Nachruf auf Michael Radulescu

Wir trauern um Michael Radulescu

Rektorin Ulrike Sych gibt namens der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bekannt, dass Michael Radulescu am 23. Dezember 2023 im Alter von 80 Jahren verstorben ist. Seine Familie verliert einen geliebten Ehemann, Vater und Schwiegervater; die Musikwelt eine international geachtete, vielseitige Künstlerpersönlichkeit, die für mehrere Generationen – als Organist, Komponist, Dirigent, Forscher und besonders als Pädagoge – zur prägenden Leitfigur wurde.

1943 in Bukarest als Sohn eines rumänischen Vaters und einer bayerischen Mutter geboren, genoss Michael Radulescu den ersten Musikunterricht im Elternhaus. Ab 1956 nahm er Orgelunterricht in Kronstadt/Brasov beim aus Schlesien stammenden Kirchenmusikdirektor Victor Bickerich; 1957-64 absolvierte er am Konservatorium Bukarest ein Kompositionsstudium beim prominenten Reger-Schüler Mihail Jora.

Radulescus Kindheit und Jugend wurden von dem wohl repressivsten unter den stalinistischen Regimes der Nachkriegszeit überschattet. 1964/65 besuchte er die Kurse in Orgel, Cembalo und Dirigieren an der Sommerakademie Mozarteum in Salzburg: Dies bot ihm die Gelegenheit, nach anhaltender politischer Verfolgung in den Westen zu übersiedeln. Wohnsitz zunächst in Passau, 1965-68 Studien an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien – Orgel bei Anton Heiller, Dirigieren bei Hans Swarowsky. 1966 deutscher Staatsbürger, 1974 österreichisch-deutsche Doppelstaatsbürgerschaft.

1968-2008 leitete er am heutigen Institut für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik der mdw eine Orgelklasse, die Studierende aus aller Welt an sich zog; seine über Jahrzehnte alljährlich veranstalteten Meisterkurse (etwa an den Orgelakademien in Vaduz, Innsbruck, Cremona, Porrentruy, Leipzig…) wurden zum inspirierenden Treffpunkt für Organistinnen und Organisten jeglicher Herkunft und Altersklassen. Das geistige Erbe Anton Heillers antretend, stellte auch Radulescu Interpretation und Deutung der Orgelwerke Bachs in den Mittelpunkt seiner Lehre und prägte einen aufführungspraktisch wie theologisch fundierten „Wiener Bach-Stil“, der weltweit ausstrahlte. Viele seiner Schülerinnen und Schüler sind heute ihrerseits pädagogisch tätig.

Seit seinem Organistendebüt im Bukarester Athenäum (1959) übte Michael Radulescu eine internationale Konzerttätigkeit als Organist, zunächst auch als Cembalist, seit 1983 ebenso als Dirigent aus. Als Herausgeber alter und ältester Orgelmusik trug er zur allgemeinen Repertoireerweiterung bei, als Interpret engagierte er sich zugleich u. a. für das Orgelschaffen Regers, Hindemiths, Schönbergs und Messiaens. Bach blieb dennoch stets im Zentrum: Die von ihm geleiteten Aufführungen der Passionen, Kantaten und Oratorien (etwa bei der Bach-Akademie in Porrentruy/CH und beim Progetto Bach in Vicenza/I) setzten neue Maßstäbe; 2004 schloss er an der Ahrend-Orgel der ehem. Jesuitenkirche in Porrentruy eine („ohne technische Manipulation“ durchgeführte) Gesamteinspielung der Orgelwerke Bachs ab.

Als Komponist wusste Radulescu Gegensätzliches zu vereinen – etwa mittelalterliche Denkanschauung mit zeitgenössischem Klangempfinden, Weberns Zellendenken mit Messiaens Modalität. Seine Musik fußt auf strengen, archaisch anmutenden Gesetzmäßigkeiten; gleichzeitig setzt sie teils mystisch-beschwörende, teils überwältigende Klangräume frei, die ihren Weg in die Transzendenz suchen und auch finden. Ob für oder mit Orgel, Soloinstrument oder Kammerensemble, unbegleitete Solostimme oder Chor mit Orchester: Radulescus Kompositionen – ähnlich wie jene seines geistigen Vorbilds Bach – sind Ausdruck eines erneuerten pythagoräischen Denkens, welches abstrakte Sphärenharmonien sinnlich erfahrbar macht. 

Michael Radulescu war Träger zahlreicher Preise; für das musikalische Lebenswerk wurde ihm 2007 der Würdigungspreis des österreichischen Ministeriums für Unterricht und Kunst verliehen. Durch sein hohes künstlerisches Ethos wurde er für viele zur maßgeblichen, mitunter unbequemen Instanz; durch seine menschliche Wärme und polyglotte Gewandtheit für noch mehr zur liebenswerten, lebensbegleitenden Bezugsperson. Mag der Faden nun gerissen sein – er und sein Vermächtnis werden in unser aller Taten und Erinnerungen weiterleben.

Text: Pier Damiano Peretti