Am 25. März jährt sich Debussys Todestag zum 100. Mal, und das gibt Anlass, vermehrt über seine Musik nachzudenken. Einigkeit herrscht über den Stellenwert seiner Werke im heutigen Musikleben: Das Prélude à l’aprés-midi d’un faune und La Mer zählen zum Repertoire zahlreicher Orchester, Werke wie Syrinx für Flöte oder die Préludes für Klavier sind regelmäßig in Solistenkonzerten zu hören, und auch die Oper Pelléas et Mélisande, die Claudio Abbado vor nunmehr fast 30 Jahren in Wien exemplarisch realisiert hatte, war im vergangenen Jahr an der Staatsoper wieder zu erleben. Bei so viel Zustimmung gerät leicht in Vergessenheit, dass Debussys OEuvre nicht nur zu Lebzeiten umstritten war.

Die Kontroversen rund um Debussy reichen weit zurück. Durch seine konsequent antiakademische Haltung hatte er bald den Ruf eines Rebellen und Freigeists erworben: Zeitgenossen wie sein Kollege Jules Massenet prägten die Formel vom rätselhaften Debussy („Debussy, c’est l’enigme“). Auch nach 1910, als der Komponist bereits europaweit bekannt war, änderte sich das kaum, galt doch insbesondere sein Spätwerk als schwer zugänglich. Über Werke wie Jeux (1913) äußerten sich auch wohlmeinende Kommentatoren skeptisch. Léon Vallas (einer der ersten Debussy-Biografen) meinte, der Meister habe hier „die Kompositionsregeln über den Haufen geworfen“, und noch in den Siebzigerjahren bezeichnete Albert Jakobik Jeux als „unanalysierbares“ Stück Musik.

Claude Debussy
©Bildnis Claude Debussy (1862 – 1918), Photo Nadar-Paris. Künstlerpostkarte, Bildarchiv, ÖN

Hier ist ein grundlegendes Spannungsverhältnis zu erkennen, das im Grunde auch heute noch wirksam ist: Werke wie das Prélude à l’aprés-midi d’un faune, die von MusikerInnen und vom Publikum geliebt werden, sind musikanalytisch schwer zu fassen. Dass der Weg von der unmittelbaren Wirkung zur begrifflichen Reflexion kein einfacher ist, gilt zwar für jede Musik – offenbar aber in erhöhtem Maße für Debussy. Worauf ist das zurückzuführen?

Diese Frage können wir nur ergründen, wenn wir den zentralen Stellenwert der Klangfarbe in Debussys Musik in den Blick nehmen. Als Beispiel kann der Beginn des Prélude à l’aprés-midi d’un faune dienen. Nach der eröffnenden Flötenarabeske erklingt ein Septakkord über B, der im Rahmen dur-moll-tonaler Funktionsharmonik aufgelöst werden müsste. Die Auflösung tritt jedoch nie ein. Der Akkord wird verlängert und mündet in eine Pause. Für das Hören von Musik bedeutet dies nichts weniger als eine Revolution. Jean-Luc Nancy, der das wunderbare Buch À l’écoute (Zum Gehör) geschrieben hat, würde dies etwa folgendermaßen in Worte fassen: Anstatt den Akkord zu vernehmen, „lauschen“ wir ihm. Dadurch tritt seine Farbigkeit hervor. Dazu kommt Debussys neuartige Kunst der Instrumentation. Es ist also alles andere als zufällig, dass wir, wie es Pierre Boulez treffend formulierte, in dieser Musik einen „neuen Atem“ spüren.

Für die Musikwissenschaft brachte all dies immense Herausforderungen mit sich, setzte doch die theoretische Auseinandersetzung mit Klangfarbe erst vergleichsweise spät ein. Den Begriff „Klangfarbe“ kennen wir im Deutschen überhaupt erst seit den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, und technische Möglichkeiten, um das Innere klangfarblicher Strukturen zu untersuchen, haben sich erst seit ca. 50 Jahren herausgebildet. Die Klangfarbe (frz. timbre) ist ein vernetztes, multidimensionales Phänomen. Dies macht punktuelle Einzelbetrachtungen obsolet. Wenn es um Klangfarbe geht, geht es tatsächlich ums Ganze.

In Ermangelung adäquater Werkzeuge, um Klangfarbe begrifflich zu beschreiben, sprach man häufig vage und relativ undifferenziert über Debussys „Impressionismus“ und die ineinander verfließenden Farbtöne, die angebliche „Statik“ seiner Musik. All dies lädt zu Missverständnissen ein. Wer sich auf die faszinierende Reise begibt, die Klanglichkeit dieser Musik gleichsam unter der „akustischen Lupe“ zu untersuchen, bemerkt, wie akribisch Debussy Farbwerte einsetzt. Seine Klanglichkeit hat nichts Vages an sich. Auch die Rede von der „Statik“ dieser Musik kann in die Irre führen: Wir sollten bedenken, dass nicht nur Motivisch-Thematisches, sondern auch Klänge entwicklungsfähig sind.

Debussys Musik hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Neue Musik nach 1945 – man denke nur an die Qualität der Stille, die diese Klänge durchwirkt, oder das Potenzial, Nähe und Ferne zu suggerieren. Zugleich sollte man ihr aber kein Alleinstellungsmerkmal zuschreiben: Auch für den jungen Webern (der Debussy übrigens aufs Höchste bewunderte) hatten die Paradigmata Klang, Stille und Raum zentrale Relevanz inne. Dass man dies zunächst übersah, hatte nicht nur musikalische Gründe: Im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkriegs ließen sich sowohl die Komponisten der Wiener Schule als auch Debussy vom damals grassierenden Chauvinismus anstecken. 1914 sprach Debussy in einem Atemzug von der „barbarie allemande“ und der Aversion gegen Strauss und Schönberg, und letzterer vertrat immer wieder die Meinung, dass der deutsch-österreichischen Musik der Vorrang zukomme.

Heute sind solche Nationalismen – zumindest im Bereich der Kultur – obsolet, und für einen echten und substanziellen Dialog der Musikkulturen stehen die Chancen in Praxis und Theorie ausgezeichnet. In Frankreich sowie im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum hat die Intensität der Debussy-Forschung – dazu zählen die Form- und Strukturanalyse, aber auch die Interpretationsforschung und die historisch informierte Aufführungspraxis – zugenommen. Im Rahmen der Veranstaltungen zu Debussys 100. Todestag wird sich wohl aufs Neue bewahrheiten, dass eine Musik, die uns Rätsel aufgibt, theoretische Reflexion nicht ausschließt. Ganz in diesem Sinne schrieb Vladimir Jankélévitch (der als Mittler zwischen Philosophie und Musikwissenschaft in Frankreich eine Position einnahm, die derjenigen Adornos in Deutschland durchaus gleichkam, und dessen Werk im deutschen Sprachraum neu entdeckt wird): „Während jedes Rätsel geheimnisvoll ist durch seine Kompliziertheit und dunkle Tiefe, liegt Debussy offen zutage, weil seine Geheimnisse klar sind. Debussy ist rätselhaft, aber er ist klar.

 

Veranstaltungstipp

Donnerstag, 26. April 2018, 19.00 Uhr

Une Nuit Mythique pour le Centenaire de Claude Debussy
mdw-Studierende musizieren Solowerke und Kammermusik im Kontest von Meisterwerken der Österreichischen Galerie

Oberes Belvedere
Prinz-Eugen-Straße 27
1030 Wien

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