Ein Gespräch mit Helmut Zehetner, Professor für Orchestererziehung an der mdw
Wie würden Sie Außerirdischen oder jemandem, der vielleicht noch nie im Konzert war, das Wesen eines Orchesters beschreiben?
Helmut Zehetner (HZ): Das Wesen eines Orchesters ist es, mithilfe eines umfassenden Klangspektrums sowohl emotionale als auch intellektuelle Inhalte zu transportieren. Wir alle werden über das Gehör bereits im Mutterleib geprägt, daher fühlen wir uns dann am wohlsten, wenn die Klänge, die auf uns zukommen, diesen Erfahrungen am ähnlichsten sind. Wahrscheinlich haben die Menschen mit ihren Instrumenten versucht, hier etwas Kreativität hinzuzufügen, um die Intensität noch zu steigern. Das Ergebnis ist bis heute, zumindest was die Klassik betrifft, das große Symphonieorchester.
Sie entstammen ja selbst einem Klangkörper, dem als Kollektiv sehr ausgeprägte Charakteristika zugeschrieben werden. Was ist denn ein Orchester für ein Wesen?
HZ: Das ist wirklich schwer zu beantworten, aber letztlich ist es eine menschliche Gesellschaft im Kleinen, vielleicht sogar vergleichbar mit einer Schulklasse, die eine gewisse Lebenszeit zusammen verbringt und sich einer gemeinsamen Aufgabe widmet. Da entstehen bestimmte Verhaltensmuster und Profilierungswünsche einzelner Individuen. Im Orchester ist es ähnlich, obwohl die Aufgaben durch die Partitur und die Stimmen natürlich festgelegt sind. Im Prinzip ist es eine Gemeinschaft, die versucht, ein mithilfe einer unvollkommenen Notation niedergeschriebenes, von einem Komponisten erdachtes Werk wieder erstehen zu lassen. Weil es jedes Mal neu entstehen muss, müssen wir jedes Mal versuchen, dabei so überzeugend und authentisch wie möglich zu sein. Das geht manchmal über die reine Partiturtreue hinaus.
Wie lassen sich diese Ziele an einem Haus wie der mdw an die Studierenden vermitteln, von denen viele (auch) Einzelkämpfer_innen sind, die vor allem ihre solistischen Qualitäten entwickeln wollen?
HZ: Der Hauptteil liegt nach dem Erarbeiten der Stimmen im Zusammenspiel der einzelnen Gruppen, weil das Ergebnis auch den heutigen Perfektionserwartungen des Publikums entsprechen soll. Das Spielen im Orchester ist die komplexeste Kommunikationsform, die die Menschheit entwickelt hat. Nirgends sonst gibt es gleichzeitig derart viele unterschiedliche Äußerungen zur selben Zeit, ohne dass sich das Ganze in kleinere Gruppen auflöst. Es ist entscheidend, dass jede_r Einzelne weiß, wie sich ihr und sein Part zum Ganzen verhält. Daher ist für mich der wichtigste Punkt, das Gehör zu schulen. Wir sind heute sehr stark visuell konditioniert, obwohl die Ohren im Vergleich zu den Augen das vielseitigere Sinnesorgan sind. Man kann um die Ecke hören, aber nicht sehen. Wir trainieren das jedoch für gewöhnlich nicht. Jede_r Musiker_in kann relativ schnell das Lesen einer Partitur erlernen. Das Hören einer Partitur ist viel schwieriger, aber es ist die Voraussetzung dafür, dass man einen wirklich intensiven Zusammenklang und eine intensive Kommunikation erreichen kann. Das ist der zentrale Punkt, der bei uns in der Orchestererziehung stattfindet. Und dadurch vermitteln wir auch, dass diese Arbeit etwas Tolles und Befriedigendes sein kann.
Besonders dann, wenn dann das Webern Symphonie Orchester einen seiner jährlichen Auftritte im Wiener Musikverein absolviert.
HZ: Natürlich. Unser Ziel war immer ein absolutes Spitzenprodukt. Dass man einmal in der Ausbildung in einem der wichtigsten Konzertsäle der Welt mit ganz großen Dirigent_innen etwas erleben darf, das etwas ganz Besonderes ist, – dieses Gefühl für die Studierenden zu ermöglichen, war für mich der innere Auftrag. Dass es gelungen ist, verdankte ich auch einer glücklichen Konstellation zum richtigen Zeitpunkt. Dadurch, dass wir sowohl beim Musikverein als auch bei der Jeunesse in einem Zyklus vertreten sind, haben wir einen ausverkauften Saal und ein begeistertes Publikum.
Sie arbeiten ja das ganze Studienjahr über, während sich das Orchester bereits zu einem Kollektiv entwickelt, und dann kommen für die Endproben die großen Pult-Stars hinzu. Wie findet das Erarbeitete mit den jeweiligen Handschriften der Dirigent_innen zusammen?
HZ: Es muss am Ende interpretatorisch und hinsichtlich der künstlerischen Aussage natürlich das Konzert dieser Dirigentin oder dieses Dirigenten sein. Unsere Aufgabe hier am Haus bei der Vorbereitung in den Einzelstimmproben und Gruppenproben ist es, die Stücke erstklassig zu erarbeiten. Natürlich folgen hier meine Kolleg_innen und ich unseren eigenen Vorstellungen und erkundigen uns gleichzeitig danach, wie der Dirigent oder die Dirigentin die Interpretation in etwa anlegt, zum Beispiel was die Tempi betrifft. Wir möchten aber nicht alles bereits zu stark darauf zuschneiden. Denn es gehört zum Lernprozess – und wir sind immer noch eine Ausbildungsstätte mit Lehrveranstaltungen –, den Sprung von der Vorstellung einer Dirigentin oder eines Dirigenten zu einer/einem anderen mit völlig unterschiedlichen Ideen mitzumachen. Das braucht man in der Praxis sehr häufig. Ich hatte einmal als Extrembeispiel mit den Wiener Philharmonikern Aufnahmen von Così fan tutte mit Nikolaus Harnoncourt und am Abend eine Vorstellung mit Riccardo Muti – dieselben Musiker_innen in einer 180-Grad-Drehung. Aber das ist auch unglaublich faszinierend. Orchestermusiker_innen müssen sich dem anpassen, was gewünscht wird, unabhängig davon, ob sie alles gutheißen. Diese Flexibilität ist im Berufsalltag ungeheuer wichtig.
Wie bedeutsam ist die Ausbildung in der Gattung Oper, die Sie mit regelmäßigen eigenen Produktionen im Schlosstheater Schönbrunn pflegen?
HZ: Die Oper ist eine ganz andere Herausforderung als das Konzert auf dem Podium. Sie ist die härteste, aber auch die beste Schule für Orchestermusiker_innen. Deswegen ist es mir wichtig, jede Saison eine Produktion zu machen. Es ist nun einmal so, dass die Sänger_innen dominieren, dazu kommt die räumliche Distanz. Daher ist auch hier die Kultivierung des Gehörs der Orchestermusiker_innen entscheidend dafür, wie gut sich die Ebenen mischen. Das kann eine Dirigentin oder ein Dirigent allein gar nicht leisten, vieles müssen die Musiker_innen aus ihrer Erfahrung heraus beisteuern. Das Raumgefühl aus dem Orchestergraben heraus müssen sie einfach lernen, ebenso wie die Interaktion mit den Sänger_innen. Wenn man später ein Engagement in einem Opernorchester bekommt, ist man dankbar, das zu einem gewissen Grad bereits erlebt zu haben. Die ersten Jahre in einem Repertoiretheater mit vielen Vorstellungen fast ohne Proben sind jedenfalls ein Sprung ins kalte Wasser – je mehr Erfahrung man hat, um schnell reagieren zu können, umso besser.
Helmut Zehetner
Geboren 1955 in Amstetten, ist seit 1980 Geiger im Orchester der Wiener Staatsoper, seit 1983 Mitglied der Wiener Philharmoniker (Stimmführer der 2. Violinen), daneben als Kammermusiker und Dirigent diverser internationaler Kammerorchester tätig. Von 1997 bis 2014 leitete er die Streicherabteilung beim Internationalen Orchesterinstitut Attergau, seit 2008 ist er Universitätsprofessor für Orchestererziehung an der mdw.
Im April 2019 dirigierte Lorenzo Viotti das Konzert des Webern Symphonie Orchesters im Musikverein. Im Schlosstheater Schönbrunn stand zuvor Mozarts Le Nozze di Figaro mit Dirigent Christoph U. Meier auf dem Programm.