981–2000,
Hermann Bahr 1994–) belegen die Relevanz des Projektes; biographische
(Lindgren 1993, Pinkert 2005), sprachanalytische (Braunwarth 2001) und
kulturwissenschaftliche Studien (Plener 1999, Moser 2002, Riedmann 2002,
Zand 2003) dokumentieren ein breites Feld möglicher weiter führender
Auswertung.
Das Projekt steht in engem Zusammenhang mit dem von Prof.em. Dr. Ian Bent
(Cambridge UK, vormals Columbia University, New York City) betreuten,
durch Beiträge von 16 internationalen Wissenschaftlern getragenen
Schenker Correspondence Project, im dessen Rahmen die Tagebücher
1918–1925 online erscheinen. Text und Kommentar werden kontinuierlich
auf www.schenkerdocumentsonline.org publiziert (erstmals voraussichtlich März/April 2008). Die Publikation
erfolgt zweisprachig in Deutsch und in Englisch. Die veröffentlichten
Texte der Briefe und der Tagebücher werden durch Links eng miteinander
verknüpft. Darüber hinaus ist geplant, weitere Ergebnisse der
Auswertungen in Vorträgen bei internationalen Tagungen sowie in Artikeln
in Fachzeitschriften zu veröffentlichen.
Martin Eybl beschäftigt sich seit zwei
Jahrzehnten mit Heinrich Schenker (Diplomarbeit zu den frühen Schriften,
Universität Wien 1988; weiters u.a. Eybl 1995, Eybl/Fink 2006), mit
dessen Musiktheorie, insbesondere aber auch mit der zugrunde liegenden
Ästhetik und Weltanschauung sowie mit Schenkers historischer Position
und seiner Wirkung. Bei seiner langjährigen Mitarbeit am SFB „Moderne.
Wien und Zentraleuropa um 1900“, Universität Graz (1994–2002)
hatte er ausgiebig Gelegenheit, aktuelle kulturwissenschaftliche Fragestellungen
im interdisziplinären Austausch zu reflektieren und auf den eigenen
Gegenstandsbereich anzuwenden. Resultat dieser Arbeit bildet ein Band
zu Schönbergs Skandalkonzerten von 1907/08, in dem die aufeinander
prallenden ästhetischen Positionen ausführlich beleuchtet werden.
Marko Deisinger verkörpert eine für
das Projekt ideale Verbindung von philologischer Erfahrung, zeithistorischen
Forschungen und einer großen Vertrautheit mit Schenkers Analysemethode.
In der Beschäftigung mit Quellen des 17. Jahrhunderts konnte er wertvolle
paläographische Erfahrungen sammeln. In seiner Diplomarbeit beschäftigte
er sich mit dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik im Wien der Zwischenkriegszeit.
Und Schenkers Musiktheorie lernte er in einem intensiven zweijährigen
Lehrgang an der Musikuniversität Wien kennen.
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LITERATUR:
Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte [1885–1908], ed. Moritz Csáky, 5 vol. [by 2006] (Wien: Böhlau,
1994–2003)
Ian D. Bent, “‘That Bright New Light’: Schenker,
Universal Edition, and the Origins of the Erläuterung Series, 1901–1910,”
in: Journal of the American Musicological Society 58/1 (2005),
69–138
Ian Bent / William Drabkin, General Preface, in: Heinrich
Schenker, Der Tonwille: pamphlets in witness of the immutable laws
of music: offered to a new generation of youth, vol. 2, ed. by William
Drabkin, transl. by Ian Bent (Oxford: Oxford University Press, 2005),
V–XVI
Peter Michael Braunwarth, Worte sind alles. Beobachtungen am
Vokabular von Arthur Schnitzlers Tagebuch sowie ein paradigmatischer Einzelstellen-Kommentar
zum Tagebuchjahr 1925 (PhD. Diss.: Universität Wien, 2001)
William Drabkin, „Felix-Eberhard von Cube and the North-German
Tradition of Schenkerism“, Proceedings of the Royal Musical Association 111 (1984/85), 180–207
Martin Eybl, Ideologie und Methode. Zum ideengeschichtlichen
Kontext von Schenkers Musiktheorie (Tutzing: H. Schneider, 1995)
Martin Eybl – Evelyn Fink-Mennel (ed.), Schenker-Traditionen.
Eine Wiener Schule der Musiktheorie und ihre internationale Verbreitung
/ A Viennese School of Music Theory and Its International Dissemination (Wien: Böhlau, 2006)
Hellmut Federhofer, Heinrich Schenker. Nach Tagebüchern
und Briefen in der Oswald Jonas Memorial Collection, University of California,
Riverside (Hildesheim [u.a.]: Olms, 1985)
Evelyn Fink (ed.), Rebell und Visionär. Heinrich Schenker
in Wien. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 3. Juli 2003 an der
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Wien:
Lafite, 2003)
Christopher Hailey, „Anbruch and Tonwille: The Verlagspolitik
of Universal Edition“, in: Martin Eybl / Evelyn Fink-Mennel (eds.), Schenker-Traditionen. Eine Wiener Schule der Musiktheorie und ihre
internationale Verbreitung / A Viennese School of Music Theory and Its
International Dissemination (Wien: Böhlau, 2006), 59–67
Irène Lindgren, Arthur Schnitzler im Lichte seiner Briefe
und Tagebücher (Heidelberg: Winter, 1993)
Lottelis Moser, Das Tagebuch – ein Archiv sozialer Praktiken.
Intertextualitätsstrategien in den Tagebüchern Hermann Bahrs (PhD. Diss.: Universität Graz, 2002)
Ernst-Ullrich Pinkert, „Georg Brandes und Arthur Schnitzler.
Eine Freundschaft im Spiegel von Schnitzlers ,Tagebuch‘“,
in: Jan T. Schlosser (ed.), Kulturelle und interkulturelle Dialoge.
Festschrift für Klaus Bohnen zum 65. Geburtstag (Kopenhagen:
Fink, 2005), 297–311
Peter Plener, Arthur Schnitzlers Tagebuch (1879 – 1931).
Funktionen, Strukturen, Räume (PhD. Diss.: Universität Wien,
1999)
Bettina Riedmann, „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen (Tübingen:
Niemeyer, 2002)
Lee Rothfarb, „August Halm on Body and Spirit in Music,“
in: 19th Century Music XXIX/2 (Fall 2005), 121–41
Hedi Siegel, „The Pictures and Words of an Artist (“von
einem Künstler”): Heinrich Schenker’s Fünf Urlinie-Tafeln“,
in: Martin Eybl / Evelyn Fink-Mennel (eds.), Schenker-Traditionen.
Eine Wiener Schule der Musiktheorie und ihre internationale Verbreitung
/ A Viennese School of Music Theory and Its International Dissemination (Wien: Böhlau, 2006), 203–219
Arthur Schnitzler, Tagebuch [1879–1931], ed. Peter
Michael Braunwarth, 10 vol. (Wien: Verlag der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften, 1981–2000)
Helene Zand, Identität und Gedächtnis. Die Ausdifferenzierung
von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs (Tübingen: Francke, 2003)
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