Bildung ist eines jener Worte, die kaum in andere Sprachen übersetzt werden können und deren Bedeutung wohl nur unter Bezug auf die deutsche Geistesgeschichte, namentlich den deutschen Humanismus beziehungsweise die Weimarer Klassik zu verstehen ist. Das Substrat dieses Verständnisses von Bildung führt Hartmut von Hentig unter Bezug auf Wilhelm von Humboldt so aus: „Bildung ist die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichert.“

Musikalische Bildung
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In Zeiten von Kompetenzorientierung, also der Orientierung der Bildungsvorgänge auf Nutzen und Zweck, würde es sich lohnen, der Bedeutung eines jeden Wortes in dieser Aussage nachzuspüren, aber konzentrieren wir uns auf das zentrale Motiv einer Aneignung der Welt und das Ziel einer sich selbst bestimmenden Individualität. Dass diese Welt in ihrer ganzen Fülle buchstäblich erfahrbar sein kann, das hat Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren gezeigt: Der „arme Hund“ Wilhelm, von dem Goethe spricht, arbeitet seine Individualität nicht nur in der Beschäftigung mit großer Theaterkunst – namentlich der Shakespeares – heraus, sondern in unterschiedlichsten privaten wie gesellschaftlichen Feldern.

Aber dann verschwisterte sich im 19. Jahrhundert ein idealistisches Verständnis von großer Kunst, von Edlem und Hohem, mit einer Auffassung von Bildung, die viel mit dem Einüben in verbindliche Kanons von Wissensbeständen und Meisterwerken zu tun hat; der Weg dahin ist schon bei Schiller gebahnt: „Die Kunst steigt bildend zum Volk herab, um es spielend zu sich heraufzuziehen.“

Die Hierarchie ist in der Welt und bestimmt fortan das Bildungsverständnis, gesetzt ist das Hohe und das Niedrige, das Bildende und das bloß die Sinne Kitzelnde, die legitime und die populäre Kunst – und, um im Felde der Musik zu bleiben: Die Bildungsanstrengung hat sich auf die Meisterwerke zu richten und sich an deren Komplexität und Originalität abzuarbeiten.

Dass damit ein Großteil der in der Gegenwart erklingenden Musik ausgeschlossen ist und nicht wirklich anerkannt wird, liegt ebenso auf der Hand wie die Verkennung von „Bildung“ als Prozess der Selbstverständigung, d. h. der Konstruktion und Aushandlung von Bedeutungen und Sinn. Barbara Hornberger stellt aus der Sicht der Cultural Studies heraus fest, dass sich gerade in der oft geschmähten Massenkultur „alltäglich millionenfach Bildungsprozesse vollziehen – nur dass diese anders aussehen als es das Bildungs-Regime der bürgerlichen Tradition imaginiert. Diese Bildungsprozesse sind weniger mit Konzentration und Disziplin verbunden, sondern finden unterhaltend statt, sie geschehen häufig informell, nicht zertifiziert und evaluiert.“

Bildung und Unterhaltung zusammenzubringen, das lässt den Bildungsbürger zusammenzucken, umgekehrt aber könnte auch jemand, der im Sinn der Cultural Studies die Bildungsprozesse im Feld der populären Kultur ins Auge fasst, recht irritiert sein, wenn Bertold Seliger in seinem Buch Klassikkampf. Ernste Musik, Kultur und Bildung für alle fordert, an der Trennung von unterhaltender und ernster Musik festzuhalten, nicht um die Legitimität der unterhaltenden Funktion von Musik in irgendeiner Weise abzuwerten, sondern um die beglückenden kognitiven Herausforderungen, die in zugleich komplexer wie verständlicher Musik liegen können, zu ihrem Recht kommen zu lassen – dies angesichts einer Lage der sogenannten Klassischen Musik, in der deren Potenzial verkannt und verspielt wird und in der sie unter den Bedingungen des gegenwärtigen Konzertbetriebs und Klassikmarkts bzw. unter dem Einfluss des großen Geldes zu einer Elite-, Repräsentations-, und Wohlfühlklassik verkommen ist. Und natürlich führt Seliger unter „ernster Musik“ auch die „breit vorhandene ernste Musik in der Pop- und Rockkultur, beim Jazz oder bei den Singern-Songwritern“ an.

Seliger hat ein wütendes und polemisches Buch geschrieben, ein Buch, das in einem langen Kapitel über Revolte. Das Prinzip Beethoven resultiert und das in vielem an Friedrich Guldas Brandrede gegen die Wiener Staatsakademie für Musik aus dem Jahre 1969 anlässlich der Verleihung des Beethovenringes an ihn erinnert („Ich halte nämlich ein so durch und durch konservatives Institut wie die Wiener Staatsakademie eigentlich nicht für berechtigt, eine Auszeichnung zu vergeben, die den Namen eines der größten Revolutionäre der Musikgeschichte trägt“).

Aber in unserem Kontext ist inspirierend, worum es dem Autor in Hinsicht auf Bildungsprozesse geht: Es geht um Prozesse der Aneignung jenseits von Dünkel und Distinktion, um Auseinandersetzungen mit Kunst, die unbelastet von einem Kanon der Meisterwerke und dem hegemonialen Anspruch der abendländischen Kunst sind. Es geht um Akte der Selbstermächtigung, vielleicht sogar – im Sinne von Peter Weiss – um Akte des ästhetischen Widerstands, jedenfalls um ein individuelles Entdecken und Erobern von Musik, das von Neugier getrieben und vom Staunen begleitet ist, es geht um eigenwilliges und eigensinniges Handeln.

Wilhelm Meisters Lehrjahre sind nicht weit, und am Ende dieser Lehrjahre könnte jemand stehen, den Peter Bieri als leidenschaftlich Gebildeten bezeichnen würde, weil es ihm oder ihr um alles geht: „Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit.“

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