Vom musikalischen und menschlichen (Zusammen-)Wachsen
„Voyage, voyage!“ hieß es im Dezember für 36 ausgewählte Studierende der mdw: Eine Kooperation mit dem Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris (CNSMDP) führte sie für ein Orchesterprojekt nach Paris. Pult an Pult und miteinander am Pult musizierten Pariser und Wiener Studierende eine Woche lang und gestalteten zum Abschluss ein ausverkauftes Konzert mit dem Chœur de l’Orchestre de Paris unter der Leitung von Patrick Davin in der Cathédrale Saint-Louis des Invalides, die sich imposant über den Park zur Seine hin erhebt.
Auf dem Programm stand Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms. Die zwei Gesangssolist_innen waren Studierende der beiden Universitäten: Bariton Edwin Fardini vom CNSMDP und die Sopranistin Caroline Jestaedt der mdw, die direkt von Vorstellungen mit Marc Minkowski nach Paris reiste. Diesem immer wieder beeindruckenden Klassiker unter den Chorwerken wurde ein exquisites Entrée vorangestellt: die kurze, aber klanggewaltige Vertonung des Psalms 129 Ils m’ont assez opprimé dès ma jeunesse (Sie haben mich oft bedrängt von Jugend an) aus der Feder von Lili Boulanger (1893 – 1918), der jüngeren Schwester der legendären Kompositionsprofessorin, Dirigentin und Komponistin Nadia Boulanger. Lili (eigentlich Marie-Juliette Olga) feierte früh Erfolge als Komponistin und gewann 1913 als erste Frau den renommierten Grand Prix de Rome, der von 1803 bis 1968 jährlich an Studierende des Conservatoire verliehen wurde – vor ihr u. a. an Hector Berlioz, Charles Gounod, Georges Bizet und Claude Debussy. Den damit verbundenen Studienaufenthalt in Rom konnte die 20-Jährige nicht im vollen Ausmaß antreten, doch auch ein Vertrag mit dem Verlag Ricordi unterstützte ihre weitere kompositorische Tätigkeit. Zeitlebens von Krankheit geplagt, verstarb sie allerdings im März 1918. Erhalten sind etwa 40 ihrer Werke, von denen einige anlässlich des Gedenkjahres 2018 wiederaufgeführt wurden – eine würdige (Wieder-)Entdeckung.
Vielseitig und langfristig war die Orchester-Kooperation der beiden Universitäten angelegt: Bereits im November 2017 waren Studierende des Conservatoire de Paris nach Wien gereist und hatten mit Studierenden der mdw ein gemeinsames Orchesterkonzert im Wiener Konzerthaus musiziert. Im Rahmen des Festivals Wien Modern standen auch hier schon Wiener und Pariser Kompositionen auf dem Programm: Unter der Leitung von Ilan Volkov erarbeiteten die jungen Musiker_innen die spektrale Klangwelt von Hugues Dufourts Le Passage du Styx d’après Patinir, für die Uraufführung Das Imaginäre nach Lacan von Iris ter Schiphorst wurde an Schlagwerkklängen gefeilt, in Georges Aperghis’ Akkordeonkonzert erhielt der junge Franzose Jean-Etienne Sotty einen für seine musikalische Laufbahn wichtigen Solopart. Dieses gemeinsame Wiener Konzert kann in der mdw-Mediathek nachgehört werden. Und auch die Konzertreise des Webern Symphonie Orchesters nach Paris wurde in einer Zusammenarbeit der beiden AV-Zentren filmisch festgehalten und ist in Kürze auf dem YouTube-Kanal der mdw verfügbar – man darf auf die Dokumentation gespannt sein.
Tatsächlich waren für die Studierenden und das Begleitteam der Austausch und der Erfahrungsgewinn im Rahmen der Konzertreise vielseitig. Der einwöchige Aufenthalt bot Raum und Zeit, das Conservatoire und seine Studienstruktur kennenzulernen. Beeindruckend waren das Vorspiel der Flötenklasse von Philippe Bernold und das von Jérôme Pernoos Klasse humoristisch und poetisch inszenierte Konzert Violoncelle de mer. Konzertbesuche und gemeinsame Essen (von Miesmuscheln in der Mensa über Petits Fours im Palais der österreichischen Botschaft bis zu Pizza beim Eiffelturm) boten Raum für Austausch – sowohl mit den Pariser Kolleg_innen als auch „unter Wiener_innen“ (die insgesamt aus 16 Ländern stammen).
Die Metropole Paris hielt neben wunderbaren Sehenswürdigkeiten, Kulturgenuss von Philharmonie bis Jazz-Jam und kulinarischen Köstlichkeiten aber auch Tücken bereit. Zum Glück tauchten die meisten der gestohlenen und verlorengegangenen Dinge wieder auf. Auch die politischen Unruhen, die in den Wochen davor für Verunsicherung gesorgt hatten, machten letztendlich keine Einschränkungen des Projekts notwendig. Und der verirrte Orchesterbus erreichte das Hotel doch noch, nachdem einige Baustellenbarrikaden abgebaut worden waren. Der belgische Dirigent Patrick Davin manövrierte hingegen sicher und humorvoll, gestaltete die Proben dreisprachig, um seine Interpretation der Werke bestmöglich zu vermitteln – was ihm mit dieser menschlich und musikalisch tollen Gruppe junger Musiker_innen hervorragend gelang.
Der Tenor der Rückmeldungen ist jedenfalls eindeutig: Gerne wieder! À bientôt!
Veranstaltungstipp
Webern Symphonie Orchester dirigiert von Lorenzo Viotti, am 30. April 2019 im Musikverein