Am 9. Juli 2020 wird die ehemalige mdw-Studentin Gisela Zdenek hundert Jahre alt. Recherchen im Vorfeld einer Geburtstagsfeier führten Familienangehörige ins Archiv der mdw und machten das Team des mdw-Magazins auf die stets von Musik begleitete Lebensgeschichte dieser willensstarken Frau aufmerksam. Ein Geburtstags-Gespräch über ihre Zeit an der „Akademie“.
Mitte der 1930er-Jahre waren gut drei Viertel der Klavierstudierenden weiblich. Auch Gisela Zdenek verfolgte den Traum, Musikerin zu werden. Sie studierte in den Jahren der NS-Diktatur, die auch an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien von Verfemung und Verfolgung geprägt waren. Es war das Jahr 1936, als Gisela Zdenek, gebürtige Hanausek, zur Aufnahmeprüfung an der Akademie antrat. Sie erinnert sich: „Meine Aufnahmeprüfung habe ich bei einem jüdischen Professor gemacht, drei Monate später war er verschwunden. Ich wechselte schließlich zu Professor Hans Weber.“
Zur Musik war Gisela Zdenek durch ihre Familie gekommen. Sowohl ihre Mutter als auch ihr „Bruder-Onkel“, wie sie ihn liebevoll aufgrund des geringen Altersunterschiedes nennt, hatten musikalisches Talent. „Mit meinem Bruder-Onkel Alois habe ich mich besonders gut verstanden. Er hat mein Klavierspiel für seinen Gesang gebraucht“, berichtet sie augenzwinkernd. Zdeneks Eltern arbeiteten hart, um ihrer Tochter Klavierstunden und später ein eigenes Pianino zu ermöglichen. „Das war in den 1930er-Jahren – eine schlimme Zeit. Niemand hatte Geld, auch meine Eltern nicht.“
An die Akademie kam sie schließlich durch ihre Musiklehrerin, die ihr Talent früh bemerkte und sie zur Aufnahmeprüfung motivierte. „Ich hätte verschiedene Lehrstellen haben können. Der Cousin von meiner Mutter beispielsweise hatte einen Frisiersalon. Aber ich wollte Musik studieren.“ Klavier hatte sich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts als meistbesuchtes Fach bei den Studentinnen der Wiener Akademie etabliert. Viele träumten von einer Karriere als Pianistin, so auch die damals 16-jährige Gisela.
Knapp zwei Jahre nachdem sie ihr Studium begonnen hatte, folgte der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. „Eines Tages gehe ich von der Akademie raus zur Straßenbahn und über den Schwarzenbergplatz zum Ring. Am Heldenplatz hat Hitler eine Ansprache gehalten. Es war der Tag des Umbruchs. Für mich hat sich nichts geändert. Die Hauptsache war, dass ich an der Akademie studieren durfte. Es ist ja auch nicht so einfach, dort aufgenommen zu werden“, erzählt Zdenek. Zur selben Zeit wurden immer mehr Studierende gezwungen, ihr Studium zu beenden. „Viele Kolleginnen, die mit mir gelernt haben, waren am nächsten Tag nicht mehr da“, erinnert sie sich schmerzvoll. Fast 50 Prozent des Lehrkörpers der Akademie waren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von Entlassungsmaßnahmen betroffen. Rund 100 Studierende mussten die Akademie aus „rassischen Gründen“ verlassen. (Siehe „Geschichte der mdw“)
Manchmal übte ich bis zu sechs Stunden am Tag. Vier Stunden waren es mindestens.
Gisela Zdenek
Trotz allem denkt Gisela Zdenek heute noch gerne an ihre Zeit an der Akademie zurück. Hier studieren zu dürfen, beschreibt die Pianistin wiederholt als eine der schönsten Zeiten ihres Lebens. „Ich war fast jeden Tag in einem Konzert. Als Studentin habe ich damals die Karten um eine Bagatelle bekommen. Am liebsten mochte ich den Musikverein, den kannte ich vom Keller bis zum Dachboden.“
Während des Studiums erkennt sie jedoch nach und nach, was es heißt, Pianistin zu sein. „Mir haben immer so die Knie gezittert, aber eine Konzertpianistin muss ihre Knie im Griff haben“, lacht sie. „Ich wusste, öffentlich spielen, das ist nichts für mich.“ Als Professor Hans Weber 1941 in den Militärdienst einzogen wurde, wechselte sie im Hauptfach zu Grete Hinterhofer.
Ein Jahr später heiratete sie am 23. Juli Paul Zdenek und wurde kurz darauf schwanger. Dass sie ihre Ausbildung dennoch fortsetzte, war keineswegs selbstverständlich und nicht von allen gern gesehen. „Professor Hinterhofer hat mich einmal gefragt, wofür ich überhaupt ein Diplom brauche, wenn ich ohnehin bereits verheiratet bin. Ich glaube, sie war eifersüchtig – sie war schließlich unverheiratet und hatte keine Kinder“, schätzt sie die damalige Situation heute ein.
Nach der Geburt ihres Sohnes studierte Gisela Zdenek nicht ohne Mühen weiter, sie wechselte an das Konservatorium der Stadt Wien zu Viola Thern. Ihrer Mutter verdankt sie es, dass sie auch weiterhin am Unterricht teilnehmen konnte. „Wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre mir das Studium nicht weiter möglich gewesen. Sie hat sich um ihr Enkelkind gekümmert, während ich im Unterricht war.“
Paul Badura-Skoda war ein Universalgenie.
Gisela Zdenek
Am Konservatorium begegnete sie den späteren Berühmtheiten Paul Badura-Skoda und Paul Angerer. Ein Programmzettel belegt einen gemeinsamen Vortragsabend am 7. Juni 1946 im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins.
Den Traum, Musikerin zu werden, musste sie aber schließlich schweren Herzens aufgeben. „Es wäre schön gewesen, aber es hat nicht sollen sein.“ In ihrer Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk gab sie fortan selbst Klavierunterricht. „Wenn ich gewollt hätte, hätte ich davon leben können. Ich hatte damals fünfzehn oder mehr Schüler_innen – und ich hätte noch mehr haben können.“ Ihr Einkommen beschreibt sie als „schönen Nebenverdienst“. Sie unterrichtete bis zu ihrem 38. Lebensjahr.
Ergriffen denkt sie an ihren alten Ehrbar-Flügel, der lange Zeit ihr Wohnzimmer schmückte. „Mein Konzertflügel hat fast zwei Drittel des Zimmers eingenommen, deswegen hat mein Mann ihn nicht gern gesehen“, erzählt sie schmunzelnd.
Auch heute spielt sie mit beinahe hundert Jahren noch hin und wieder, auch wenn sie selbst sehr unzufrieden mit ihrem Können ist. „Man lernt so viel, und wenn man alt wird, ist alles weg. Oder man weiß es noch, schafft es aber körperlich nicht mehr.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie bestimmt hinzu: „Aber was ich seinerzeit konnte, war konzertreif!“