Bericht von Prof. Erben über seine Forschungsreise nach Taiwan

 

CELLO UND TANZ

Bericht über meine Zusammenarbeit

 mit der chinesischen Tänzerin Fang-yi SHEU

 und ihrem Choreographen Bulareyaung

 

Ausgangsüberlegungen

 

Was hat mich, einen Cellisten, bewogen, den Kontakt mit der visuellen Welt des Ausdruckstanzes zu suchen? Die einfache Antwort, Musik in Bewegung zu transformieren, sie durch Bewegung auf eine andere, vielleicht höhere Ebene zu projizieren, reicht nicht aus und war nicht allein mein Beweggrund. Was war es?

 

Kunst hat mit Können und Kunstfertigkeit zu tun. Zugleich birgt sie aber auch das Element des Ungreifbaren, Visionären, Genialen, das jeder Mensch in sich trägt. Der schöpferische Künstler erlebt diesen Aspekt bewusst, verleiht ihm durch seine Kunstfertigkeit Gestalt: sei es als Maler, Bildhauer, Architekt, Schriftsteller oder Komponist. Wie aber gelingt es dem schöpferischen Künstler, sein Publikum in das Reich des Imaginären, des Unterbewussten zu entführen, es dort zu berühren, wo schlummernde Sensibilitäten auf Entdeckung warten?

 

„Der kleine Prinz“ von Antoine de St. Exupéry ist hierfür ein gutes Beispiel. Vordergründig eine einfache Erzählung. Der  kleine Titelheld, der „von einem anderen Planeten“  kommt, schafft es jedoch, uns  die Dimensionen von Leben, Liebe und Tod so nahe zu bringen, weit über das mit Worten Beschreibbare hinaus.

 

Auch die Pointe eines guten Witzes kann heran gezogen werden. Sie liegt im Nichtausgesprochenen. Wir werden überrascht und sind schutzlos der lächerlichen Seite des Lebens und den Abgründen menschlicher Existenz ausgeliefert. Eine Kunst, wie die des Märchens. Hier wird überall eine Unmittelbarkeit des Erlebens erreicht, die mit direkten „Beschreibungen“ nicht zu schaffen wäre.

 

Das Zauberhafte in der Musik

 

Seit meiner Kindheit hat mich die Faszination der schier unendlichen Möglichkeiten der Puppe, und  hier insbesondere der Marionettenpuppe, nicht losgelassen. Sie hat  die Gabe, sich über die Begrenztheit der Materie hinweg zu heben und uns in eine Welt der schöpferischen Vorstellungskraft hinein zu versetzen.

 

Von hier ist der Bogen zum reinen Ausdruckstanz schnell gespannt. Er entspringt ganz offensichtlich dem Bedürfnis des Menschen, die Fesseln der Materie, der körperlichen Schwere und Schwerkraft zu sprengen und Imaginäres darzustellen. Mit höchster Energie arbeitet der Tänzer an der Beweglichkeit seines Körpers, um im Beschauer Assoziationen zu wecken, die ihn weit über seine materielle Welt des Alltags hinaus heben.

 

Wie verhält es sich mit der Musik? Unsere abendländische klassische Musik trägt sehr viele intellektuelle, geistige Elemente in sich. Und gerade deshalb ist es für mich – vor allem dann auf dem Podium -  das dieser Musik inne wohnende Märchenhafte, das Zauberhafte, was mich stimuliert, den Zuhörer in meine Welt der schöpferischen Phantasie zu entführen. Sein Bewusstsein soll dafür geöffnet werden, die Botschaft des Komponisten unmittelbar zu empfangen.

 

Erlebnis Taiwan

 

So ist es vielleicht kein Zufall, dass ich während meiner Konzertreisen im fernen Osten in Taiwan Menschen traf, die mir diese Welt des Ausdrucktanzes näher brachten.

 

Durch meinen ehemaligen Schüler, Chang Chen-Chiéh, der inzwischen im Musikleben Taiwans eine wichtige Rolle spielt, lernte ich eine kunstsinnige Architektin kennen, die mir in großzügiger Gastfreundschaft das Haus ihrer Familie öffnete. Sie bot mir die Möglichkeit, Einblick in die chinesische Familientradition, in die chinesische Lebensart zu gewinnen. Wenn diese Familie auch, wie manche anderen Familien Taiwans, einen Teil Ihrer Erziehung in Amerika genossen hatte, so ist sie dennoch tief in der patriarchalischen Tradition ihres Landes verwurzelt. Man gewinnt den Eindruck, dass die große alte Kultur Chinas hier in Taiwan ungebrochen fortlebt.

 

Allein mein Besuch im Artmuseum von Taipei unter der kundigen Führung meiner Gastgeberin Sasa Ho war ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Auch durfte ich die traditionelle chinesische Medizin kennen lernen und bekam ein Gefühl für die jahrtausend alte Erfahrung, auf der sie aufbaut. So war ich gut eingestimmt auf einen Kontakt mit der taiwanesischen Primaballerina Fang-yi Sheu und ihrem Choreographen Bulareyaung .

 

Tanz in Taiwan

 

Fang-yi hat den Großteil ihrer Ausbildung in New York in der berühmten Dance Company Martha Graham’s genossen. Auch heute noch unternimmt  sie als Solistin Tourneen mit dieser  Company. Sie gilt als eine der wenigen, die Martha Grahams Visionen realisieren.

Inzwischen hat sie ihre eigene Company „LaFa“ in Taipei gegründet. (www.lafa.com.tw)

 

Taiwan ist eine Hochburg des Ausdruckstanzes. Es scheint mir, dass Chinesen ein besonderes Talent zur Beherrschung ihres Körpers haben. Zwei Fähigkeiten scheinen kreativ aufeinander zu treffen: die Bereitschaft zu äußerster Disziplin und die Fähigkeit, den eigenen Körper hart zu trainieren. Etwas Anderes und Entscheidendes kommt aber nach meiner Erkenntnis noch hin zu. Chinesische Tänzer verfügen über eine große Intuition und leben sehr ausgeprägt in einer Welt der Sinneswahrnehmungen, die stark visuell ausgerichtet ist, mit einem sensiblen Gefühl für den Raum, in  dem sie sich bewegen und den sie ausfüllen sollen.

 

Cello und Tanz

 

All diese Elemente sprechen mich sehr stark an und so entstand im Laufe meiner Gespräche mit Fang-Yi die Idee einer Zusammenarbeit - einer Zusammenarbeit, die meinen musikalischen Wahrnehmungsbereich erweitern und der Tänzerin eine neue Dimension ihrer Kunst vermitteln könnte. Gleichsam ein Nebeneinander und eine  Überlagerung von Musik und Tanz.

 

Dabei war von vornherein klar, dass der Tanz nicht eine bloße Illustration der Musik sein sollte. Musik und Tanz sollten jeweils ihren eigenen Kriterien folgen, ihre Geschichte in der eigenen Sprache erzählen, damit sie einander inspirieren können. Erst auf diese Weise wird das Spektrum an Assoziationen im Zuhörer und Betrachter bereichert. Denn selbstverständlich braucht ein solcher Dialog das Publikum. Erst dann wird er wirklich lebendig.

 

In unserem speziellen Fall kommt noch eine reizvolle Komponente hinzu: Die Musik, um die es gehen sollte, kommt aus dem mitteleuropäischen Raum.  Fang-yi und ihr Choreograph Bulareyaung kommen aus einem gänzlich anderen Kulturkreis, und Musik ist nicht ihre vorrangige Ausdruckssprache. Sie empfangen Musik eher intuitiv denn verstandesmäßig, was wiederum für mich eine Quelle der Inspiration darstellte.

 

Vom ersten Moment unserer gemeinsamen Arbeit an war ich fasziniert zu spüren, wie die Musik, die ich mache, bei meiner Partnerin zu Bewegung wird. Musik hat ja schon an sich einen stark körperlichen Aspekt. Mehr und mehr bin überzeugt, dass Musik in ihren Uranfängen aus dem Bedürfnis des Menschen kommt, sich körperlich auszudrücken.

Beim Sänger ist es offensichtlich, sein Instrument ist der Körper. Beim Trommler ist es das körperliche Bedürfnis nach Rhythmus. Das Streichinstrument stellt letztlich eine Verlängerung des Körpers dar: Bei der linken Hand, die die Töne greift, hat die Art, wie ich die Saite berühre, entscheidenden Einfluss auf die Klangfarbe und dadurch den Ausdruck, den ich erreichen möchte. Bei der Bogenführung ist es leichter  erkennbar: Die Bewegung des rechten Armes, die ihrerseits körperlicher Ausdruck ist, setzt sich unmittelbar in den Bogen fort, der dem Ton Atem und Gestalt gibt.

 

„Annäherungsversuche“

 

Bei meinem zweiten Aufenthalt in Taipei, der durch das Forschungsstipendium des Taiwanesischen Kultusministeriums ermöglicht wurde, arbeiteten wir konkret an einem Programm, das Teil einer Produktion von LaFa  im nächsten Jahr werden soll.

 

Es war ein schwieriger Prozess, da die beiden Kulturen zunächst zu sehr voneinander entfernt schienen. Es musste ein Weg zu einer Kommunikation gefunden werden, die nicht primär verbal und über den Verstand ging. Dazu muss gesagt werden, dass die Verständigung natürlich in Englisch stattfand, nicht unser beider Muttersprache. Das heißt, ein und derselbe Satz kann in beiden Kulturen sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Die chinesische Sprache ist eine Sprache der bildhaften Vorstellung, unsere Sprache ist eine logisch konstruierte. Unsere verbale Kommunikation konnte uns also nur sehr begrenzt helfen. Das war vielleicht unser Glück!

 

So regte ich an, dass wir zu Beginn der nächsten Session, ohne viel zu reden, unser „warm up“ gemeinsam machen. Ich spielte meine täglichen Tonleiterübungen und Fang-yi absolvierte währenddessen ihre Vorübungen. Es stellte sich bereits ein intuitiver Kontakt ein. Wir beide waren in diesem Moment mit dem Gleichen beschäftigt: Aus der momentanen Befindlichkeit heraus mit der handwerklichen Materie umzugehen und die Sensibilität dafür zu steigern. Zugleich erfasste man den jeweils Anderen durch Beobachtung und lernte den Prozess kennen, wie er bzw. sie vorgeht, um das eigene „Instrumentarium“ – hier Cello, dort Körper – zu verfeinern und zu vervollkommnen.

 

Als nächstes beschlossen wir, alles „Erlernte“ zu vergessen und zu improvisieren. Ich spielte eine Musik, wie sie sich mir spontan ergab und Fang-yi überließ sich ihrem Körper.

Für mich ergab sich ein gänzlich unerwarteter Aspekt: Mir wurde plötzlich klar, dass allein der Klang des Cellos – losgelöst von jeder organisierten Musik – ein Medium sein kann, mit der Tänzerin zu kommunizieren. Beim anschließenden Gespräch ergab sich, dass dies für meine Partner viel selbstverständlicher war, als für mich, der – durch unsere westliche Zivilisation geprägt – hinter allen Dingen immer sofort einen intellektuellen „Sinn“ sucht.

 

 

 

 

Arbeitsprozess

 

Allmählich kristallisierte sich nun eine Abfolge von relativ kurzen Sequenzen heraus, jeweils etwa 2 Minuten Länge, die dann einen Programmpunkt ergeben werden. Wir werden tatsächlich mit einem „Warmup-Stück“ beginnen – diesmal freilich organisiert. Dann wird eine sehr virtuose Caprice für Cello solo folgen. Bulareyaung ist fasziniert vom Spiel meiner Finger und regt Fang-yi an, ähnliches zu versuchen. So werde ich Zeuge von einer Pantomimenvorstellung ihrer Hände, die mich an Marcel Marceau erinnert. Darauf folgt eine Improvisation, bei der ich zunächst nur von „Klängen“ ausgehe, um dann jedoch allmählich in meine Musik überzugehen – es kommen vielleicht Anklänge an Gustav Mahler und Franz Schubert, aber nur gleichsam als vorüber fliegende Visionen, die dann wieder in einem Klang enden, von jeder gedanklichen Assoziation losgelöst.

 

Interessant dabei ist der Prozess, wie eine Choreographie entstehen kann. Bulareyaung hört sich meine Musik mehrere Male an. Es entstehen in ihm Bilder. Er lässt sich dabei auch von meinen Körperbewegungen inspirieren. Er integriert die Bewegungen meines Körpers, insbesondere meiner Hände, in seine Bilder. Wenn diese ihm nun greifbar genug erscheinen, teilt er sie der Tänzerin mit. Sie probiert, diese Bilder in Bewegung umzusetzen. Jetzt vestehe ich auch, weshalb ihm vor meiner Ankunft in Taiwan eine CD nicht genügte und er auf einem audiovisuellen Dokument bestand.

 

Er ist immer mit der Kamera dabei, modifiziert seine Vorstellungen, kritisiert Fang-yi.

Ich bewundere dabei ihre Geduld, sich als erwachsener Mensch wie eine Schülerin behandeln zu lassen. Offensichtlich jedoch respektiert sie ihn und vertraut ihm. Beim anschließenden neuen Versuch merkt man, wie sie sich die Anregungen des Choreographen sofort zu Eigen machen kann und ihre eigene Persönlichkeit ausdrückt.

 

Immer war und bin ich fasziniert von Fang-yi’s Professionalität in ihrer Kunst. Ohne jede Äußerlichkeit ist sie immer höchst konzentriert, ihre innere Wahrheit zu finden. Ich erlebte einen künstlerischen Prozess auf höchstem Niveau, mit größter  Intensität.

 

Wenn das choreographische Konzept letztlich überzeugt und allen Zweifeln standhält, wird es mit der Kamera fest gehalten, ergänzt durch schriftliche Notizen. Fang-yi wird es mehrfach memorieren.

 

Kann Tanz ein Musikinstrument „ersetzen“?

 

Ein konkretes Ziel unserer diesmaligen Arbeitsphase war eine Videoaufnahme von Messiaen’s „Louange à l’éternitè de Jesu“ aus dem „Quatuor  pour la fin du temps“. Dieses Stück ist für Cello und Klavier geschrieben, wobei das Klavier von Beginn bis Schluss eine sehr langsame aber stetige Abfolge von Akkorden zu spielen hat (die vorgeschriebene Metronomangabe ist 40 Schläge pro Minute!). Sie symbolisiert einerseits den unabänderlichen Ablauf der Zeit und versetzt durch seine Harmonien den Zuhörer gleichzeitig in einen mystischen Zustand. Das Cello trägt dazu bei, indem es einen unendlich langsamen Melodiebogen zieht, vom Ausdruck menschlichen Leidens bis hin zur Verklärung alles Menschlichen in der Einheit mit Gott. Die dynamische Spannweite bewegt sich zwischen ppp  und größtmöglichem fff. Eine wahrhaft visionäre  Musik.

 

Wir machten nun das Experiment, in diesem Stück die Rolle des Klaviers durch Tanz zu ersetzen. Vielleicht ist dieser Versuch unstatthaft, aus urheberrechtlichen und aus künstlerischen Gründen. Ich bedauere es sehr, mit Olivier Messiaen darüber nicht mehr diskutieren zu können!

 

Wie schon gesagt, hat der Komponist dem Klavier zwei wichtige Komponenten zugeteilt:

 

1. Den Rhythmus, als Einteilung und Hörbarmachen von Zeit

Der Tanz macht die Organisation der Zeit sichtbar durch Einteilung des Raumes.

Die Tänzerin tanzt auf einem höher gestellten Plateau, das in seiner   räumlichen                

Beschränkung die Begrenztheit der irdischen Zeit darstellt.  Das Symbol  Zeit wird hier wie dort erlebbar.

 

2. Die Harmonien, als Wechsel von Spannung und Entspannung, die Dramaturgie der   Emotionen wird „erzeugt“

Emotionen werden durch szenische Lichtgestaltung erzeugt. Auch hier ist es

ein und dasselbe Symbol, nur wird der Symbolträger ausgetauscht. Wer in die Welt des szenischen Tanzes eintaucht, erkennt sehr rasch die überwältigende Dimension, die uns diese visuelle – um nicht zu sagen visionäre   Kunstgattung „Licht“ eröffnet.

 

Am Ende des Stückes wird die Tänzerin vom Plateau herab steigen und in die Unendlichkeit des Lichtes eintreten.

 

Verschmelzung zweier Kunstgattungen

 

Dieses Experiment steht hier stellvertretend für die Grundidee unserer Zusammenarbeit. Ausgehend von einer Erweiterung des jeweils eigenen Vorstellungsbereiches soll es zeigen, dass ein und derselbe Symbolgehalt auf verschiedenen  Ebenen gleichermaßen erkennbar gemacht werden kann. Die Konfrontation der jeweiligen Ebenen miteinander zwingen die Ausführenden, die Kriterien, um die es geht, klar zu definieren. Das heißt, den dramaturgischen Aufbau der Musik einerseits und des Tanzes anderseits deutlich zu machen. Die Verschmelzung beider Medien – ohne dass einer von beiden die Identität des eigenen Mediums aufgibt – kostet Energie und Konzentration und stimuliert den Betrachter und Zuhörer sich seinerseits zu konzentrieren – letztlich auf sich selbst und in sich hineinzuhören.

 

So wird, wenn es gelingt, erlebbar gemacht, dass alle Kunstgattungen letztlich ein großes Ganzes darstellen, in denen jeder Mensch – ob Kunst ausübender oder  empfangender – seinen Platz finden kann.

 

Dank

 

Ich darf an dieser Stelle dem Ministry of Education of Republic of China on Taiwan  meinen besonderen Dank aussprechen für die großzügige Förderung meines letzten Arbeitsaufenthaltes in Taiwan.

 

Wien, Oktober 2009

Valentin Erben