mdw-Rektorin Ulrike Sych und Harald Huber, mdw-Lehrender und Präsident des Österreichischen Musikrats (ÖMR), im Gespräch über Bildungsdefizite und Lösungen für die Zukunft.
Die Gehirnforschung zeigt seit vielen Jahren auf, dass gerade sogenannte Nebenfächer wie Musik und bildnerische Erziehung besonders positiv auf die Gesamtentwicklung der Heranwachsenden wirken.
Ulrike Sych (US): Sehr richtig. Es gibt unzählige Studien, die besagen, dass Kinder, die Instrumente lernen, ihre sozialen Kompetenzen, ihre Merkfähigkeit und ihre Sprachbegabung besser entwickeln. Es gibt sogar weniger Mobbingfälle in Klassen, in denen viel musiziert wird. Die musikalische Bildung müsste auf zwei Ebenen funktionieren: einerseits gesamtgesellschaftlich als Basisausbildung für alle, andererseits gibt es auch „Profikinder“, wie ich sie nenne, Kinder, die so begabt sind, dass sie professionelle Musikerinnen und Musiker werden. Österreich hat in beiden Fällen eine große Verantwortung.
Wenn man kreative Erwachsene auf dem Arbeitsmarkt haben will – und die braucht man heute fast in jedem Berufsfeld –, dann muss man die Kreativität in jungen Jahren fördern. Für hochbegabte Kinder und Jugendliche gilt das ganz besonders. Als Berufsmusikerin und -musiker hat man – anders als vielleicht in der Malerei – nur dann eine reale Chance, wenn man bereits sehr früh gefördert wird. Wenn man 15 ist, kann man sich zum Beispiel nicht mehr dazu entscheiden, ProfipianistIn zu werden. Da ist es schon zu spät. Daher braucht es in der Allgemeinbildung Lehrende, die so gut ausgebildet sind, dass sie die Talente erstens rechtzeitig erkennen und zweitens richtig fördern. Das beginnt eigentlich schon im Kindergarten, nicht erst in den Hochschulen.
Herr Huber, Sie haben im aktuellen Positionspapier des ÖMR festgestellt, dass 90 Prozent der ÖsterreicherInnen wollen, dass in der Schule gesungen wird. 86 Prozent wollen, dass jedes Kind ein Instrument lernt. Warum spiegelt sich das in der Realität nicht in dem Maße wider?
Harald Huber (HH): Man kann tendenziell feststellen, dass von den Kindergärten über die Volksschulen bis zu den Schulen der 10- bis 14-Jährigen die Musikausbildung aus verschiedenen Gründen zurückgefahren wurde. In den Volksschulen, wenn die Kinder 6 bis 10 Jahre alt sind, wäre die Musikausbildung besonders wichtig. Da haben wir derzeit das Problem, dass es in vielen Volksschulen schlicht keine Lehrpersonen gibt, die musikaffin sind, geschweige denn über die entsprechende Ausbildung verfügen. Der ÖMR schlägt daher vor, dass wir mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem schaffen, denn es gibt etwa an der mdw die entsprechenden Ausbildungen, zum Beispiel die Elementare Musik- und Bewegungspädagogik. Es muss sichergestellt sein, dass in jeder Volksschule genügend Musikkompetenz vorhanden ist. Das ist derzeit nicht der Fall.
Darauf weisen Sie schon seit einigen Jahren hin. Hat sich daran denn nichts geändert?
HH: Doch. Es gibt jetzt österreichweit verschiedene Kooperationsmodelle zwischen Musikuniversitäten und pädagogischen Hochschulen. Da sind wir zwar auf einem guten Weg, aber wir sind noch nicht an dem Punkt, wo wir sagen können: Wir stellen den Musikunterricht sowohl quantitativ als auch qualitativ sicher. Auch bei den Schulen für die 10- bis 14-Jährigen haben wir das Problem, dass vielfach fachfremdes Lehrpersonal Musik unterrichten muss. Da wird dann beispielsweise jemand, der Geografie und Mathematik unterrichtet, vom Direktor auch mit Musikstunden betraut. Das können wir so nicht akzeptieren. Wir brauchen Fachkräfte in jedem Lehrfach, also auch in der Musik.
Wird der Musikunterricht auch in den Lehrplänen gekürzt?
HH: Nein, die Lehrpläne sind da. Sie werden oft nur unzureichend erfüllt. Es geht um den Mangel an Lehrkräften.
US: Hinzu kommt, dass Musik in der Ausbildung für die VolksschullehrerInnen nicht mehr zwingend ist. Das ist auch nicht zu akzeptieren. Wir sind jetzt gerade dabei, ein Modell auszuarbeiten, in welchem Instrumental und GesangspädagogInnen, die für Einzelunterricht ausgebildet werden, ein „Volksschul-Modul“ in den Lehrplan hineinbekommen, damit sie dann an Volksschulen Musik unterrichten können. Da hakt es aber noch am LehrerInnendienstrecht, das sollte dahingehend adaptiert werden.
HH: Die pädagogischen Hochschulen hätten ja die Möglichkeit, auch Schwerpunktstudien im Bereich der Musik einzuführen, was sie aber nur teilweise machen. Dann haben wir die Möglichkeit, dass MusikschullehrerInnen über Kooperationen zwischen Schulen und Musikschulen diesen Mangel auch auffangen können. Die sind aber nicht in den Schulen angestellt, sondern müssen von der jeweiligen Gemeinde oder dem Land bezahlt werden.
Die Musikschulen haben also in den letzten Jahren vieles aufgefangen. Wie geht es denn diesen Einrichtungen aktuell?
HH: Es ist länderweise verschieden. Die Musikschulen sind in ihrer Gesamtheit ein eindrucksvolles Erfolgsmodell. Wir haben über 200.000 SchülerInnen in Musikschulen. Das entspricht der Anzahl der SchülerInnen an allgemeinbildenden höheren Schulen in ganz Österreich. Man muss schauen, dass es hier dienstrechtliche Verbesserungen gibt, damit die Kooperationsmodelle gut funktionieren.
Wäre es sinnvoll, das Musikschulwesen zu vereinheitlichen und in die Hand des Bundes zu legen?
US: Das sollte Ländersache bleiben, denn es funktioniert parallel eigentlich recht gut.
HH: Die Musikschulen wollen vielmehr, dass ihre Leistung stärker anerkannt wird. Wenn heute etwa jemand zur Matura im Fach Musik antritt und sein Instrument nebenher in der Musikschule erlernt hat, dann wird das im Zeugnis nicht einmal erwähnt.
Wie schlägt sich denn Österreich im internationalen Vergleich bezüglich der musikalischen Ausbildung?
HH: Im internationalen Vergleich sind wir noch immer sehr gut ausgestattet. Wir haben das Pflichtfach Musik in den Schulen, was in vielen Ländern gar nicht der Fall ist. Wir haben ein gut entwickeltes Musikschulsystem, das Förderungen der öffentlichen Hand genießt. Da brauchen wir uns nicht zu verstecken. Aber wir haben Sorge zu tragen, dass es da keinen Abbau gibt. Da müssen wir sehr offensiv handeln, weil verloren ist schnell etwas.
US: Es geht auch um die soziale Dimension, um die wir uns kümmern müssen. Manche Eltern können sich die Musikschule für ihr Kind nicht leisten oder haben nicht die Zeit, ihr Kind zum Musikunterricht zu bringen. Wir müssen uns bewusst sein, dass Begabung vollkommen unabhängig vom ökonomischen Hintergrund des Kindes bestehen kann. Man muss sich Gedanken darüber machen, wie man auch sozial Benachteiligten eine Musikkarriere ermöglichen kann.
HH: Die Musik ist außerdem ein hervorragendes Instrument für die Integration von MigrantInnen. Auch das sollte man erkennen und entsprechende Angebote schaffen. Jedes Kind muss das Anrecht haben, ein Instrument lernen zu können. An diesem egalitären Ansatz sollten wir festhalten.
US: Gemeinsam zu musizieren heißt, eine gemeinsame Sprache sprechen.
Frau Sych, sie haben einmal gesagt, man müsse damit aufhören, bildnerische Erziehung und Musikerziehung gegeneinander auszuspielen. Inwiefern ist das denn in der Praxis der Fall?
US: Man muss sich derzeit in der Oberstufe zwischen Musik und bildnerischer Erziehung entscheiden. Das halte ich für grundsätzlich falsch. Künste ergänzen und befruchten sich gegenseitig. Im neuen Regierungsprogramm steht nun auch als Forderung, dass man sich nicht mehr entscheiden müssen soll. Das freut mich.
Welche Hoffnungen und welche Befürchtungen verbinden Sie denn sonst noch mit dem neuen Regierungsprogramm?
US: Hinsichtlich der musikalischen Bildung ist, denke ich, einiges im Regierungsprogramm enthalten, was wir stark befürworten, eben die Festigung der Musikschulen und das Vorantreiben der Kooperationen mit den allgemeinbildenden Schulen.
HH: Es gibt auch das Bekenntnis zur UNESCO-Konvention zur Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen, was uns sehr freut. Wir verstehen darunter nicht nur musikalisches Erbe, sondern auch internationalen Kulturaustausch und Zeitgenössisches. Es ist einiges angebahnt, auf das man weiter aufbauen kann, andererseits gibt es jetzt auch die Ankündigung von Einsparungen bei Förderungen. Da gilt es aufzupassen.
Oberösterreich gilt als von ÖVP und FPÖ regierter Modellfall. Dort gibt es quer durch alle Ressorts Einschnitte, auch bei der Kultur. Es läuft darauf hinaus, dass das Musikschulwesen noch stärker gefördert wird und man dafür die Förderung zeitgenössischer freier Initiativen zurückfährt. Wie sehen Sie das?
HH: Wir haben generell eine finanzielle Unterdotierung aller zeitgenössischen Musikformen.
US: Ich glaube, dass PolitikerInnen oft nicht klar ist, was sie mit Kürzungen im Kulturbereich anrichten. Es ist natürlich sehr leicht, freie Gruppen, Theater, Festivals etc. zu kürzen, aber es ist fatal zu glauben, wir seien ein Kulturland, einzig und allein weil wir die Staatsoper und das Burgtheater haben.
Das heißt, Sie wären für eine Aufstockung des gesamten Kulturbudgets?
US: Ja, natürlich. Da gehören Film, die freie Szene, der Literaturbereich etc. dazu. Aber auch hier könnte man bei der Bildung viel verbessern.
HH: Die Filmschaffenden weisen uns etwa darauf hin, dass sie in den Schulen nicht vorkommen.
US: Eben. Oft wird in der Schule zum Beispiel nur Theater gespielt, wenn man das Glück hat, dass man eine engagierte Lehrerin oder einen engagierten Lehrer hat, die/der das freiwillig anbietet.
Wenn wir zu den politischen Maßnahmen kommen: Wäre mit mehr Geld an den richtigen Stellen schon viel gelöst?
US: Grundsätzlich ja. Aber man muss natürlich darauf achten, was man mit dem Geld konkret fördert.
HH: Der ÖMR hat etwa nur eine konkrete finanzielle Forderung, nämlich die Aufstockung des Österreichischen Musikfonds für zeitgenössische Musikproduktion auf zwei Millionen Euro. Der Musikfond ist nämlich massiv unterdotiert dafür, was er alles leisten soll: Produktions-, Vertriebs- und Tourneeförderung. Und das flächendeckend durch alle Genres. Eine nicht-finanzielle, aber sehr wichtige Forderung wäre der ständige Dialog mit den zuständigen Ministerien.
Die ministeriellen Zuständigkeiten wechseln oft. Lange waren Kunst und Kultur mit Bildung zusammengelegt, jetzt ist es schon länger ein Anhängsel im Bundeskanzleramt, dafür sind jetzt Bildung und Wissenschaft fusioniert. Was schwebt Ihnen als Ideal vor?
US: Kunst und Kultur mit Bildung zusammengelegt halte ich als Ministerium für sehr sinnvoll, weil das stark ineinandergreift und sich gut ergänzt.
HH: Zwischen 2008 und 2013 war das so – eine hervorragende Zeit für uns, weil es viel Dialog gab, eine ständige Gesprächsrunde.
US: Es ist letztlich aber gar nicht so wichtig, wo was ressortiert, sondern dass sich die handelnden Personen finden und sich nicht davor scheuen zusammenzuarbeiten.
Mit Heinz Faßmann (ÖVP) ist jetzt ein Universitätsprofessor Wissenschafts- und Bildungsminister. Also jemand vom Fach. Was erwarten Sie sich von ihm?
US: Aus universitärer Sicht halte ich das für einen großen Vorteil. Ich weiß, dass Herr Faßmann jemand ist, der Menschen zusammenbringt und vollkommen unaufgeregt, überlegt und sachlich an Dinge herangeht.
In den letzten Jahren wurde immer wieder gesagt, in der gesamten Bildungsdebatte ginge es zu viel um Parteiideologien und man müsse entideologisieren, versachlichen. Aber gibt es überhaupt die eine, beste Lösung?
US: Ich glaube, dass schon jetzt eine Versachlichung stattgefunden hat. Auch die letzte Ministerin Sonja Hammerschmid (SPÖ) hat uns Kunstuniversitäten sehr unterstützt und unsere Fachexpertise immer wieder eingeholt. Da hat sich, was die Kunstausbildung anbelangt, etwa in der PädagogInnenbildung Neu, viel entwickelt. Ich denke, dass das mit Minister Faßmann auch so weitergehen wird. Beide waren an Universitäten tätig und haben daher einen guten Zugang zu unseren Themen.
HH: Für uns als ÖMR sind neben dem Minister jedenfalls auch die oppositionellen Kultur- und BildungssprecherInnen wichtige AnsprechpartnerInnen. Neben der Bildung sind für uns auch Digitalisierung, Musikwirtschaft, Urheberrecht, Pressefreiheit, soziale Absicherung der Kunst- und Kulturschaffenden sehr wichtige Themen. Da müssen wir unsere Forderungen auch ans Wirtschafts-, Justiz- oder Außenministerium adressieren.
Frau Sych, was wollen Sie als Unirektorin konkret fordern?
US: Zunächst einmal eine gute Gesprächsbasis. Ich will mich dafür einsetzen, dass Kunst- und Kultur wieder stärker in der Allgemeinbildung verankert werden. Dann muss die Ausbildung von Volksschullehrenden wieder mehr Kunst- und Musikunterricht enthalten. Kinder sollen das Recht erhalten, von professionellen MusikerInnen unterrichtet zu werden. Um Kindern und Jugendlichen optimalen Musikunterricht zu gewährleisten, sollten MusikerzieherInnen nicht nur Lehrende, sondern auch KünstlerInnen sein.
Den Aspekt des Publikums dürfen wir auch nicht vergessen: Die SchülerInnen von heute sind das Publikum von morgen. Wenn wir es verabsäumen, den Kindern in sehr frühen Jahren schon Kunst und Kultur nahezubringen, dann wird à la longue das österreichische Publikum den Theatern fernbleiben. Man sieht jetzt schon eindeutig, dass das Publikum in den Opernhäusern immer älter wird. Ich sehe dabei einen Zusammenhang mit der Schulbildung: Musikunterricht, das sind die Stunden, die am häufigsten ausfallen, die an den Rand gedrängt werden.
Welche Schritte zur Beseitigung dieser Probleme konnte die mdw selbst schon setzen?
US: Ich setze mich sehr für die musikalische Weiterbildung von Lehrenden ein. Dafür haben wir an der mdw viele Angebote. Eine tolle Sache ist das Quereinsteigerstudium. Es funktioniert in Kooperation mit den drei pädagogischen Hochschulen, Pädagogische Hochschule Wien, Pädagogische Hochschule Niederösterreich und Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems. Hier werden Menschen mit einschlägigen Vorstudien, zum Beispiel Konzertfach oder Instrumental- und Gesangspädagogik, für Klassenunterricht im Sekundarschulstufenbereich nachgeschult. Da in Österreich zu viele geprüfte MusikerzieherInnen fehlen, bedeutet es für Schulen einen großen Gewinn, wenn sich KünstlerInnen im zweiten Ausbildungsweg für den Lehrberuf entscheiden.
- Zum Positionspapier des ÖMR „Musik und Bildung“ und zu den „7 Forderungen an die Regierung“ siehe www.oemr.at