Kunsträume-Interview: Gelebte Inklusion


Warum Musik jedem zusteht und wie man mit ihr Grenzen überwindet, erklärt Peter Röbke, Leiter des Instituts für Musikpädagogik


Peter RöbkeFoto: Peter Röbke, Leiter des Instituts für Musikpädagogik ©Stefan Polzer

Herr Röbke, die Kunsträume widmen sich in dieser Ausgabe der Musikvermittlung im sozialen Bereich. Was kann Musik Ihrer Meinung nach bewirken?

Musik ist eine Kulturtechnik des Menschen, eine Art sich zu äußern. Sie hat etwas damit zu tun, wie wir unseren Körper und den Kontakt zu anderen Menschen erleben. Sie ist die Art mit der Welt umzugehen, bevor die Wortsprache ins Spiel kommt. Es gibt keine menschliche Kultur, in der diese Art des sich Äußerns keine wesentliche Rolle spielt. Sie ist entwicklungsgeschichtlich die älteste und in unserer Gestaltung der Beziehung zu anderen Menschen vermutlich die intensivste. Wir wären völlig andere Wesen, wenn es die Musik nicht gäbe. Also muss Musik eigentlich gar nichts bewirken, es reicht allemal, dass es sie gibt.

Deswegen eignet sich Musik auch besonders gut für den sozialen Bereich?

Ja, denn Musik ist ein Medium, mit dem man über die Kulturen hinweg ins Gespräch oder besser gesagt ins Musizieren kommen kann. Man muss sich nicht an Strukturen der Wortsprache halten, denn es geht um ein Erleben von musikalischen Vorgängen. Trotz verschiedener Tonsysteme, die im Übrigen einen ähnlichen Kern vorweisen, haben wir in den grundlegenden musikalischen Parametern ein ähnliches Erleben, was vermutlich auch biologisch fundiert ist. Dazu ist das Musizieren eine urmenschliche Äußerungsform – sie steht daher jedem zu.


Wer sind die Menschen die von diesen Programmen profitieren?

Unterricht All Stars InclusiveWir tasten uns vor – die erste Zielgruppe die in Augenschein kam, waren Menschen mit Beeinträchtigungen. Bei physischen Beeinträchtigungen, wie etwa einer Sehbehinderung, gibt es nicht die geringste Schwierigkeit Musik zu machen, trotzdem braucht es für die Musikvermittlung andere Techniken. Es würde beispielsweise wenig Sinn machen, einen solchen Chor zu dirigieren. Man muss die Leute anders inspirieren, damit sie als Chor agieren. Man führt das Ensemble nicht nur durch die sichtbaren Gesten, sondern durch Aura, Ausstrahlung und Energiefluss. Menschen, die hingegen kognitiv beeinträchtig sind, beispielsweise mit Trisomie 21, musizieren auf der Bühne in Punkto kognitiver Kontrolle deutlich anders. Musik ist eine Affektkunst, und es ist sehr spannend Menschen auf der Bühne zu beobachten, die mit Affekten viel freier umgehen. Diese Art Musik zu machen ist viel präsenter, sehr bewegend und inspirierend.

Weiters sind wir damit konfrontiert, dass die Lebenserwartung kontinuierlich steigt. Nicht selten geht ein hohes Alter mit geistigen Beeinträchtigungen wie Alzheimer einher. Dazu gibt es sehr interessante Projekte, die gezeigt haben, dass die Fähigkeit zu musizieren erhalten bleibt, auch wenn die Fähigkeit zur Sprache bereits verschwunden ist. Der berühmte Psychologe Oliver Sacks schreibt: "Musik ist das letzte das uns bleibt." Dazu gibt es berührende Beispiele. Menschen mit einer ausgeprägten Demenz, die zu einem Gespräch nicht mehr in der Lage sind, beginnen in dem Moment, in dem man eine Melodie anstimmt, Lieder zu singen. Das ist eine sehr sinnvolle Tätigkeit und vor allem eine, die den dementen Menschen als Persönlichkeit erleben lässt.


Das sind also die Hauptzielgruppen, mit denen Sie arbeiten?

Die Dinge sind ungeheuer im Fluss. An den Grenzen Europas toben entsetzliche Kriege und wir sind mit Flüchtlingen konfrontiert. Manche Leute haben diesbezüglich allerdings völlig falsche Vorstellungen im Kopf. Die Leute, die beispielsweise aus Syrien kommen, sind größtenteils die gebildeten Menschen, aus der Mittel- und Oberschicht, also jene, die sich eine Flucht überhaupt leisten konnten. Es kommen z.B. Ärzte, Menschen, die mit Kunst und Kultur auf vertrautem Fuße stehen, und umso schrecklicher ist es, wenn man diese Leute zur absoluten Untätigkeit verurteilt und sie als unwillkommen betrachtet. Deswegen bin ich sehr glücklich, dass über die hmdw das Projekt Zusammenklänge realisiert werden konnte. Wir arbeiten mit Menschen, die diese Flucht hinter sich gebracht haben, die teilweise traumatisiert sind. Wir versuchen Musik als Medium einzusetzen, um in Kontakt zu kommen und auch um einen Sinn und Lebensinhalt zu stiften.


Wie entwickelt sich dieser Bereich?

Das Thema "Musik und Flüchtlinge" ist derzeit ganz stark. Die musikpädagogische Welt ist viel heterogener geworden, wir haben Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit unterschiedlichem Leistungsvermögen. Die Menschen sind nicht gleich, aber sie haben dasselbe Recht auf Musik. Hier kommt der Begriff Inklusion ins Spiel. Menschen müssen nicht integriert werden – es muss einfach für jeden das passende Angebot entwickeln werden. Das gilt für den Menschen mit Migrationshintergrund genauso wie für jenen in einer Flüchtlingssituation, für Menschen in hohem Lebensalter oder jene mit einer geistigen Beeinträchtigung.

Auf der anderen Seite gibt es auch hochbegabte Menschen, die ebenfalls besondere Bedürfnisse haben. Wir haben ein Pre-College, Hochbegabten-Klassen, das Young-Masters-Programm, bei denen wir auch genau hinsehen. Was sind das für vierzehnjährige, die auf diesem extrem hohen Niveau spielen? Die an den Grenzen ihrer psychischen und physischen Leistungsfähigkeit balancieren? Das sind eben auch Menschen "mit besonderen Bedürfnissen"! Der junge Musiker, der auf diesem hohen Niveau spielt, hat viele Ressourcen aus denen er schöpfen kann, man muss ihn aber auch extrem unterstützen. Es gibt eine große Menge an Wunderkindern, die irgendwann abgestürzt sind, ihr Talent nicht wirklich entfalten konnten, weil sie an ihren Grenzen gescheitert sind.

Konzert mit FluechtlingenFoto: Studierende der mdw geben ein gemeinsames Konzert mit Flüchtlingskindern aus dem Integrationshaus
©Stefan Polzer


Welche Herausforderungen birgt die Musikvermittlung im sozialen Bereich? Wie werden die Studierenden darauf vorbereitet?

Da muss ich Ihnen eine paradoxe Antwort geben. Die größte Herausforderung liegt darin, dass es gar keine spezielle ist: Kann ich erst mit einem Kind, das Autismus hat, arbeiten, wenn ich umfassend über alle Ausprägungen der Beeinträchtigung informiert bin? Muss ich, wenn ich mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis arbeite, ganz genau über deren kulturelle Herkunft Bescheid wissen? Darf ich erst mit Flüchtlingen Musik machen, wenn ich ein Experte für posttraumatische Belastungsstörungen bin?

Wir haben festgestellt, dass Basisinformationen natürlich wertvoll sind. Es ist allerdings bei jedem Schüler interessant und wichtig, etwas über seine Hintergründe zu erfahren. Im Kern geht es darum, jedem, der vor mir steht, individuell gerecht zu werden. Jeder ist unterschiedlich und einzigartig. Durch die Arbeit mit behinderten SchülerInnen lernen die Studierenden daher etwas Grundlegendes für ihre pädagogische Tätigkeit: Wie baue ich unter besonderen Bedingungen eine Beziehung auf? Dadurch lernen sie, genau hinzusehen.

Bei den sogenannten "normalen" SchülerInnen kann man es sich vielleicht eine Zeitlang erlauben zu ignorieren, dass jeder und jede von ihnen besonders ist, und nach "Schema F" unterrichten, die laufen nicht sofort weg, sondern haben vielleicht nach einem halben Jahr keine Lust mehr, weil man ihre individuellen Bedürfnisse nicht berücksichtigt hat. Wenn ich einen Schüler mit Autismus unterrichte, ist die Stunde nach fünf Minuten zu Ende, wenn ich nicht die besonderen Bedingungen realisiere. Ich brauche keine Fülle an Spezialkompetenzen, aber ich brauche eine grundsätzliche pädagogische Haltung, die davon ausgeht, dass jeder Mensch, der vor mir steht, einzigartig ist. Von der Haltung aus, unterstützt durch bestimmte ergänzende Informationen, kann ich dem Kind aus Afrika gerecht werden, dem Erwachsenen in hohem Alter, dem Schüler mit Down-Syndrom, dem Schüler mit einem besonderen Talent. Alle sind sie in ihrer Art einzigartig. Und das ist der große Nutzen der inklusiven Arbeit für die gesamte pädagogische Pädagogik: Man schult diesen auf's Individuelle gerichteten Blick.


Können Sie einen kurzen Überblick über die Wirkungsbereiche der mdw geben?

Ich bin teilweise selbst überrascht, wenn mir eine Kollegin erzählt, dass sie an einer Volksschule Lehrpraxis mit behinderten Kindern gemacht hat. Es passiert so viel. Es gibt Trommel-Angebote für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, wir haben Projekte wie Das andere Podium, bei denen beispielsweise in der „Gruft“ Musik und Theater für Obdachlose gemacht wird. Es ist sehr viel unterwegs, weil sich zwei Diskurse berühren.

Die KonzertfächlerInnen wissen, sie brauchen neues Publikum, und die MusikpädagogInnen wissen, sie müssen sich neue Zielgruppen erschließen. Wir haben die gleiche Intention und um das zu erreichen, brauchen wir innovative Praktiken. Das sind neue Formate auf dem Podium und ebenso neue Formen des Musizierens, z.B. ein Konzert in einem Pensionistenheim oder andere Orte des Unterrichtens. Aus neuen Zielgruppen in der Pädagogik ergibt sich dann auch wieder ein neues Publikum. Leute die selbst aktiv musizieren, gehen auch eher in ein Konzert.

Seniorenheim ChorkonzertFoto: Der Jugendchor der Wiener Chorschule der mdw bei einem Auftritt im Rahmen von "Live Music Now" im Seniorenheim Haus Atzgersdorf ©Stefan Polzer


Das heißt, es gibt gerade einen Wandel in der Musikvermittlung?

Ja, das hat mit einem Wandel des Selbstverständnisses von jungen MusikerInnen zu tun. Die besten Ensembles spielen heute nicht mehr nur im Musikverein, sie machen auch ihre eigenen Konzertreihen, suchen sich andere Podien, starten Musikvermittlungsaktivitäten. Sie denken nicht nur in eine Richtung, sondern arbeiten an einer Portfolio-Existenz. Und das ist auch gut so. Viele wollen nicht länger nur einer Tätigkeit nachgehen.


Inwiefern reagiert die mdw als Ausbildungsinstitution darauf?

Ganz wichtig ist, dass man Studierende ermutigt, eigene Projektideen zu entwickeln und dass sie lernen diese umzusetzen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, die eine ist, Projektmanagement und Selbstmanagement direkt im Studienplan zu verankern. Ich persönlich neige eher dazu, die Projekte der Studierenden zu unterstützen und sie zum Gegenstand des Studiums zu machen. Dazu haben wir eine Änderung der Studienpläne vor. Für ein innovatives eigenes Projekt werden acht Credits angerechnet, in der Popularmusik werden das sogar dreißig Credits sein. Wenn jemand seine eigene Band hat, wird das also zukünftig zum Gegenstand des Studiums werden können.


Wie sieht die Unterstützung konkret aus?

Wir bieten Coaching und Mentoring an, dazu gibt es ergänzende Lehrveranstaltungen, Hilfe in Fragen des Managements oder der Forschung. Vor allem setzen wir auf innovative Praxis der Studierenden, die notwendig ist, damit sie sich am Arbeitsplatz behaupten können. Es geht dabei nicht nur um die Anerkennung von Projekten, sondern auch darum, dass die mdw den Raum bietet, in dem man seinen individuellen Weg finden kann.


Interview: Susanne Gradl

Das Interview ist in der Kunsträume Ausgabe #3-2015 erschienen.